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Daquin ist immer noch nicht da. Mehr aus Langeweile denn in der Hoffnung, Informationen zu finden, schaut Bonino in die Polizeiakten. Emily Frickx. Überraschung, im Zentralkommissariat von Nizza existiert tatsächlich eine Akte über sie.
28. Mai 1971. Der Bereitschaftspolizist im Zentralkommissariat von Nizza erhält einen anonymen Anruf, in dem eine Prügelei auf der Promenade des Anglais gemeldet wird, auf Höhe des Palais de la Méditerranée, an der mindestens ein Dutzend Personen beteiligt sind. Das Team von Brigadier Kosciusco fährt zum Ort des Geschehens und stellt die folgende Sachlage fest: »Eine Gruppe von etwa zehn Personen, die Männer in Anzug und Melone, die Frauen in langen Kleidern und mit Blumen im Haar, hat auf der Promenade des Anglais ein Klavier aufgestellt. Wir identifizieren sofort die üblichen jungen ›Künstler‹-Störenfriede, die zum Umfeld des Ladens von Ben Vautier gehören. Unter dem Beifall ihrer Begleiterinnen schlagen die Männer mit Hämmern auf das Klavier ein. Das Klavier gongt, knirscht und geht unter Geschrei und Gesängen zu Bruch. Durch den Lärm aufmerksam gewordene Passanten protestieren empört, wollen das Abschlachten des Klaviers verhindern und geraten mit der Gruppe hysterischer Frauen aneinander, die die Zerstörer mit Fausthieben verteidigen. Hier und da kommt es zu Handgreiflichkeiten. Wir beschließen daher, die Unruhestifter festzunehmen, um die Ruhe wiederherzustellen. Die Trümmer des Klaviers werden an Ort und Stelle zurückgelassen und die Stadtreinigung wird informiert.«
Es folgt die Liste der zur Feststellung der Personalien vorübergehend festgenommenen Personen, auf der tatsächlich der Name Emily Frickx aufgeführt ist.
Bonino blättert sofort weiter zur Aussage der jungen Frau.
Emily Frickx gibt zu Protokoll:
»Wir schlugen auf ein Klavier, wir machten Musik. Das war ein Konzert. Die Frau, mit der ich mich geprügelt habe und die ich ansonsten nicht kenne, wollte von meinem Standpunkt, den ich ihr darzulegen versuchte, nichts hören und ging brutal auf einen meiner Freunde los, sie versuchte ihn zu beißen. Ich wollte sie daran hindern und wir sind in eine Schlägerei geraten.«
Nach stundenlanger Kakophonie im Kommissariat hatten die entnervten Polizisten schließlich alle auf freien Fuß gesetzt.
Bonino ist überrascht, er hätte nicht gedacht, dass Emily, die ohnmächtige junge Frau von vergangener Nacht, Ehefrau eines bedeutenden Geschäftsmanns, mit diesen übergeschnappten Niçoiser Künstlern verkehrt. Aber deshalb ist sie noch lange nicht die Komplizin eines Mörders. Man muss Vernunft walten lassen. Diese Akte belegt ihre schon länger gehegte und erwiesene Vorliebe für das, was man gemeinhin zeitgenössische Kunst nennt, und kann insofern die Glaubwürdigkeit ihrer Zeugenaussage untermauern.
Daquin trifft just in diesem Moment ein. Eher kühle Kontaktaufnahme. Bonino ist älter als Daquin und hat kaum Hoffnung, eines Tages Commissaire zu sein. Er ist klein, rundlich, beginnende Glatze, einfallslos in Anzug und Krawatte, und er mag keine großen robusten, eher gutaussehenden Kerle, die ihm seine Ermittlungen wegschnappen, aber Daquin gibt sich geradezu ehrerbietig, er kommt ihm Bericht erstatten. Die Marseiller wollen ihre Nachforschungen auf Pieris Firma lenken. Was hält er davon?
