Der Zauberberg. Volume 2

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Sie lachten über ihren Irrtum, lachten vor Freude über das Wunder vor ihren Augen, diese lieblich zaghafte und nachahmende Anpassung des zuerst sich wieder hervorgetrauenden or-ganischen Lebens. Sie pflückten davon, betrachteten und unter-suchten die zarten Bechergebilde, schmückten ihre Knopflöcher damit, trugen sie heim, stellten sie in die Wassergläser auf ihren Zimmern; denn die unorganische Starre des Tales war lang ge-wesen, – lang, wenn auch kurzweilig.
Aber der Blumenschnee wurde mit wirklichem zugedeckt, und auch den blauen Soldanellen, den gelben und roten Pri-meln erging es so, die ihm folgten. Ja, wie schwer der Frühling es hatte, sich durchzuringen und den hiesigen Winter zu über-wältigen! Zehnmal ward er zurückgeworfen, bevor er Fuß fas-sen konnte hier oben, – bis zum nächsten Einbruch des Winters, mit weißem Gestöber, Eiswind und Heizungsbetrieb. Anfang Mai (denn nun ist es gar schon Mai geworden, während wir von den Schneeblumen erzählten), Anfang Mai war es schlecht-hin eine Qual, in der Loggia nur eine Postkarte ins Flachland zu schreiben, so schmerzten die Finger vor rauher Novembernässe; und die fünfeinhalb Laubbäume der Gegend waren kahl wie die Bäume der Ebene im Januar. Tagelang währte der Regen, eine Woche lang stürzte er nieder, und ohne die versöhnenden Ei-genschaften des hiesigen Liegestuhltyps wäre es überaus hart gewesen, im Wolkenqualm, mit nassem, starrem Gesicht, so viele Ruhestunden im Freien zu verbringen. Insgeheim aber war es ein Frühlingsregen, um den es sich handelte, und mehr und mehr, je länger er dauerte, gab er als solcher sich auch zu erken-nen. Fast aller Schnee schmolz unter ihm weg; es gab kein Weiß mehr, nur hie und da noch ein schmutziges Eisgrau, und nun begannen wahrhaftig die Wiesen zu grünen!
Welch milde Wohltat fürs Auge, das Wiesengrün, nach dem unendlichen Weiß! Und noch ein anderes Grün war da, an Zartheit und lieblicher Weiche das Grün des neuen Grases noch weit übertreffend. Das waren die jungen Nadelbüschel der Lär-chen, – Hans Castorp konnte auf Dienstwegen selten umhin, sie mit der Hand zu liebkosen und sich die Wange damit zu strei-cheln, so unwiderstehlich lieblich waren sie in ihrer Weichheit und Frische. "Man könnte zum Botaniker werden", sagte der junge Mann zu seinem Begleiter, "man könnte wahr und wahrhaftig Lust bekommen zu dieser Wissenschaft vor lauter Spaß an dem Wiedererwachen der Natur nach einem Winter bei uns hier oben! Das ist ja Enzian, Mensch, was du da am Abhange siehst, und dies hier ist eine gewisse Sorte von kleinen gelben Veilchen, mir unbekannt. Aber hier haben wir Ranunkeln, sie sehen unten ja auch nicht anders aus, aus der Familie der Ranunkulazeen, gefüllt, wie mir auffällt, eine besonders reizende Pflanze, zwittrig übrigens, du siehst da eine Menge Staubgefäße und eine Anzahl Fruchtknoten, ein Andrözeum und ein Gynä-zeum, soviel ich behalten habe. Ich glaube bestimmt, ich werde mir einen oder den anderen botanischen Schmöker zulegen, um mich etwas besser zu informieren auf diesem Lebens – und Wissensgebiet. Ja, wie es nun bunt wird auf der Welt!"
"Das kommt noch besser im Juni", sagte Joachim. "Die Wie-senblüte hier ist ja berühmt. Aber ich glaube doch nicht, daß ich sie abwarte. – Das hast du wohl von Krokowski, daß du Botanik studieren willst?"
