- -
- 100%
- +
»Die besteht nur aus zwei Personen, aber eine davon kenne ich gut, ich werd’s versuchen.«
»Ich kann auch unsere Kollegen beim französischen Konsulat in New York bitten, uns zu schicken, was sie über Co Trade und Frickx finden können. Was halten Sie davon?«
»Warum nicht? Schließlich ist das amerikanische Konsulat in Marseille hyperaktiv, wir können versuchen, es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen …«
»Anschließend treiben Sie sich ein bisschen in der Nähe von Pieris Wohnung herum, klassische Nachbarschaftserkundung. Vielleicht könnten Sie bei unseren Freunden vom Zoll vorbeigehen, ihnen ein paar Fragen über die Somar stellen. Und gleich morgen müssen wir zur Somar und den Angestellten unter dem Vorwand, sie über die Umstände von Pieris Tod zu informieren, möglichst viele Auskünfte zu seiner Person und zur Funktionsweise des Ladens entlocken. Ich würde auch gern eine halbamtliche Rekonstruktion des Mordes durchführen, da der Staatsanwalt nichts Offizielles will. Haben Sie hier im Évêché einen guten Spezialisten für Anschläge mit Schusswaffen, einen diskreten Mann?«
»Einen Spezialisten sicher, einen diskreten Mann – man darf nicht zu viel verlangen. Wenden Sie sich an den Direktor, er ist sehr stolz auf die mobilen Einsatzkommandos der Polizei, die er gerade neu eingeführt hat, es wird ihm ein Vergnügen sein, einen Kontakt herzustellen, und es ist gut für die Beziehung zu unseren Vorgesetzten.«
»Und sagen Sie, Grimbert, woher haben Sie diesen Spitznamen, Englishman?«
»Ihnen entgeht aber auch nichts … Als ich in Marseille ankam, war ich fünf Jahre alt, und ich war Engländer. Ich bin auf Malta geboren. Die Insel war damals britisch. Aber ich spreche schlecht Englisch, meine Muttersprache ist Maltesisch. Ich spreche auch Deutsch, gar nicht mal schlecht, mein Vater war Deutscher. Deutscher Jude. Er ist 1938 geflohen und erst auf Malta zum Stillstand gekommen, wo er meine Mutter geheiratet hat, aber er konnte sich nie an die maltesische Mundart gewöhnen. Zu Hause haben wir Maltesisch und Deutsch gesprochen.«
Einen Teil des Nachmittags verbringt Daquin damit, das Dossier noch einmal zu lesen. Sich die Personen einprägen, die kleinsten Details, sich nichts entgehen lassen. Ebenso die Polizeiakte von Emily Frickx mit dieser Spur abgedrehten Leichtsinns und den Artikel aus Info Éco Avenir mit seinem Porträt eines Marseiller Banditen als Held des modernistischen Unternehmertums. Er weiß nicht, was wichtig ist und was nicht, man muss also alles in Betracht ziehen.
Er verlässt das Büro relativ früh, um Einkäufe zu machen und zu kochen, wobei er noch nicht über das Menü entschieden hat. Normal. Er erinnert sich kaum an Vincent, er weiß nicht, ob es ihm Freude macht, ihn wiederzusehen, oder eher nicht, er weiß nicht, warum er ihn zum Abendessen eingeladen hat. Wie soll man unter diesen Umständen ein Menü zusammenstellen? Er durchquert das Panier-Viertel, läuft am Vieux-Port vorbei, geht dann hoch zum Markt von Noailles, angezogen von den Farben, dem Lärm, den Menschen, die durch die Sonne bummeln, sich begegnen, einander zurufen, sich anblaffen, eine Stadt, die zu ihrem eigenen Vergnügen eine Show abzieht. Vor dem Obst- und Gemüsestand einer faltigen alten Marktfrau bleibt er stehen, sieht ihr zu, wie sie von einem Kunden zum anderen flattert, einen Wortstrom ausgießt, während sie aufmerksam jede Frucht, jedes Gemüse wählt, mit wachem Blick und präzisen Bewegungen. Sie muss Pieris Großmutter ähneln … Warum empfinde ich eine Art Zärtlichkeit für sie?
