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»Ich will sie nicht, Heinz!« grollte ich und stieß nach seiner Hand.
Das Geld rollte abermals hinab ... Was war das für ein entsetzliches Geräusch, als die schweren Metallstücke klingend und klirrend auf das harte Steinpflaster niederschmetterten! ... Ich hatte es noch nie, und der Dierkhof wohl seit vielen Jahren nicht mehr gehört.
Unwillkürlich fuhr ich herum, und mein Blick zuckte scheu über das Fenster, das nach dem Fleet mündete. Hinter den halbblinden Scheiben hing ein dicker, farbenbunter Plüschteppich, den, so lange ich denken konnte, nie eine Hand von drinnen gehoben hatte – jetzt wurde er zurückgeschleudert, und die Augen meiner Großmutter funkelten heraus.
Das war ein Anblick, der dem Beherztesten Grauen einflößen konnte. Zitternd bückte ich mich, um das Geld zu sammeln; aber da flog auch schon die neben dem Fenster befindliche Thür auf – wie ein Windstoß brauste es heran – ich wurde an der Schulter gepackt und auf die Tenne hinabgestoßen.
»Nicht anrühren!« gellte es mir in die Ohren. Welch einen erschütternden Klang hatte doch die Stimme, die seit langen Jahren für mich verstummt war! Ich schlug entsetzt die Augen auf.
Da stand die gewaltige Frau und schüttelte grimmig die Faust nach Heinz hin. »Du« – zischte es drohend von ihren Lippen.
»Gut sein, gnädige Frau, gut sein!« stotterte er bittend. »Ich trage ja gleich, jetzt auf der Stelle, das ganze dumme Lumpenzeug 'nüber in den Fluß!« Er zitterte wie Espenlaub – ich sah zum ersten Male, daß diese unverwüstlich frische Gesichtsfarbe bis in die Lippen erbleichen konnte.
Sie wandte ihm mit einer heftigen Bewegung den Rücken. Die langen, grauen Flechten peitschten ihre Hüften, und ich erwartete unter stockenden Pulsen, daß sie sich wieder auf mich stürzen werde. Da stieß ihr Fuß an eines der Geldstücke; sie fuhr zurück, als habe sie auf eine Schlange getreten. – Nun kam ein Schauspiel, das ich nie, nie vergessen kann. Kichernd schleuderte sie das Geldstück mit der Fußspitze fort, daß es weithin flog und rasselnd auf die Steine niederschlug, dann ein zweites, ein drittes, und so schritt sie auf dem Fleet hin und her – ich mußte an das grausame Spiel der Katze mit der Maus denken ... Und wie grauenhaft wechselte das Mienenspiel auf dem rot überflammten Gesicht! Man sah, sie stieß das Geld voll Ingrimm und Abscheu von sich, und doch, sobald es wirbelnd niederfiel, lauschte sie vorgestreckten Halses mit unverkennbarer Lust, ja mit einer Art von Begierde, dem hellen Silberklang, bis die letzte leiseste Schwingung erloschen war.
Ich rührte mich nicht von der Stelle und wagte kaum zu atmen; Spitz, der sonst so rauflustige Spitz, schlich mit eingeklemmtem Schwanz vom Herde weg und drückte sich dicht neben Heinz, der regungslos, wie festgemauert auf seinem Platze verharrte, nur seine todesängstlichen Augen huschten einige Mal nach mir hinüber ... Ach! Ilse – wo blieb sie nur? ... Sie war die Einzige, die Macht über meine Großmutter hatte. Hörte sie denn den Lärm gar nicht, der so unheimlich und nervenerschütternd gegen die alten Balken des Dierkhofes schlug?
Das Klingen und Springen der Silberstücke dauerte fort. Die alte Frau schien nicht mehr zu wissen, daß zwei Menschen wie Bildsäulen in ihrer Nähe standen. Sie rannte immer leidenschaftlicher auf und ab und flüsterte und gestikulierte nach etwas Unsichtbarem hin ... Da auf einmal fuhr es wie ein Ruck durch ihre Glieder; sie kam eben am Eßtisch vorüber und blieb förmlich versteinert stehen, während die Augen minutenlang seitwärts auf die Tischdecke niederstierten – da lag der unglückselige Brief, der nach dem ausdrücklichen Befehl meines Vaters ihr nie zu Gesicht kommen sollte.