»Was sagt Staatsanwalt Coulon?«
»Keine Ahnung. Ich wollte erst mit Ihnen sprechen. Ich werde ihn aufsuchen, wenn ich hier raus bin.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Selbstverständlich.«
Bonino übergibt Daquin Notizen, die alle ihm verfügbaren Informationen enthalten. Frickx wird morgen Abend da sein, perfekt, es wird vereinbart, dass Daquin übermorgen erneut nach Nizza kommt und sie Frickx gemeinsam treffen. Dann schiebt Bonino Daquin die Polizeiakte über Emily zu. Der liest sie sehr aufmerksam, erbittet eine Kopie, die er in seine Mappe legt. Er schätzt die Arbeit von Boninos Team und sagt es ihm.
Die beiden Männer verabschieden sich ohne Feindseligkeit. Daquin begibt sich zu Staatsanwalt Coulon im Gericht von Nizza. Die erste Begegnung ist wesentlich, er muss konzentriert bleiben. Diese Ermittlung ist eine Aufwärmrunde, hat der Direktor vom SRPJ Marseille gesagt. Eine Aufwärmrunde, die eine Möglichkeit bedeuten kann, die Verantwortung auf den jüngsten Neuzugang abzuwälzen, den Pariser. Oder schlimmer, einen Fallstrick. Ich kann mich leicht darin verfangen.
Der Staatsanwalt hat ihn erwartet. Er empfängt ihn unverzüglich und wirkt überrascht: ein so junger Commissaire!
Nach ein paar einleitenden Sätzen erwähnt Daquin die Möglichkeit einer Hausdurchsuchung in Pieris Firma. Der Staatsanwalt hebt die Brauen, Daquin argumentiert. »Klassisches Vorgehen. Mit Nachforschungen über das Opfer beginnen, um das Tatmotiv zu erhellen.«
»So jung und schon klassisch? Gehen wir es sachte an, Commissaire. Monsieur Pieri ist das Opfer, nicht der Täter, und wir müssen jeden Schritt unterlassen, der das Bild seiner Firma befleckt. Die Somar ist allseits geachtet und dynamisch, was im Kontext der Krise der Marseiller Wirtschaft außergewöhnlich ist. Haben Sie Ihre hiesigen Kollegen schon kennengelernt?«
»Da komme ich gerade her, Herr Staatsanwalt.«
»Man hat dort eine Hypothese, glaube ich.«
»Welche, Herr Staatsanwalt? Es wurde nichts dergleichen erwähnt.«
»Für sie ist Pieris Ermordung im Zusammenhang mit all den Abrechnungen zu betrachten, die die Côte seit Monaten mit Blut tränken, eine Episode im Machtkampf zwischen Zampa und Francis Le Belge um das Erbe der Guérini-Brüder. Es ist möglich, dass Pieri mit Verspätung für seine anrüchige Vergangenheit an der Seite von Antoine Guérini bezahlt hat. Wenn das zutrifft, liegt der Schlüssel für diese Abrechnung nicht bei der Somar, die, wie Ihnen jeder sagen wird, ein respektables Unternehmen ist, und das soll sie auch bleiben. Wir wollen nicht alles durcheinanderwerfen. Trotz seiner Vergangenheit war aus Pieri seit etwa zehn Jahren eine angesehene Persönlichkeit der Marseiller Wirtschaft geworden.«
»Wann werden wir eine Rekonstruktion des Verbrechenshergangs durchführen können?«
»Das wäre möglicherweise eine schlechte Reklame für unsere Casinos zu Beginn der Tourismussaison. Und teuer ist es auch. Wir wollen keine unvernünftigen Ausgaben verursachen. Wie Pieri erschossen wurde, scheint sehr klar. Ihre Niçoiser Kollegen haben mir einen Bericht dazu übergeben.« Der Staatsanwalt steht auf, drückt Daquin herzlich die Hand. »Halten Sie mich in kurzen Abständen auf dem Laufenden. Wir zählen darauf, dass Sie umsichtig vorgehen. Angesichts der Person des Opfers ist dies ein extrem heikler Fall.«
Rückfahrt nach Marseille, über zwei Stunden Fahrt, sehr lästig, Daquin hat weder eine Vorliebe für Autos noch fürs Fahren, auch nicht als Sport. Als er Nizza über die Promenade des Anglais verlässt, fährt er im Schritttempo am Palais de la Méditerranée vorüber. Eine hohe Fassade in aggressivem Weiß vom Typ mehrstöckige Sahnetorte. Ein Durcheinander von Stilen, pseudo-römische Arkaden, gerahmt von pseudogriechischen Pilastern, gekrönt von Basreliefs und Statuen, die sehr nach 19. Jahrhundert aussehen. Ein Tempel des schlechten Niçoiser Geschmacks der Dreißigerjahre. Dieser Tatort ist eine Theaterkulisse, perfekt für ein inszeniertes Verbrechen. Solange man mir keine Rekonstruktion genehmigt, bleibt das Ganze für mich ein Schattenspiel. Ich muss mit eigenen Augen sehen, was passiert ist. Wir werden unsere eigene Rekonstruktion durchführen.