Hat die Alte es gespürt? Sie ruft ihm zu: »Und Sie, junger Mann, was darf es für Sie sein?«
Daquin zögert: Tomaten … und warum eigentlich nicht die Alte machen lassen?
»Geben Sie mir, was ich für ein Ratatouille für zwei Personen brauche.«
»Ah! Ein Abend unter Verliebten?«
Lächeln. »Wenn Sie es sagen …«
»Ich richte das für Sie.«
Sie packt Tomaten, Paprikaschoten, Zucchini, Zwiebeln und Auberginen zusammen, verstaut sie sorgsam in einer Tüte und wirft ihm dann einen argwöhnischen Blick zu. »Sind Sie der Koch? Wissen Sie wenigstens, wie man Ratatouille macht?«
»Keine Sorge, ich habe mein Rezept …«
»Vor allem keine Originalität, das beste Rezept ist das Ihrer Mutter.«
Daquin hat in diesem Punkt seine Zweifel, beschließt aber, sich nicht dazu zu äußern.
Danach macht er einen Abstecher zur Kaffeerösterei auf der Canebière, um seinen persönlichen Vorrat an Arabica zu besorgen, italienische Röstung und frisch gemahlen. Es ist nicht viel los, guter Kaffee ist kein obligatorischer Bestandteil der Marseiller Kultur. Dann geht er zurück zu seiner Wohnung am Quai du Port.
Kaum angekommen, begibt er sich in die Küche, das erste Mal seit seiner Ankunft in Marseille. Freude, in seinen Händen wieder frisches Gemüse zu spüren. Die Erinnerung an Beirut steigt in ihm hoch, und Beirut hat einen Namen: Paul Sawiri, sein Liebhaber, älter als er und sehr viel weiser, der ihn die Liebe zum Kochen gelehrt hat. Kochen, sagte er, tut man nicht für sich selbst, sondern für einen anderen oder mehrere andere, Freunde, Liebhaber. Jedes Gericht ist ein Liebesakt, die Art und Weise der Zubereitung, die Würzung, hängt von der Person ab, mit der man es essen wird. Genau da liegt das Problem: Wer ist Vincent? Mit wem wird er heute Abend essen? Er macht sich an die Arbeit. Erst die Tomaten schälen, ein paar Sekunden in heißes Wasser tauchen, dann die Schale abziehen. Das Gemüse fein würfeln. Messer frisch geschliffen, sorgfältige, präzise Handgriffe, bei denen die Spannung des Tages allmählich von ihm abfällt. Dann das Gemüse einzeln in Öl anbraten, angefangen mit den Auberginen, die man im Anschluss auf Küchenpapier beiseite legt, um das überschüssige Öl aufzusaugen. Nach den Auberginen die Zwiebeln, Zucchini und Paprikaschoten anbraten, diese Arbeit nimmt einen weniger in Anspruch, die Gedanken schweifen ab. Vincent, der Musterschüler in ihrer Clique an der Jurafakultät. Zurückhaltend, fleißig, pummelig. Manche sagten: heimlich in dich verliebt, Théo. Er hat das nie ernst genommen und sich nie für ihn interessiert. Vincent spielte Tennis und Golf. Die ganze Clique nannte ihn »den idealen Schwiegersohn«.
Jetzt, wo Zucchini, Zwiebeln und Paprika angebraten sind, ist das Wesentliche erledigt. Man muss nur noch das gesamte Gemüse in einen Topf tun, die gewürfelten Tomaten und ein Kräuterbouquet zugeben, mit Salz und Pfeffer abschmecken. Und die nötige Zeit kochen lassen. Er legt eine Platte von Count Basie auf und streckt sich auf dem Sofa aus. Er atmet den Duft des köchelnden Gemüses, und zum ersten Mal fühlt er sich in dieser Wohnung zu Hause.