Krokowski? Wie meinte er das? Ach so, er kam darauf, weil Dr. Krokowski sich neulich botanisch gebärdet hatte bei einer seiner Konferenzen. Denn der ginge freilich fehl, der meinte, die durch die Zeit gezeitigten Veränderungen wären so weit ge-gangen, daß Dr. Krokowski keine Vorträge mehr gehalten hätte! Vierzehntägig hielt er sie, nach wie vor, im Gehrock, wenn auch nicht mehr in Sandalen, die er nur sommers trug und also nun bald wieder tragen würde – jeden zweiten Montag im Speise-saal, wie damals, als Hans Castorp, mit Blut beschmiert, zu spät gekommen war, in seinen ersten Tagen. Drei Vierteljahre lang hatte der Analytiker über Liebe und Krankheit gesprochen, – nie viel auf einmal, in kleinen Portionen, in halb – bis dreiviertel-stündigen Plaudereien, breitete er seine Wissens – und Gedankenschätze aus, und jedermann hatte den Eindruck, daß er nie werde aufzuhören brauchen, daß es immer und ewig so weitergehen könne. Das war eine Art von halbmonatlicher "Tausend-undeine Nacht", sich hinspinnend von Mal zu Mal ins Beliebi-ge und wohlgeeignet, wie die Märchen der Scheherezade, einen neugierigen Fürsten zu befriedigen und von Gewalttaten abzu-halten. In seiner Uferlosigkeit erinnerte Dr. Krokowskis Thema an das Unternehmen, dem Settembrini seine Mitarbeit ge-schenkt, die Enzyklopädie der Leiden, und als wie abwand-lungsfähig es sich erwies, möge man daraus ersehen, daß der Vortragende neulich sogar von Botanik gesprochen hatte, ge-nauer: von Pilzen … Übrigens hatte er den Gegenstand viel-leicht ein wenig gewechselt; es war jetzt eher die Rede von Liebe und Tod, was denn zu mancher Betrachtung teils zart poeti-schen, teils aber unerbittlich wissenschaftlichen Gepräges Anlaß gab. In diesem Zusammenhang also war der Gelehrte in seinem östlich schleppenden Tonfall und mit seinem nur einmal an-schlagenden Zungen-R auf Botanik gekommen, das heißt auf die Pilze, – diese üppigen und phantastischen Schattengeschöpfe des organischen Lebens, fleischlich von Natur, dem Tierreich sehr nahe stehend, – Produkte tierischen Stoffwechsels, Eiweiß, Glykogen, animalische Stärke also, fanden sich in ihrem Auf-bau. Und Dr. Krokowski hatte von einem Pilz gesprochen, der berühmt schon seit dem klassischen Altertum seiner Form und der ihm zugeschriebenen Kräfte wegen, – einer Morchel, in de-ren lateinischem Namen das Beiwort impudicus vorkam, und dessen Gestalt an die Liebe, dessen Geruch jedoch an den Tod erinnerte. Denn das war auffallenderweise Leichengeruch, den der Impudicus verbreitete, wenn von seinem glockenförmigen Hute der grünliche, zähe Schleim abtropfte, der ihn bedeckte, und der Träger der Sporen war. Aber bei Unbelehrten galt der Pilz noch heute als aphrodisisches Mittel.
Na, etwas stark war das ja gewesen für die Damen, hatte Staatsanwalt Paravant gefunden, der, moralisch gestützt durch des Hofrats Propaganda, die Schneeschmelze hier überdauerte. Und auch Frau Stöhr, die ebenfalls charaktervoll standhielt und jeder Versuchung zu wilder Abreise die Stirne bot, hatte bei Tisch geäußert, heute sei Krokowski denn aber doch "obskur" gewesen mit seinem klassischen Pilz. "Obskur", sagte die Unse-lige und schändete ihre Krankheit durch namenlose Bildungs-schnitzer. Worüber aber Hans Castorp sich wunderte, war, daß Joachim auf Dr. Krokowski und seine Botanik anspielte; denn eigentlich war zwischen ihnen von dem Analytiker ebensowe-nig die Rede, wie von der Person Clawdia Chauchats oder der Marusjas, – sie erwähnten ihn nicht, sie übergingen sein Wesen und Wirken lieber mit Stillschweigen. Jetzt aber also hatte Joachim den Assistenten genannt, – in mißlaunigem Tone, wie übrigens auch schon seine Bemerkung, daß er die volle Wiesen-blüte nicht abwarten wolle, recht mißlaunig geklungen hatte. Der gute Joachim, nachgerade schien er im Begriff, sein Gleich-gewicht einzubüßen; seine Stimme schwankte beim Sprechen vor Gereiztheit, er war an Sanftmut und Besonnenheit durchaus nicht mehr der alte. Entbehrte er das Apfelsinenparfüm? Brachte die Fopperei mit der Gaffky-Nummer ihn zur Verzweiflung? Konnte er nicht mit sich selber ins Reine darüber kommen, ob er den Herbst hier erwarten oder falsche Abreise halten sollte?