Während der Fahrt schweifen seine Gedanken umher. Gemischte Tagesbilanz. Positiv die Reaktionen von Grimbert und Delmas. Das Team ist im Begriff, sich zu bilden, ich kann es regelrecht spüren. Passabel das Treffen mit Bonino. Verheerend die Unterredung mit Staatsanwalt Coulon. Er liefert die »offizielle« Version, will sagen, seine eigene, nicht die von Bonino: Exekution durch das Milieu. Wie sagte Grimbert? »Ich stelle gewaltige Ungereimtheiten fest.« Und schloss die Möglichkeit einer Inszenierung nicht aus. Der ist der geborene Bulle. Und aus mir unbekannten Gründen zählt Staatsanwalt Coulon auf mich, den Jungspund, um die These einer Abrechnung im Milieu zügig zu bestätigen und den Fall zu begraben. Deutlicher konnte er es nicht sagen. Und wenn ich nicht die offizielle Linie verfolge, werde ich aufs Abstellgleis geschoben und habe nichts zu erwarten, weder vom Direktor noch vom Staatsanwalt, niemand wird mich unterstützen. Gut. Ich werde mich nicht abschieben lassen. Einzige Möglichkeit, dem zu entgehen: die Mörder finden, oder zumindest Fährten auftun, Fakten, Beweise. Coulons Blockadehaltung ist zu verbohrt, um haltbar zu sein, wenn ich vorankomme, und sei es nur wenige Schritte. Ohne ein bisschen Glück, viel Glück, werde ich es nicht schaffen. Nach draußen gehen, Witterung aufnehmen, herumlaufen, viele Gelegenheiten schaffen, um meinem Glück zu begegnen, und wenn ich ihm begegne, werde ich es zu ergreifen wissen. Bis dahin lege ich mich auf die Lauer, Geduld ist eine Tugend. Schon möglich, aber wir haben nur fünfzehn Tage. Keine ausgemachte Sache. Aufregend.
Marseille, Vorfreude auf die Wohnung hoch über dem Getriebe, dem Lärm und den Gerüchen des Vieux-Port. Der Plan für heute Abend: Cognac auf der Loggia. Allein. Das Vergnügen, allein zu sein. Das ganze Jahr in Beirut ist er das nie gewesen, allein. Und das hat ihm am Ende zu schaffen gemacht. Beirut, eine Idee von Lenglet. Als Daquin Lenglet begegnet ist, war er sechzehn Jahre alt. Seine selbstmordgefährdete Mutter hatte sich schließlich mit Alkohol und Medikamenten umgebracht und war seit drei Jahren tot. Er hegte eine Vorliebe für Jungs, von der er nicht recht wusste, wie er sie leben sollte, und befand sich im offenen Krieg gegen seinen Vater. Lenglet brachte ihm bei, ohne Komplexe zu vögeln. Eine weder zur Schau gestellte noch versteckte Sexualität, ganz normal. Dabei haben sie nie eine sexuelle Beziehung gehabt oder in Liebesdingen konkurriert, was ihnen eine stabile und dauerhafte Freundschaft ermöglicht. Sie haben zusammen Politologie studiert, beide mit glänzendem Abschluss, und derselben Neigung zu geistigen und körperlichen Abenteuern folgend hat Lenglet sich dem diplomatischen Dienst in seiner geheimdienstnahen Variante zugewandt und Daquin der Polizei, eine Revolte gegen seinen Vater, für den der diplomatische Dienst denkbar war, die Polizei – ein Bettlerberuf – dagegen nicht, er hat einen Juraabschluss gemacht und ist dann in die Kommissarsschule eingetreten. Danach Beirut, Sicherheitsdienst der französischen Botschaft, wo Lenglet seit zwei Jahren arbeitete, die Begegnung mit Paul Sawiri, einem fünfundvierzigjährigen Libanesen, Mitarbeiter von Lenglet, intelligent, kultiviert. Seine erste dauerhafte Beziehung, ein Jahr, eine Ewigkeit. Erdrückend mit der Zeit, wie übrigens auch die ständige Gegenwart Lenglets. Eine noch nicht abgeschlossene Trennung. Und jetzt Marseille, Cognac, Vieux-Port und Alleinsein.