»An Frau Rätin von Sassen!« unterbrach sie endlich das tödliche Schweigen und strich sich tiefaufseufzend mit der Hand über die Stirn. »Frau Rätin von Sassen! Das war ich – ich!«
Ich kämpfte mit mir selber, ob ich hinzuspringen und ihr den Brief entreißen solle, auf den sie eben die Hand legte. Aber was war ich schwaches zerbrechliches Geschöpf unter den Händen dieser Frau! Sie hätte mich ohne Weiteres zurückgeschleudert und den Besitz des verhängnisvollen Papieres erst recht behauptet. Ich machte Heinz die beredtesten Zeichen – er sah mich völlig verständnislos an, und da geschah auch schon das Gefürchtete – meine Großmutter zog den Brief aus dem Kouvert.
»Laß mal sehen!« sagte sie, indem sie langsam das Blatt entfaltete.
Sie las nicht, ihr Blick fiel nur auf die Unterschrift – was mußte es wohl für ein Name sein, der eine solche Wirkung haben konnte? ... Mit einem Wutgeschrei zermalmte die alte Frau sofort den Brief zwischen den Fingern. »Deine Christine!« lachte sie gellend auf, schleuderte den gestaltlosen Papierklumpen weit in die Tenne hinein und lief mit einer wildabwehrenden Bewegung in ihr Zimmer zurück – gleich darauf kreischte drinnen der vorgeschobene Riegel.
Ilse, die eben mit einem Korb voll Torfstücken aus dem Hofe kam, blieb erstaunt auf der Schwelle stehen.
»War das nicht die Großmutter?« fragte sie halb erschrocken, halb ungläubig. Die Thür, die da eben krachend zuschlug, wurde ja nie benutzt – Schloß und Riegel mußten längst eingerostet sein.
Mir schlugen die Zähne wie im Fieber zusammen; aber ich fühlte mich doch gleichsam erlöst und erzählte ihr flüsternd und atemlos den Vorgang. Ich sah wohl, wie sie zusammenschrak und sich verfärbte; aber Ilse hätte nicht Ilse sein müssen – sie sagte kein Wort, stellte ihren Korb neben den Herd und fing an, die Torfstücken auszupacken und symmetrisch aufeinanderzulegen; nur als Heinz herantrat, hob sie den Kopf – sein heiliger Respekt vor den scharfen Augen war sehr begründet, sie hefteten sich vernichtend auf sein schreckerfülltes Gesicht.
»Bist ja ein Mordkerl, Heinz!« sagte sie. »Hab' jahrelang gesorgt, daß nicht einmal Groschengeld auf den Dierkhof gekommen ist, und jetzt macht solch ein Politikus das nette Kunststückchen und wirft mir eine ganze Handvoll Silberthaler auf die Steine! ... Ei je, die Vierzig auf dem Rücken und keine Ueberlegung!«
Mir traten die Thränen in die Augen. Trotz meiner wahrheitsgetreuen Schilderung und meiner Selbstanklage bekam Heinz die Schelte, und er ließ alles geduldig über sich ergehen, er widersprach mit keinem Wort. Ich schlug meine Arme um ihn und drückte das Gesicht in den Aermel seines alten Drellrockes.
»Ja, tröste ihn nur, deinen Heinz! – Das hält eben immer wie die Kletten zusammen!« sagte Ilse; aber schon war alle Schärfe aus Blick und Ton verschwunden.
Sie nahm die Lampe vom Tisch und schritt die Tenne hinab, um den Papierknäuel zu suchen, aber so viel sie auch umherleuchten mochte, er fand sich nicht.