Porticcio hat mich vorgewarnt, dass sich Vincent aller Wahrscheinlichkeit nach bei mir melden wird. Er hat hinzugefügt: »Wart’s ab, du wirst überrascht sein. Der ›ideale Schwiegersohn‹ ist auf dem besten Weg, ein Star der Marseiller Anwaltschaft zu werden, die schon eine hübsche Kollektion davon hat.« Habe ich ihn aus Neugier eingeladen? Um zu erfahren, wie ein zukünftiger Marseiller Staranwalt aussieht und was er mir zu erzählen hat? Andere Hypothese: Ich habe bereits genug vom Alleinsein. Ein ehemaliger schmachtender Verehrer? Ich werde mit ihm schlafen.
Vincent kommt um Punkt einundzwanzig Uhr, eine Flasche Champagner in der Hand. »Trinkst du immer noch so gern Champagner?«
»Immer noch. Die Flasche ist kalt … Setz dich auf die Terrasse, ich bringe etwas, was ihm Ehre macht.«
Als Daquin mit einem Tablett zurückkommt, betrachtet Vincent die Segeljacht des Bürgermeisters, die zehn Meter entfernt im Vieux-Port vertäut liegt, er dreht sich um, schaut ihm ins Gesicht, schweigend, bereit. Daquin setzt das Tablett ab und stellt sich neben ihn.
»Wie sehr du dich verändert hast.« Er streift mit der Hand sein Gesicht. Du hast abgenommen, die Bäckchen sind verschwunden, die Knochen sind endlich sichtbar, befreit. Er streichelt mit den Fingerspitzen den vorstehenden Wangenknochen. Ich liebe es, die Kraft deines Gesichts zu spüren. Er zeichnet den Augenbrauenbogen nach, den Nasenrücken, die Augen haben sich vertieft, ich liebe diesen dunkelgrauen Blick. Die Hand streift den Mund, die Lippen öffnen sich, Daquin beugt sich hinunter, haucht einen Kuss darauf.
Vincent fragt: »Vor oder nach dem Apéritif?«
»Nach dem Champagner und vor der Foie gras.«
Zwei Stunden später fläzen sich die beiden Männer in den Liegestühlen auf dem Balkon, Daquin im Bademantel, Vincent in einem zu großen T-Shirt, das er im Bad gefunden hat. Seit einer guten halben Stunde erzählt Vincent Geschichten aus dem Marseiller Anwaltsmilieu, Daquin hört zu und lacht. Eine zweite Champagnerflasche ist angebrochen, die Scheibe Foie gras und die Toasts sind verschlungen.
»Von Ratatouille will ich nichts hören«, sagt Vincent.
Daquin seufzt. »Kann ich verstehen. Das war ein Castingfehler. Zur Strafe werde ich drei Tage davon essen, zum Glück ist das ein Gericht, das in Schönheit altert.«
Daquin leert die zweite Flasche Champagner, dann entschließt er sich zu sprechen.
»Ich bin jetzt drei Tage hier, und ich habe das Gefühl, mitten im Treibsand zu leben. Ein Ermittler meines Teams hält mich an der Hand und erklärt mir, wo ich meine Füße hinsetzen darf und wo nicht, mit wem ich reden darf und mit wem nicht, und ich weiß noch nicht, ob ich ihm vertrauen kann oder nicht. Ihm zufolge ist das Drogendezernat von Marseille in der Hand der Amerikaner. Was sagst du?«
»Ja, der Druck der Amerikaner auf die französische Regierung ist sehr stark, und beim Drogendezernat von Marseille sind sie allgegenwärtig.«
»Warum?«
»Aus mehreren Gründen. Zwanzig Jahre lang war das französische Heroin in den USA eine ›success story‹. Die Amerikaner hielten es für ein hervorragendes Beruhigungsmittel und brachten es in den Gefängnissen in Umlauf. Als die Jugend der feinen Gesellschaft anfing, es in rauen Mengen zu konsumieren, fanden sie das weniger komisch. Außerdem sind die Amerikaner durch und durch protektionistisch. Nixon hat einige Freunde in der Mafia von Florida, die in Kokain machen, eine Droge, die vor der Haustür der USA hergestellt wird. Er hat sich darangemacht, ihnen das Terrain freizuräumen, indem er das französische Heroin ausschaltet.«
»Warum lässt man sie auf unserem Hoheitsgebiet einfach machen?«
»Weil sie 1945 gewonnen haben und weil de Gaulle tot ist.«
»Welche Verbindung besteht zwischen dem Krieg Zampa-Le Belge und dem Krieg der Amerikaner gegen das Heroin?«
»Die Frage wirkt einfach, ich fürchte, die Antwort ist sehr kompliziert. Zunächst hat keiner von beiden das Format eines Guérini. Le Belge versucht Geschäfte zu machen, indem er alle Überreste der French aufsammelt, die er findet. Keinerlei Zukunftsvision. Zampa ist viel vernünftiger. Er fährt mehrgleisig. Ein bisschen Drogen, viel Schutzgelderpressung und Prostitution, ganz klassisch. Und Glücksspiel. In diesem Sektor ist Nizza groß im Kommen, Zampa kontrolliert die Casinos über einen seiner Männer, Fratoni, und das Rathaus ist ihm gewogen. In Nizza hat er es zweifellos geschafft, sein Unternehmen zukunftsfähig zu machen.«
Daquin streckt die Beine aus, schließt die Augen. Zampa, das Erbe der Guérinis, Pieris Ermordung, Nizza, Casino im Palais de la Méditerranée. Kein Zufall. Aber welcher Zusammenhang? Er seufzt.