Als er ankommt, stellt er den Wagen im Évêché ab und geht zu Fuß. Abstecher zur Kaffeerösterei auf der Canebière, wo er einen elektrischen Espressokocher und ein Kilo gemahlenen Kaffee aus Italien kauft. Zu Hause hat er kaum geduscht, als das Telefon klingelt. Vincent Royer, ein Kommilitone von der Jurafakultät.
»Porticcio rief an, um mir zu sagen, dass du eine Weile in Marseille bist und er dir seine Wohnung geliehen hat. Du hättest es schlechter treffen können!«
»Sagen wir, ich beschwere mich nicht.«
»Weißt du, dass ich nach Marseille zurück bin, um mich als Anwalt niederzulassen?«
»Porticcio erzählte davon. Gefällt es dir hier?«
»Ja, ich liebe meine Heimatstadt. Und ich habe großes Glück. Ich bin Partner von Maître Lombardino, wir haben beim bevorstehenden Riesenprozess um die Zerschlagung der berüchtigten French Connection die Verteidigung einiger Angeklagter übernommen, insgesamt über dreißig Beschuldigte. Ich vermute, du hast im Évêché davon reden hören?« Daquin brummt etwas. »Ich bin zuständig für das Dossier der Ehefrau des Hauptangeklagten. Das ist faszinierend, in beruflicher Hinsicht.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Wir könnten uns vielleicht treffen …«
»Morgen, komm zum Abendessen zu mir, besser gesagt zu Porticcio, am Quai du Port. Du kennst die Adresse, wenn ich recht verstanden habe. Etwas später, gegen neun, ich weiß nicht, um wie viel Uhr ich im Évêché fertig bin …«
»Abgemacht. Sehr gern.«
Vincent, Mitglied der kleinen Clique an der Jurafakultät. Vage Erinnerung … Ich denke morgen darüber nach.
Heute Abend macht sich Daquin daran, die Plattensammlung seines Freundes, überwiegend Klassik, nach Jazz zu durchstöbern, und setzt sich mit seinem Cognac in einen Liegestuhl auf der Loggia. Die Lichter des Vieux-Port blinken in der Nacht. Es ist kühl. Morgen ist ein anderer Tag.
Mittwoch, Marseille
Die großen nationalen Tageszeitungen melden Pieris Ermordung auf einer Spalte im Innenteil, Rubrik Vermischtes:
MARSEILLER REEDER AUF DER PROMENADE DES ANGLAIS IN NIZZA ERSCHOSSEN
Maxime Pieri, ein Akteur bei der wirtschaftlichen Umstrukturierung des Hafens von Marseille, scheint mit einigen Jahren Verspätung für seine anrüchigen Verbindungen zum Guérini-Clan in der unmittelbaren Nachkriegszeit gebüßt zu haben.
Gleich am Morgen versammeln sich Daquin und seine beiden Inspektoren in ihrem Büro. Grimbert kommt allen anderen zuvor.