Bis dahin hatte ich in dem Zimmer meiner Großmutter nur selten eine Lebensäußerung gehört, vielleicht nur nicht beachtet; ich mied ja auch instinktmäßig die nächste Umgebung desselben; jetzt drang das Murmeln einer leidenschaftlich erregten, rauhen Stimme, von Stöhnen und tiefem Aufseufzen unterbrochen, durch das teppichverhangene Fenster.
»Sie betet,« flüsterte Heinz mir zu.
Aber dieses Gebet wurde nicht knieend verrichtet. Sie ging mit so wuchtigen Schritten drinnen auf und ab, daß der Teppich hinter den Glasscheiben leise schwankte und der Boden hier draußen unter unseren Füßen nachschütterte.
»Gebt Licht herein!« schrie sie plötzlich angstvoll auf.
»Licht?« wiederholte Ilse. »Ich habe ja die Lampen hineingestellt.« Sie lief nach dem engen Gang, der, an der östlichen tiefen Seite der Wohnräume hinlaufend, nach dem Garten mündete, und in welchem sich die Hauptthür des Zimmers befand.
Nicht lange darauf kam sie scheinbar beruhigt zurück. Darauf aber rasselte fast in demselben Augenblick der Pumpbrunnen, und man hörte den Wasserstrom zischend in den Trog stürzen.
»Es ist ihr schwarz vor den Augen geworden,« antwortete Ilse kurz auf meine ängstlichen Fragen. »Das wird wieder einmal eine schöne Nacht werden!« murmelte sie sorgenvoll vor sich hin, während sie das Geschirr vom Eßtisch wegräumte und das Kästchen mit den Papieren in das Wohnzimmer zurücktrug.
Also hatte sie öfter schlimme Nächte mit meiner Großmutter zu überstehen! Das war eine unheimliche Neuigkeit für mich; mein gesunder, glücklicher Schlaf hatte mich nie ahnen lassen, daß nächtlicher Weile irgend etwas im Hause vorgehe. Nun erinnerte ich mich freilich, daß ich Ilse schon gar oft des Morgens niedergeschlagen und erschöpft gefunden hatte; aber da waren stets ihre Kopfschmerzen, an denen sie häufig litt, schuld gewesen.
Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf darauf; mir war so bang und beklommen zu Mute, als müsse mit der Nacht draußen auch Schlimmes über den Dierkhof hereinbrechen. Fast mechanisch horchte ich auf Heinzens Schritte, der noch einmal die Runde um das Haus machte; er vermied wohlweislich den Baumhof, denn wenn auch der Schwengel des Pumpbrunnens augenblicklich ruhte, so hielt sich doch meine Großmutter jedenfalls noch dort auf. Da, wo die Umhegung des Baumhofes als scharfe Ecke in die Heide hineinschnitt, stand sie oft stundenlang und starrte in die unermeßliche Weite hinaus.
»Geh in dein Bett, Kind, du bist müde!« sagte Ilse und strich mir mit der Hand über den Scheitel.
Ich war bis dahin, kraft meiner glücklichen Unbefangenheit, das indolenteste, eigennützigste Geschöpf der Welt gewesen – das fühlte ich tief in diesem Augenblick.
»Nein, ich gehe nicht schlafen,« sagte ich und versuchte einen festen Ton anzuschlagen. »Ilse, ich bin heute siebzehn Jahre alt geworden, und nun groß und stark genug – ich lasse mich nicht mehr ins Bett schicken, während dir die Großmutter so schwer zu schaffen macht!«
Ich war aufgesprungen und stellte mich neben sie hin.
»So, das hätte mir gefehlt, daß du mir auch noch im Wege herumstündest!« entgegnete sie trocken; sie sah seitwärts auf mich nieder. »Hm, ja, nun weiß ich doch auch, wie ein großes und starkes Frauenzimmer aussieht! Es reicht mit dem Kopfe gerade über den Eßtisch und piept in die Welt hinein wie ein Küchlein, das eben aus dem Ei gekrochen ist –«
»Ilse, solch ein armseliges Ding bin ich doch nicht!« unterbrach ich sie empört, aber auch kleinlaut – sie übertrieb ja nie.