In Wirklichkeit war es noch etwas anderes, wodurch dies ge-reizte Beben in Joachims Stimme kam und weshalb er des bota-nischen Kollegs von neulich in fast höhnischem Tone erwähnt hatte. Von diesem Etwas wußte Hans Castorp nichts, oder viel-mehr, er wußte nicht, daß Joachim davon wußte, denn er selbst, dieser Durchgänger, dies Sorgenkind des Lebens und der Päd-agogik, er wußte nur zu gut davon. Mit einem Worte, Joachim war seinem Vetter auf gewisse Schliche gekommen, er hatte ihn unversehens bei einer Verräterei belauscht, ähnlich derjenigen, deren er sich am Faschingsdienstag schuldig gemacht, – einer neuen Treulosigkeit, verschärft durch den Umstand, an dem nicht zu zweifeln war, daß Hans Castorp sie dauernd verübte.
Zum ewig eintönigen Rhythmus des Zeitablaufs, zur kurz-weilig feststehenden Gliederung des Normaltages, der immer derselbe, der sich selbst zum Verwechseln und bis zur Verwir-rung ähnlich war, identisch mit sich, die stehende Ewigkeit, so daß schwer zu begreifen war, wie er Veränderung zu zeitigen vermochte, – zur unverbrüchlichen Alltagsordnung also gehörte, wie jedermann sich erinnert, der Rundgang Dr. Krokowskis zwischen halb vier und vier Uhr nachmittags durch alle Zim-mer, das ist über alle Balkons, von Liegestuhl zu Liegestuhl. Wie oft hatte nicht der Berghof-Normaltag sich erneut, seit damals, als Hans Castorp in seiner horizontalen Lebenslage sich geärgert hatte, weil der Assistent einen Bogen um ihn beschrieb und ihn nicht in Betracht zog! Längst war aus dem Gaste von damals ein Kamerad geworden, – Dr. Krokowski redete ihn sogar häufig mit diesem Namen an bei seiner Kontrollvisite, und wenn das militärische Wort, dessen R-Laut er auf exotische Weise durch nur einmaliges Anschlagen der Zunge am vorderen Gaumen hervorbrachte, ihm auch scheußlich zu Gesichte stand, wie Hans Castorp gegen Joachim geurteilt hatte, so paßte es doch nicht schlecht zu seiner stämmigen mannhaft-heiteren und zu fröhli-chem Vertrauen auffordernden Art, die freilich wiederum durch seine Schwarzbleichheit in gewisser Weise Lügen gestraft wur-de, und der denn doch etwas Bedenkliches jederzeit anhaftete.
"Nun, Kamerad, wie gehts, wie stehts!" sagte Dr. Krokowski, indem er, vom russischen Barbarenpaare kommend, an das Kopfende von Hans Castorps Lager trat; und der so frischerweise Angeredete, die Hände auf der Brust gefaltet, lächelte täglich wieder gepeinigt-freundlich über die scheußliche Anrede, indem er des Doktors gelbe Zähne betrachtete, die sich in seinem schwarzen Barte zeigten. "Recht wohl geruht?" fuhr Dr. Krokowski dann wohl fort. "Fallende Kurve? Steigende heut? Nun, hat nichts auf sich, kommt bis zur Hochzeit schon wieder in Ordnung. Ich grüße Sie." Und mit diesem Wort, das ebenfalls scheußlich klang, da er es wie "gdieße" sprach, ging er schon weiter, zu Joachim hinüber – es handelte sich um einen Rundgang, einen kurzen Blick nach dem Rechten und um nichts weiter.