»Marseille ist eine furchterregende Stadt. Alle kennen sich, alle überwachen einander, nichts bleibt verborgen und nichts kommt ans Licht.«
»Ich sag’s mal anders: Es ist eine bemerkenswerte Stadt, was die Dichte des Geflechts ihrer sozialen Beziehungen angeht.«
Mittwochabend, Nizza
Frickx landet in Nizza aus London kommend etwa zur vorgesehenen Zeit, gegen einundzwanzig Uhr. Er hat kein Gepäck, nur einen schwarzen Lederaktenkoffer, nützlich, um seinen Auftritt als eiliger Geschäftsmann zu unterstreichen. Rasch durchquert er die Ankunftshalle des Flughafens, wendet sich mit großen Schritten Richtung Parkhaus, geht hinein, diskrete Blicke nach rechts und links, nichts Auffälliges. Vertrauen haben. Er erreicht den hintersten Gang in der Nähe der Einfahrt, sucht den großen Peugeot von Simon, der Nummer zwei bei der Somar, mit dem er verabredet ist. Er kann ihn nirgends sehen. Ein weißer Lieferwagen macht ihm Zeichen mit den Scheinwerfern. Frickx tritt näher, erkennt Simons Silhouette hinter dem Steuer. Er hat nicht seinen eigenen Wagen genommen. Warum? Misstrauisch? Er öffnet die Tür, setzt sich auf den Beifahrersitz, schließt die Tür wieder. Lebhafte Unterhaltung. Die Minuten verstreichen. Dann öffnet Frickx die Tür, stellt sich neben den Lieferwagen, beginnt sein Jackett auszuziehen. Das ist das Signal. Frickx hört den Motor eines sich nähernden Motorrads. Er redet durch die offene Tür weiter mit Simon, er muss seine Aufmerksamkeit fesseln, während er sorgsam sein Jackett über den linken Arm faltet, Geist und Körper in Alarmbereitschaft. Das Motorrad fährt dicht an der Motorhaube des Lieferwagens vorbei, ohne zu verlangsamen, der Sozius stellt sich auf die Fußrasten, feuert dreimal in Simons Richtung, die Schüsse sind stark gedämpft. Die Windschutzscheibe zerbirst, Simons Körper sinkt in Zeitlupe auf den Beifahrersitz, das Motorrad verschwindet geschmeidig.
Frickx, reglos, das Jackett überm Arm, atmet tief durch. Um ihn herum kein Geräusch mehr. Er inspiziert den Lieferwagen. Simon scheint so tot wie nur möglich, aufgerissener Mund, starre Augen, drei blutende Wunden im Brustkorb. Er holt seine Ledertasche aus dem Fußraum, schlägt die Tür zu und läuft im Slalom zwischen den Wagen hindurch bis zur Flughafenhalle. Er begibt sich zum Schalter einer Autovermietung. Eine Mercedes-Limousine wartet auf ihn. Kurs auf die Villa in Cap Ferrat. Als er den Flughafen verlässt, ist alles ruhig, der Tote im Lieferwagen wurde offenbar noch nicht entdeckt.