»Wie von Ihnen beauftragt, habe ich einen Bullen gesucht, der Pieri gut kannte. Ich war gestern bei einem meiner alten Freunde, der beim Marseiller Drogendezernat arbeitet. Sie müssen wissen, Commissaire, dass die Beziehungen zwischen dem Drogendezernat und dem Rest der Kriminalpolizei miserabel sind. Vor weniger als zwei Jahren hat der Minister persönlich den Marseiller Drogenfahndern vorgeworfen, sie seien faul und unfähig und alle mehr oder weniger korrupt. Letztes Jahr sind sie deshalb allesamt entlassen worden und als Ersatz ist ein fertig zusammengestelltes Team aus Paris gekommen, mit einem Chef, der aus den Großen Brigaden im Quai des Orfèvres stammt. Die Regionalpresse schrieb, sie seien hier, um die ›Korsen-Polizei zu bekämpfen‹. Die Atmosphäre können Sie sich vorstellen … Um die Sache zu verschärfen, verlangten die Pariser, von der Marseiller Kriminalpolizei unabhängig zu sein, verließen den Évêché und quartierten sich in irgendwelchen Wohnungen in der Stadt ein. Eine echte Ohrfeige. Die gesamte Marseiller Kriminalpolizei fühlte sich angegriffen und stellte die Kommunikation mit dem Drogendezernat ein. Tja, auf der Suche nach Unterstützung setzten die Pariser ganz auf die Zusammenarbeit mit den Amerikanern, die, um die French zu zerschlagen, angebliche Spitzenkräfte der CIA ins amerikanische Konsulat von Marseille versetzt haben und den Drogenfahndern Kohle, Autos und Funkgeräte zuschanzten. Und dann merkten die Pariser irgendwann, dass Karteien ohne Ortskenntnisse tot sind und dass die Amis sie in Sackgassen führen. Ich erzähle Ihnen nicht, was für Böcke sie geschossen haben. Ein Ding: Die Amis haben Millionen in den Bau eines Schnüffel-LKWs gesteckt, gespickt mit Antennen und Sensoren, ein Labor auf Rädern, mit dem sie durch die Straßen der Stadt und der Vororte rollten und das die bei der Herstellung von Heroin entstehenden Dämpfe erschnüffeln und die Raffinationsfabriken orten sollte. Wenn er vorbeifuhr, kamen alle Marseiller aus den Bistros, hoben ihre Gläser und tranken einen Schluck Pastis auf das Wohl des Schnüfflers. Natürlich haben sie keine einzige Fabrik gefunden, es gibt nämlich keine, nur Chemiehandwerker, die in Landhausküchen arbeiten. Nach einiger Zeit hatten die Pariser die Nase voll davon, sich lächerlich zu machen, und holten meinen Kumpel Casanova zurück, das lebende Gedächtnis der Abteilung und der einzige Marseiller, der die Säuberung überlebt hat. Er hat zugesagt, uns heute Vormittag zu helfen, weil er mein Kumpel ist. Unter der Bedingung, dass wir das für uns behalten, mit niemandem im Évêché darüber sprechen und ihm keine peinlichen Fragen über die Arbeitsweise des Drogendezernats stellen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Delmas?«
»Kein Problem.«
»Sehr gut, rufen Sie ihn an, ich schließe solange den Espressokocher an, den ich gestern besorgt habe.«
Erster Espresso aus dem neuen Kocher. Das ist nie der beste. Noch ehe er ausgetrunken hat, nimmt Daquin den Faden auf:
»Bevor Ihr Freund eintrifft, liefere ich Ihnen eine erste kurze Auswertung von meinem Tag in Nizza. Gemischte Bilanz. Bonino beim SRPJ in Nizza scheint mir zuverlässig zu arbeiten. Nach dem, was er mir erzählt hat, ist Frickx der europäische Repräsentant einer großen Tradingfirma, der Co Trade, und laut Zeugenaussage von Madame Frickx sollen der Trader Frickx und der Reeder Pieri regelmäßige Geschäftsbeziehungen unterhalten haben. Frickx war gestern in Südafrika, er wird heute Abend an der Seite seiner Frau in Nizza sein, für morgen haben wir ein Gespräch mit ihm in Nizza geplant. Madame Frickx selbst scheint außer Verdacht zu sein. Weniger positiv lief es beim Staatsanwalt. Coulon verweigert Rekonstruktion des Tathergangs und Hausdurchsuchung. Man fragt sich, warum er ein beschleunigtes Verfahren eröffnet.«
Grimbert mit schiefem Lächeln: »Um fünfzehn Tage verstreichen zu lassen, damit die Aufregung sich legt, bevor er einen Richter einsetzt.«
»Sie dürften recht haben.«
Casanova kommt im richtigen Moment, nämlich zum zweiten Espresso. Die vier Männer richten sich angesichts des begrenzten Platzes notdürftig ein, und man wendet sich dem Studium von Pieris Vergangenheit zu. Delmas beginnt.