Manchmal freilich auch verweilte Dr. Krokowski sich länger, plauderte, breitschultrig dastehend und immer mannhaft lä-chelnd, mit dem Kameraden über dies und jenes, über die Wit-terung, über Abreisen und Ankünfte, über des Patienten Stim-mung, seine gute oder schlechte Laune, seine persönlichen Ver-hältnisse auch wohl, seine Herkunft und seine Aussichten, bis er "ich gdieße Sie" sagte und weiterging; und Hans Castorp, die Hände zur Abwechslung hinter dem Kopf gefaltet, antwortete ihm, ebenfalls lächelnd, auf all das, – mit dem durchdringenden Gefühle der Scheußlichkeit, gewiß, aber er antwortete ihm. Sie plauderten gedämpft, – obgleich die gläserne Scheidewand die Loggien nicht völlig trennte, konnte Joachim die Unterhaltung nebenan nicht verstehen und machte übrigens auch nicht den leisesten Versuch dazu. Er hörte seinen Vetter sogar vom Liegestuhl aufstehen und mit Dr. Krokowski ins Zimmer gehen, ver-mutlich um ihm seine Fieberkurve zu zeigen; und dort setzte dann das Gespräch sich wohl noch eine längere Weile fort, der Verzögerung nach zu urteilen, womit der Assistent auf dem in-neren Wege bei Joachim eintraf Worüber plauderten die Kameraden? Joachim fragte nicht; aber sollte jemand aus unserer Mitte sich an ihm kein Beispiel nehmen und die Frage aufwerfen, so ist allgemein darauf hinzuweisen, wieviel Stoff und Anlaß zu geistigem Austausch vorhanden ist zwischen Männern und Kameraden, deren Grundanschauungen idealistisches Gepräge tragen, und von denen der eine auf seinem Bildungswege dazu gelangt ist, die Materie als den Sündenfall des Geistes, als eine schlimme Reizwucherung desselben aufzufassen, während der andere, als Arzt, den sekun-dären Charakter organischer Krankheit zu lehren gewohnt ist. Wie manches, meinen wir, ließ sich da nicht erörtern und aus-tauschen über die Materie als unehrbare Ausartung des Immate-riellen, über das Leben als Impudizität der Materie, über die Krankheit als unzüchtige Form des Lebens! Da konnte, unter Anlehnung an laufende Konferenzen, die Rede gehen von der Liebe als krankheitsbildender Macht, vom übersinnlichen We-sen des Merkmals, über "alte" und "frische" Stellen, über lösli-che Gifte und Liebestränke, über die Durchleuchtung des Un-bewußten, den Segen der Seelenzergliederung, die Rückver-wandlung des Symptoms – und was wissen wir, – von deren Seite dies alles nur Vorschläge und Vermutungen sind, wenn die Frage aufgeworfen wird, was Dr. Krokowski und der junge Hans Castorp miteinander zu plaudern hatten!
Übrigens plauderten sie nicht mehr, das lag zurück, nur eine Weile, einige Wochen lang war es so gewesen; in letzter Zeit hielt Dr. Krokowski sich bei diesem Patienten wieder nicht länger auf als bei allen anderen, –"Nun, Kamerad?" und "Ich gdieße Sie", darauf beschränkte sich nun die Visite meistens wieder. Dafür hatte Joachim eine andere Entdeckung gemacht, eben die, die er als Verräterei von Seiten Hans Castorps empfand, und gemacht hatte er sie völlig unwillkürlich, ohne in seiner militäri-schen Arglosigkeit im mindesten auf Späherwegen gegangen zu sein, das darf man glauben. Er war ganz einfach an einem Mitt-woch aus der ersten Liegekur abgerufen worden, hinunterbeor-dert ins Souterrain, um sich vom Bademeister wiegen zu lassen, – und da sah er es also. Er kam die Treppe hinunter, die reinlich linoleumbelegte Treppe mit Aussicht auf die Tür zum Ordinationszimmer, zu dessen beiden Seiten die Durchleuchtungskabinette gelegen waren, links das organische und rechts um die Ek-ke das um eine Stufe vertiefte psychische, mit Dr. Krokowskis Besuchskarte an der Tür. Auf halber Höhe der Treppe aber blieb Joachim stehen, denn eben verließ Hans Castorp, von der In-jektion kommend, das Ordinationszimmer. Mit beiden Händen schloß er die Tür, durch die er rasch getreten war, und wandte sich, ohne um sich zu blicken, nach rechts, gegen die Tür, an der die Karte auf Reißnägeln saß, und die er mit wenigen, lautlos vorwärtswiegenden Schritten erreichte. Er klopfte, neigte sich hin beim Klopfen und hielt das Ohr zu dem pochenden Finger. Und da des Bewohners baritonales "Herein!" mit dem exotisch anschlagenden R-Laut und dem verzerrten Diphthong aus dem Gelasse erschollen war, sah Joachim seinen Vetter im Halbdun-kel von Dr. Krokowskis analytischer Grube verschwinden.