In der Villa ist es still, alle Lichter gelöscht. Frickx geht auf direktem Weg hoch zum Schlafzimmer im ersten Stock. Emily schläft, gestützt von einem Stapel Kopfkissen, ausgestreckt auf dem Rücken im Ehebett, ihr Gesicht ist ausdruckslos, sie sieht mitgenommen aus. Auf dem Nachttisch ein eingeschaltetes Nachtlicht neben einer Wasserkaraffe und einer Sammlung Medikamentenpackungen. Eine Frau in weißem Kittel schläft auf einem Liegestuhl am Fußende des Bettes. Das Eintreten von Frickx hat sie aus dem Schlaf hochfahren lassen.
Er stellt sich vor: »Michael Frickx, der Ehemann Ihrer Patientin. Sie wurden über mein Kommen unterrichtet, glaube ich?« Mit einer Bewegung in Richtung Bett: »Wie geht es ihr?«
Er nimmt Emilys Hand, spricht laut, als legte er es darauf an, sie zu wecken, die Krankenpflegerin antwortet ihm flüsternd, dass alles gut ist, er soll sich keine Sorgen machen, aber seine Frau braucht viel Ruhe.
Emily hat schon die Augen geöffnet. Frickx beugt sich hinab, küsst sie auf die Stirn, streichelt ihre Hände. Lächeln aufrichtiger Zuneigung. »Emily, mein Schatz, ruh dich aus. Alles ist gut. Morgen kommt dein Cousin David.« Schmeichelnde, beruhigende Stimme. Er wendet sich an die Pflegerin: »Ich habe ihren Cousin angerufen, er ist im Ausland, er kommt morgen. Er wird ihr Gesellschaft leisten.«
Emily kann kaum ihren Blick fixieren, seufzt, murmelt. Er setzt sich neben sie aufs Bett, streicht ihr übers Gesicht, übers Haar, bis sie wieder einschläft.
Dann legt er sich im Gästezimmer zu Bett und schläft sofort ein.
Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, Hafen von Istanbul
Der aus dem rumänischen Constanţa kommende Frachter der Somar erreicht Istanbul am späten Nachmittag und legt wie üblich im Hafen von Salipazari auf dem Bosporus an. Er befährt die Küste zwischen dem Libanon, Zypern, der Türkei und Rumänien. Der Kapitän, ein junger Mann unter vierzig, dessen Gesicht aber bereits von tiefen Furchen durchzogen ist, sinnt über den Tod von Pieri nach, von dem Simon ihn am Tag über Funk unterrichtet hat. Er hat seiner fünfköpfigen Mannschaft gerade die Erlaubnis erteilt, den Abend in der Stadt zu verbringen. Er will allein an Bord bleiben, um Pieri so würdig wie möglich zu verabschieden. Er setzt sich in seine Kajüte, Bullaugen geöffnet, um die Kühle des türkischen Frühlings zu spüren, auf dem Tisch eine Flasche Whisky, ein Glas und ein großes Schulheft, Spiralbindung und Karopapier, in das er seit langem Gedichte überträgt, die ihn berühren, um sie in trübsinnigen Momenten nachlesen zu können. Dies ist ein trübsinniger Moment. Er schlägt eine weiße Seite auf und beginnt langsam zu schreiben.