»Die Polizeiakten geben Auskunft über Pieris Personenstand. Er ist 1926 auf Korsika geboren, in Calenzana. Im Alter von zehn Jahren verliert er Vater und Mutter, die vor seinen Augen erschossen werden, wahrscheinlich bei einer Vendetta, der Fall wurde nie aufgeklärt. Die Großmutter klemmt ihn sich unter den Arm und setzt auf den Kontinent über, um den Mördern zu entgehen. Richtung Marseille, Le Panier, Rue des Pistoles, eine von Korsen bevölkerte Straße, die mehrheitlich aus Calenzana stammen. Sie verkauft Obst und Gemüse auf Märkten, um zu überleben. Dann kommen Krieg und deutsche Besetzung.«
Grimbert löst ihn ab. »Seiner Akte bei der Handelskammer zufolge beteiligt sich Pieri 1944 an der Befreiung von Marseille, geht zur Armee, Kriegsverdienstkreuz im Juni 1945. Da ist er neunzehn. Danach Funkstille bis 1962.«
Casanova wendet sich an Daquin. »Sie als Pariser müssen verstehen, was zu der Zeit in Marseille in Gang kommt. Schon vor dem Krieg begann sich um die Brüder Guérini ein eingeschworener Clan zu bilden. Alles Korsen, alle in Marseille, viele aus demselben Dorf, Calenzana. Für einen Korsen ist das Dorf von großer Bedeutung. Bei der Befreiung von Marseille kämpften die Guérinis Seite an Seite mit Defferre und den Sozialisten. Oma Guérini soll Defferre sogar mehrfach das Leben gerettet haben. Das ist der Wendepunkt ihrer Geschichte. In der sehr unruhigen Zeit nach der Befreiung macht der Guérini-Clan ein Vermögen mit dem Schwarzhandel von Zigaretten, ein Riesenunternehmen, das sich über das ganze westliche Mittelmeer erstreckt, von Tanger aus geleitet. Und nach und nach setzt sich der Clan als Herrscher über Marseille durch, dank seiner Verbindungen ins Rathaus, unabhängig davon, ob ein Rechter das Bürgermeisteramt bekleidet oder Defferre. Als der Bürgermeister vertrauenswürdige Männer braucht, sei es, um 1947 eine kommunistische Demonstration zu zerschlagen oder 1950 den Streik der Hafenarbeiter zu brechen, wendet er sich an die Guérinis und die Sache läuft. In beiden Fällen wird die Ordnung wieder hergestellt. Das verbindet zwangsläufig.«
Delmas berichtet weiter: »In den Polizeiakten steht, dass Pieri nicht verheiratet ist, weder eine offizielle Geliebte hat noch Kinder.«
»Das kann ich bestätigen«, sagt Casanova.
»Bis in die Sechzigerjahre lebt er mit seiner Großmutter zusammen. Zu dieser Zeit kauft er ihr ein Häuschen in Calenzana, in das sie umzieht. Sie stirbt 1968. Ansonsten sind die Akten ausgesprochen diskret. Ein paar wenige Meldungen vom Zoll wegen Verdachts auf Zigarettenschmuggel, keine Festnahme, keine Verurteilung. 1959 notiert ein Polizist ein Gerücht, dem zufolge Pieri bei einer Abrechnung ums Leben gekommen sei, aber 1960 taucht er wieder auf der Bildfläche auf. Nichts über eine mögliche Beteiligung am Heroinhandel.«
Daquin unterbricht. »Dabei ist das doch die Zeit, als die Guérinis neben ihren vielen anderen Aktivitäten die French Connection organisieren. Hält sich Pieri aus den Drogen heraus?«
»Sicher nicht. Wir wussten, dass Pieri einer der treuesten Soldaten der Guérini-Brüder war, ehe er Antoine Guérinis Erster Kapitän wurde. Als solcher watete er in Heroin. Aber es war eine Zeit relativer Straflosigkeit. Und wenn ich relativ sage … Die Guérini-Brüder wurden ebenfalls nicht behelligt.«
Grimbert übernimmt wieder. »1962 gründet Pieri die Somar, die also sieben Jahre lang parallel zum voll funktionstüchtigen Guérini-Clan existiert. Gibt es Verbindungen zwischen der Somar und dem Clan?«