Noch Jemand
Lange Tage, die längsten, sachlich gesprochen und mit Bezug auf die Anzahl ihrer Sonnenstunden, denn ihrer Kurzweiligkeit vermochte astronomische Ausdehnung nichts anzuhaben, weder was jeden einzelnen betraf, noch ihre einförmige Flucht. Frühlings-Nachtgleiche lag fast drei Monate zurück, Sommerson-nenwende war da. Aber das natürliche Jahr bei uns hier oben folgte dem Kalender zurückhaltend: erst jetzt, erst dieser Tage war endgültig Frühling geworden, ein Frühling noch ohne alle Sommerschwere, würzig, dünnluftig und leicht, mit silbrig strahlender Himmelsbläue und kindlich kunterbunter Wiesen-blüte.
Hans Castorp fand an den Hängen dieselben Blumen wieder, von denen Joachim freundlicherweise ihm einige letzte einst zur Begrüßung ins Zimmer gestellt: Schafgarbe und Glockenblumen, – ein Zeichen für ihn, daß das Jahr in sich selber lief. Allein was hatte sich nun nicht alles aus dem jungen, smaragde-nen Grase der Schrägen und Wiesengebreite des Grundes an or-ganischem Leben als Stern, Kelch und Glocke oder von unre-gelmäßigerer Gestalt, die sonnige Luft mit trockener Würze er-füllend, hervorgebildet: Pechnelken und wilde Stiefmütterchen in ganzen Massen, Gänseblümchen, Margueriten, Primeln in gelb und rot, viel schöner und größer, als Hans Castorp sie im Flachlande je erblickt zu haben meinte, soweit er dort unten darauf achtgegeben; dazu die nickenden Soldanellen mit ihren gewimperten Glöckchen, blau purpurn und rosig, eine Speziali-tät dieser Sphäre.
Er pflückte von all der Lieblichkeit, trug Sträuße heim, ern-sten Sinnes und nicht sowohl zum Schmuck seines Zimmers, als zur streng wissenschaftlichen Bearbeitung, wie er es sich vorge-setzt. Einiges floristische Rüstzeug war angeschafft, ein Lehr-buch der allgemeinen Botanik, ein handlicher kleiner Spaten zum Ausheben der Pflanzen, ein Herbarium, eine kräftige Lupe; und damit wirtschaftete der junge Mann in seiner Loggia, – sommerlich gekleidet nun wieder, in einen der Anzüge, die er damals gleich mit sich heraufgebracht, – auch dies ein Merkmal der Jahresrundung.