Gebet für Maxime Pieri
Ermordet. Ein Dreckskerl hat auf dich geschossen. Ich wette, du warst unbewaffnet. Du bist schon seit langem nicht mehr bewaffnet ausgegangen. Ich kann es immer noch nicht glauben. Und doch habe ich immer gedacht, dass es so kommen muss. Du liebtest das schnelle Leben, du liebtest das Spiel mit der Gefahr. Ich weiß nicht, wie man betet. Heute bete ich. Ich wusste nie, wie ich mit dir reden soll, unter Männern nimmt man sich nie Zeit zu reden. Heute nehme ich mir die Zeit. Im Panier, in meiner Kindheit, warst du mein Nachbar, du warst mein Held, mein Vorbild. Befreier von Marseille, Kriegsverdienstkreuz, von allen geachtet. Vertrauensmann der Guérinis, die Stadt in deiner Hand. Ich bin mit achtzehn in die Armee eingetreten, um es dir gleich zu tun. Ich habe den ganzen Indochinakrieg mitgemacht und bin nach Marseille zurückgekehrt, ich war dreiundzwanzig Jahre alt, haufenweise Erinnerungen an Blut und Tod, opiumsüchtig bis in die Knochen. Während drei Jahren voller Drogen und Plackerei habe ich nach dir gesucht. Ich war sicher, du wärst meine Rettung. Als ich dich endlich fand, war ich am Boden. Du hast mich aufgesammelt, beherbergt, gepflegt. Du hast mir eine Arbeit in der Handelsmarine gegeben. Du hast mir eins deiner Schiffe anvertraut, das geheimste, das gefährlichste. Ich habe es zu schützen gewusst. Ich bin stolz auf dein Vertrauen. Ich bin stolz darauf, dich nie enttäuscht zu haben. Ruhe in Frieden. Ich bewahre dein Andenken.
14. März 1973, Istanbul
Kapitän Nicolas Serreri
Er schließt das Heft, bekreuzigt sich, die einzige Gebetsgeste, das er kennt, steht auf, tritt an das Bullauge, betrachtet den dunklen Schemen von Istanbul bei Nacht. Eine Stadt, die er wahnsinnig liebt. Er muss eines Tages Catherine mit hernehmen. Auf dem Quai sieht er zwei seiner Matrosen, die auf die Santa Lucia zusteuern. Kommen sie schon zurück? Gute Matrosen. Genau hier hat er sie aufgelesen, in Istanbul, etwas mehr als einen Monat ist das her. Zwei Kerle hatten ihn ohne Vorwarnung verlassen. Das kommt oft vor auf Frachtern wie der Santa Lucia, die schlecht zahlen für viel Arbeit und keinen Komfort, aber bei einer fünfköpfigen Mannschaft reißt das ein Loch. Das Büro des Hafenkapitäns hatte ihm diese beiden geschickt, die eine Heuer suchten. Sie waren intelligent, fleißig, unbestimmter Herkunft und machten sich schnell unentbehrlich. Nicolas liebt es, mit ihnen zu singen und Karten zu spielen, wenn sich bei den Zwischenstopps die Zeit in die Länge zieht. Die zwei Männer erreichen die Gangway, kommen sie herauf. Warum eigentlich nicht ein Glas mit ihnen trinken? Nicolas öffnet seine Kajütentür, macht ihnen ein Zeichen, sich zu ihm zu gesellen. Sie treten ein. Nicolas wendet sich ab, um zwei Gläser vom Regal zu nehmen. Im nächsten Moment packt einer der beiden Nicolas’ Arme, fixiert sie mit einem brutalen Griff, der seine Schultergelenke knirschen lässt, in seinem Rücken. Der andere lässt den Stein des dicken Siegelrings an seiner rechten Hand aufspringen und entblößt ein Dutzend feine Nadeln, die er mit derselben Bewegung in Nicolas’ Hals rammt. Der wehrt sich, um den Angriff abzublocken, dann wehrt er sich plötzlich nicht mehr. Die Männer legen den Körper auf den Boden, gießen etwas Whisky in das Glas auf dem Tisch, leeren die Flasche in das winzige Waschbecken und lassen sie dann auf dem Boden der Kajüte liegen. Einer von ihnen öffnet das Heft auf den ersten Seiten, liest eine beliebige Stelle:
Ein wenig von diesem endlosen absoluten Blau
Wäre genug
Um die Last dieser Tage zu erleichtern
Und den Morast dieses Ortes zu reinigen.
»Diese Schwuchtel hat Gedichte geschrieben.«
Er lacht, lässt das Heft aufgeschlagen auf dem Tisch. Sie laden sich den Toten auf, tragen ihn nach draußen, geben Acht, dass man sie vom Quai aus nicht sieht, schwingen ihn über die Reling und lassen ihn nicht aus den Augen, während er langsam davontreibt. Dann verlassen sie ohne Eile das Schiff und steigen durch die menschenleeren Straßen des Hafens zur kaum erleuchteten Stadt hinauf.