Casanova lächelt. »Spiel nicht den Unschuldigen, Englishman. Es ist ausgeschlossen, dass es keine Verbindung zwischen der Somar und den Guérinis gab, und das weißt du so gut wie ich. Als die Familie Guérini zu Fall kam, zwischen 1967 und 1969, hat man hier in Marseille und in Frankreich nicht viel Geld gefunden. Meine persönliche Meinung ist, dass ihnen die Somar von ihrer Gründung an dazu diente, es in Sicherheit zu bringen.«
Jetzt ist Daquin an der Reihe, den Naiven zu spielen. »Es gab damals keine Ermittlung in Bezug auf diesen Aspekt der Geschichte?«
Casanova ist sichtlich verlegen. »Erst mal waren Finanzermittlungen damals noch nicht in Mode. Und dann wäre es ein Wunder, wenn die Somar nur mit dem Geld der Guérinis gearbeitet hätte, wenn Sie verstehen, was ich sagen will.«
Ein Moment Schweigen, dann spricht Delmas. »Von seinem Wiederauftauchen 1960 an finden sich in den Polizeiakten Notizen, dass Pieri regelmäßige Geschäftsreisen in die USA unternimmt, mindestens vier im Jahr. Mehr steht da nicht.«
Casanova erläutert: »Täuschen Sie sich nicht, er war bestimmt kein Drogenschmuggler. Er war zuständig für die Gesamtverhandlungen mit den New Yorker Familien. Die French war ein gut geführtes Unternehmen, die Aufgaben waren streng aufgeteilt. Keine Genremischung, so lautete die Regel. Damit Sie das richtig verstehen: Die Guérinis, die die Heroinbranche kontrollierten, besaßen auch das komplette Opernviertel hier in Marseille, Bars, Bordelle, Nachtclubs, alles. Drogenverkäufer wurden nicht geduldet, nicht ein einziges Gramm Pulver war dort im Umlauf. Keine Genremischung. Wir dachten damals, Pieri wäre der Mittelsmann zwischen den Guérinis und den amerikanischen Familien, die das Heroin in New York vertrieben. Sie waren eng verbunden, seit die Guérinis 1947 die Kommunisten und 1950 die Hafenarbeiter aufgemischt hatten, und auch die CIA fanden sie nach ihrem Geschmack. Die Guérinis und ihre Soldaten waren Meister im Kampf gegen den Kommunismus. Wir würden diese Harmonie doch nicht stören. Niemand hatte damals etwas daran auszusetzen. Auch nicht in den höheren Sphären, den französischen oder den amerikanischen.«
Noch ein kurzer Austausch, dann zieht Casanova sich zurück. »Ich lasse euch in Ruhe arbeiten.«
Grimbert legt den Artikel aus Info Éco Avenir, den er aus dem Archiv der Handelskammer »ausgeliehen« hat, auf Daquins Schreibtisch.
»Ein interessanter Beitrag über die Wirtschaftskrise in Marseille 1964, der mich zum Nachdenken gebracht hat, allerdings enthält er ein verblüffendes Porträt von Pieri, das ihn als Pionier der Wiederbelebung des Marseiller Unternehmertums darstellt.«
Daquin überfliegt den Artikel. Eine Ode auf Pieri. Seltsam in einer Wirtschaftszeitung, die normalerweise sehr zurückhaltend sind. Er legt ihn beiseite. Den muss er aufmerksam lesen, in Ruhe.
Grimbert fährt fort: »Ich war auch beim Finanzamt. Die Akte Somar wird von den Spezialisten für die Finanzmauscheleien der Stadt und deren Gravitationsfelder sehr aufmerksam bewacht. Das ist ein Alarmsignal.«
Daquin fasst zusammen: »Aus allem, was heute Vormittag hier gesagt wurde, scheint mir hervorzugehen, dass sich unser Ausgangsansatz bestätigt: die zentrale Rolle der Somar. Solange sich nichts Besseres findet, erstes Ziel: Informationen über Co Trade finden, das ist wichtig, damit ich morgen nicht mit leeren Händen zum Gespräch mit Frickx gehe. Die Abteilung für Finanzdelikte des SRPJ kann uns vielleicht helfen?«