Frische Blumen standen in mehreren Wassergläsern auf den Möbelplatten des inneren Zimmers, auf dem Lampentischchen zur Seite seines vorzüglichen Liegestuhls. Blumen, halb welk, schon matt, aber noch in Saft, fanden sich lose auf der Balkon-brüstung, am Boden der Loggia verstreut, während andere, wohlausgebreitet, zwischen Löschpapierbogen, die ihre Feuch-tigkeit tranken, der Presse von Steinen unterlagen, damit Hans Castorp die flachen Trockenpräparate mit gummierten Papier-streifen in sein Album kleben könnte. Er lag, die Knie hochge-zogen, dazu noch eins über das andere geschlagen, und während der Rücken des offen umgelegten Leitfadens auf seiner Brust einen Dachfirst bildete, hielt er das dickgeschliffene Rund des Vergrößerungsglases zwischen seine einfachen blauen Augen und eine Blüte, deren Krone er teilweise mit dem Taschenmes-ser entfernt hatte, um besser den Fruchtboden studieren zu kön-nen, und die hinter der starken Linse zum abenteuerlich flei-schigen Gebilde schwoll. Da schütteten die Staubbeutel, an der Spitze der Filamente, ihren gelben Pollen aus, vom Ovarium starrte der narbige Griffel, und legte man einen Schnitt durch ihn, so konnte man den zarten Kanal betrachten, durch den die Pollenkörner und – schlauche von zuckriger Ausscheidung in die Fruchtknotenhöhle geschwemmt wurden. Hans Castorp zählte, prüfte und verglich; er untersuchte Bau und Stellung der Kelch-und Blumenblätter wie der männlichen und weiblichen Ge-schlechtsorgane, beaufsichtigte die Übereinstimmung dessen, was er sah, mit schematischen und natürlichen Abbildungen, stellte die wissenschaftliche Richtigkeit in dem Bau ihm be-kannter Pflanzen mit Befriedigung fest und ging dazu über, sol-che, die er nicht zu nennen gewußt hätte, an der Hand des Lin-né nach Abteilung, Gruppe, Ordnung, Art, Familie und Gattung zu bestimmen. Da er viel Zeit hatte, gelangen ihm einige Fort-schritte in botanischer Systematik auf Grund vergleichender Morphologie. Unter die getrocknete Pflanze ins Herbarium schrieb er kalligraphisch den lateinischen Namen, den die hu-manistische Wissenschaft ihr galanterweise beigelegt, schrieb ih-re kennzeichnenden Eigenschaften dazu und zeigte es dem gu-ten Joachim, der sich wunderte.
Am Abend betrachtete er die Gestirne. Ein Interesse für das in sich laufende Jahr hatte ihn überkommen, – der doch schon einige zwanzig Sonnenumläufe auf Erden verbracht und sich noch niemals um dergleichen gekümmert hatte. Wenn wir selbst uns unwillkürlich in Ausdrücken wie "Frühlings-Nachtgleiche" bewegten, so geschah es in seinem Geist und schon in Hinsicht auf Gegenwärtiges. Denn dieser Art waren die Termini, die er neuerdings um sich zu streuen liebte, und auch durch hier einschlagende Kenntnisse setzte er seinen Vetter in Erstau-nen.
"Jetzt ist die Sonne nahe daran, ins Zeichen des Krebses zu treten", mochte er auf einem Spaziergang beginnen, "bist du dir darüber im klaren? Das ist das erste Sommerzeichen des Tier-kreises, verstehst du? Es geht nun über den Löwen und die Jungfrau auf den Herbstpunkt zu, den einen Äquinoktialpunkt, gegen Ende September, wenn wieder der Sonnenort auf den Himmelsäquator fällt, wie neulich im März, als die Sonne in den Widderpunkt trat."
"Das ist mir entgangen", sagte Joachim mürrisch. "Was redest denn du dir da so geläufig zusammen? Widderpunkt? Tier-kreis?"
"Allerdings, der Tierkreis; zodiacus. Die uralten Himmelszeichen, – Skorpion, Schütze, Steinbock, aquarius und wie sie hei-ßen, wie soll man sich dafür nicht interessieren! Es sind zwölf, das wirst du wenigstens wissen, drei für jede Jahreszeit, die auf-steigenden und die niedersteigenden, der Kreis der Sternbilder, durch die die Sonne wandert, – großartig meiner Ansicht nach! Stelle dir vor, daß man sie in einem ägyptischen Tempel als Deckenbild gefunden hat, – einem Tempel der Aphrodite noch dazu, nicht weit von Theben. Die Chaldäer kannten sie auch schon, – die Chaldäer, ich bitte dich, dies alte Zauberervolk, arabischsemitisch, hochgelehrt in Astrologie und Wahrsagerei. Die haben auch schon den Himmelsgürtel studiert, in dem die Planeten laufen, und ihn in die zwölf Sternbildzeichen einge-teilt, die Dodekatemoria, wie sie auf uns gekommen sind. Das ist großartig. Es ist die Menschheit!"
"Nun sagst du 'Menschheit', wie Settembrini."
"Ja, wie er, oder etwas anders. Man muß sie nehmen, wie sie ist, aber großartig ist es schon damit. Ich denke viel mit Sympa-thie an die Chaldäer, wenn ich so liege und den Planeten zuse-he, die sie auch schon kannten, denn alle kannten sie nicht, so gescheit sie waren. Aber die sie nicht kannten, kann ich auch nicht sehen, Uranus ist ja erst neulich mit dem Fernrohr ent-deckt worden, vor hundertzwanzig Jahren."