Donnerstagmorgen, Cap Ferrat
Vom Fenster des Gästezimmers überwacht Frickx – geduscht, frisch rasiert, tadelloser grauer Anzug, weißes Hemd, bordeauxrote Krawatte – das Gittertor und den Hof des Hauses. Ein Wagen fährt vor, parkt. Pünktlich, wie erwartet. Er läuft schnell nach unten, um David zu begrüßen.
»Geht’s, hältst du durch?«
»Natürlich. Was für eine Frage! Saint-Tropez ist ein zauberhaftes Dorf.«
Die Pflegerin, geweckt von den Geräuschen, steht auf dem Treppenabsatz und beobachtet das Kommen und Gehen. Frickx nutzt die Gelegenheit, um David vorzustellen.
»David, Emilys Cousin. Ich habe ihn gebeten, mich für ein paar Tage an ihrem Krankenbett zu vertreten. Ich muss dringend geschäftlich ins Ausland.« Er nimmt David am Arm, zieht ihn mit sich auf den Hof, außer Reichweite der neugierigen Ohren der Krankenpflegerin. »Ich breche sofort nach Genf auf. Ich habe einen Wagen gemietet, ausgeschlossen, dass ich noch mal über den Flughafen Nizza reise. Emily schläft, sie ist mit Medikamenten vollgepumpt, du hast Zeit. Lass uns ein Stück die Straße entlanglaufen, ich habe dir ein paar Dinge zu sagen.«
Sobald sie das Tor passiert haben, kommt Frickx zur Sache. »Was die Somar betrifft, ist alles in Ordnung, Simon hat mir versichert, dass es in den Firmenunterlagen nichts Schriftliches gibt, das sich bis zu mir zurückverfolgen ließe. Und außer ihm ist niemand über unsere Geschäfte auf dem Laufenden, auch nicht über die der Santa Lucia. Den Rest kennst du. Was mich beunruhigt, ist Emily an Pieris Seite, das war nicht geplant.«
»Niemand weiß das besser als ich.«
»Durch ihre Anwesenheit taucht mein Name in einer Affäre auf, in der er niemals hätte erwähnt werden dürfen. Das ist übel. Ich war gezwungen, zur Villa zu fahren, was nicht in meinem Plan stand, und du bist immer noch hier, dabei solltest du seit ein paar Stunden im Ausland sein. Das ist gefährlich. Ich hasse Überraschungen.«
»Schön und gut, aber Emily war nun mal an dem Abend an Pieris Seite. Daran kannst du nichts mehr ändern. Uns bleibt nur, die Lage so weit wie möglich in den Griff zu bekommen.«
»Ich wusste nicht mal, dass Pieri und sie sich kennen. Ich will wissen, was sie mit ihm zu schaffen hatte. Das ist lebenswichtig für mich, für uns, deshalb musst du bei ihr bleiben.«
»Ein Liebesabenteuer?«
»Das glaube ich nicht. Nicht Emily, an so etwas ist sie nicht interessiert. Und es ist auch nicht dieser Aspekt, der mir Sorgen bereitet.« Er überlegt einen Moment. »Hör zu, David, ich glaube nicht an Zufall. Pieri hat mit meiner Frau zu Abend gegessen. Warum? Misstraute er mir? Was hat er ihr gesagt? Fischte er nach Informationen? Welchen? Hat er ihr von unseren Geschäften erzählt? Stell dir die möglichen Konsequenzen vor! Du musst der Sache auf den Grund gehen.«
»Ich kann’s versuchen, aber es wird nicht einfach. Ich habe Emily seit sieben Jahren nicht gesehen, ich weiß nicht, wie sie mich aufnehmen wird. Und Pieri kannte ich gar nicht. Wie soll ich das deiner Meinung nach bewerkstelligen?«
»Gib dein Bestes, ich vertraue dir. Bleib so lange bei Emily wie nötig. Im Zweifel muss man von ihrer Seite dichtmachen. Ich selbst werde sehr beschäftigt sein, ich muss hinter Pieri aufwischen, es gibt Arbeit für mich in Genf. Und ich muss mit den neuen Verträgen vorankommen. Aber ich rufe dich regelmäßig an. Alles klar?«