"Neulich?"
"Das nenne ich 'neulich', wenn du erlaubst, im Vergleich mit den dreitausend Jahren bis damals. Aber wenn ich so liege und mir die Planeten besehe, dann werden die dreitausend Jahre auch zu 'neulich', und ich denke intim an die Chaldäer, die sie auch sahen und sich ihren Vers darauf machten, und das ist die Menschheit."
"Na gut; du hast ja großzügige Entwürfe in deinem Kopf."
"Du sagst 'großzügig', und ich sage 'intim', – wie man es nun nennen will. Aber wenn nun also die Sonne in die Waage tritt, in zirka drei Monaten, dann haben die Tage wieder so weit abgenommen, daß Tag und Nacht gleich sind, und dann nehmen sie weiter ab bis gegen Weihnachten, das ist dir bekannt. Willst du aber, bitte, bedenken, daß, während die Sonne durch die Winterzeichen geht, den Steinbock, den Wassermann und die Fische, die Tage schon wieder zunehmen! Denn dann kommt neuerdings der Frühlingspunkt zum dreitausendstenmal seit den Chaldäern, und die Tage wachsen weiter bis übers Jahr, wenn wieder Sommeranfang ist."
"Selbstverständlich."
"Nein, das ist eine Eulenspiegelei! Im Winter wachsen die Tage, und wenn der längste kommt, 21. Juni, Sommersanfang, dann geht es schon wieder bergab, sie werden schon wieder kürzer, und es geht gegen den Winter. Du nennst das selbstverständlich, aber wenn man einmal davon absieht, daß es selbst-verständlich ist, dann kann einem angst und bange werden, momentweise, und man möchte krampfhaft nach etwas greifen. Es ist, als ob Eulenspiegel es so eingerichtet hätte, daß zu Win-tersanfang eigentlich der Frühling beginnt und zu Sommersanfang eigentlich der Herbst … Man wird ja an der Nase herum-gezogen, im Kreise herumgelockt mit der Aussicht auf etwas, was schon wieder Wendepunkt ist… Wendepunkt im Kreise. Denn das sind lauter ausdehnungslose Wendepunkte, woraus der Kreis besteht, die Biegung ist unmeßbar, es gibt keine Rich-tungsdauer, und die Ewigkeit ist nicht 'geradeaus, geradeaus', sondern 'Karussell, Karussell'."
"Hör' auf!"
"Sonnwendfeier!" sagte Hans Castorp, "Sommersonnenwende! Bergfeuer und Ringelreihn rund um die lodernde Flamme herum mit angefaßten Händen! Ich habe es nie gesehen, aber ich höre, so wird es gemacht von urwüchsigen Menschen, so feiern sie die erste Sommernacht, mit der der Herbst beginnt, die Mittagsstunde und Scheitelhöhe des Jahres, von wo es ab-wärts geht, – sie tanzen und drehen sich und jauchzen. Worüber jauchzen sie in ihrer Urwüchsigkeit, – kannst du dir das be-greiflich machen? Worüber sind sie so ausgelassen lustig? Weil es nun abwärts geht ins Dunkel, oder vielleicht, weil es bisher aufwärts ging und nun die Wende gekommen ist, der unhaltba-re Wendepunkt, Mittsommernacht, die volle Höhe, mit Weh-mut im Übermut? Ich sage es, wie es ist, mit den Worten, die mir dafür einfallen. Es ist melancholischer Übermut und über-mütige Melancholie, weshalb die Urwüchsigen jauchzen und um die Flammen tanzen, sie tun es aus positiver Verzweiflung, wenn du so sagen willst, zu Ehren der Eulenspiegelei des Krei-ses und der Ewigkeit ohne Richtungsdauer, in der alles wieder-kehrt."
"Ich will nicht so sagen", murmelte Joachim, "bitte, schiebe es nicht auf mich. Es sind ja weitläufige Dinge, mit denen du dich beschäftigst des Abends, wenn du liegst."
"Ja, ich will nicht leugnen, daß du dich nützlicher beschäftigst mit deiner russischen Grammatik. Du mußt die Sprache nächstens ja fließend beherrschen. Mensch, natürlich ein großer Vorteil für dich, wenn es Krieg gibt, was Gott verhüte."