»Uebrigens weiß ich gar nicht, was du willst!« fuhr sie unbeirrt fort. »Lächerlich! die Großmutter steht ruhig draußen im Baumhof und wird in einer Stunde so fest schlafen, wie wir alle. Aber das will ich dir sagen, es regt sie stets auf, wenn sie das Licht zu lange auf dem Fleet brennen sieht.«
Sie nahm ohne weiteres die Lampe vom Tisch – und aus und vorbei war es mit meiner heroischen Anwandlung; den hätte ich sehen wollen, der auf Ilses letztes Wort, auf ihre energische Kopfwendung hin noch etwas zu erwidern versucht hätte.
Ich rief Heinz, der eben das Hausthor schloß, gute Nacht zu und folgte ihr pflichtschuldigst nach der Eckstube, in welcher wir beide schliefen.
5.
»Hier, du Leichtsinn, sind deine neuen Schuhe!« sagte sie, und zeigt unter den Stuhl, der neben meinem Bett stand. »Wäre Heinz nicht gewesen, da stünden sie noch draußen, und das Gewitter wüsche sie heute Nacht in den Fluß.«
Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden beim Anblick der zwei nägelbeschlagenen, häßlichen Unglückskameraden. Zudem fiel das Lampenlicht grell auf den alten, verräucherten Kupferstich, der an der Wand hing und Karl den Großen vorstellte. Das Bild heftete seine großen Augen unverwandt auf mich – ich wandte ihm den Rücken und stieß die Schuhe unvermerkt mit dem Fuß tiefer unter den Stuhl; ich mochte sie nicht mehr sehen, ich wollte nie mehr an die Fremden erinnert sein, mit deren Erscheinen eine ganze Reihe von Unannehmlichkeiten und neuen peinvollen Empfindungen in mein einsames, harmloses Leben hereingebrochen war.
Ilse verließ das Zimmer nicht eher, als bis sie mich im Bett wußte. Aber mit einem aufgeregt klopfenden Herzen voll schlimmer Ahnungen schläft auch die Jugend nicht ein. Ich schlüpfte wieder in meine Kleider, hob den Laden aus dem westlichen Eckfenster, das in den Baumhof sah, und setzte mich dicht neben dasselbe auf das Fußende meines Bettes. Das fast greifbare Dunkel im Zimmer lichtete sich, und ich wurde ruhiger, wenigstens verlor sich die leidige Gespensterfurcht sofort.
Geräuschlos klinkte ich das Fenster auf. Ein niedriger Ebereschenbaum draußen an der Wand, der in ihrem Schutz, zur Wonne der Vögel, sich alljährlich üppig mit seinen roten Beerendolden behing, schob seine äußersten Zweigspitzen über die Scheiben. Hinter dem grünen Gespinst saß ich geborgen und konnte doch über Garten und Wiesen hinweg in die dämmernde Welt hineinsehen. Ilse hatte vorhin von einem drohenden Gewitter gesprochen; aber nie hatte sich der Sternenhimmel makelloser über die Heide hingebreitet! Die köstlich laue Nachtluft wehte mich an mit kaum fühlbarem Atem, nicht das kleinste Blättchen an den Bäumen hob sich vor ihm, um hinauszuflüstern in die herrschende Todesstille – für mich war sie trotzdem belebt; freilich nicht mehr durch die Geisterritte der Riesenrosse, die den greisen Hünenkönig und sein Gefolge über das Heideland trugen – den gold- und purpurstrotzenden Traum hatte heute die unbarmherzige Hacke gründlich zerstört – aber ich wußte ja, in jedem Erikastengel trieb und quoll es empor und formte in zarten Umrissen Millionen und aber Millionen Blütenköpfchen, die in Kurzem hervorkommen sollten, um sich im Sonnenlicht die blassen Bäckchen purpurn färben zu lassen. Und heute war ich droben im höchsten Eichengipfel gewesen und hatte im alten Elsternest vier Eier gezählt – da drin trieb und dehnte es sich auch und frug im emsigen Wachsen nicht, ob es Tag oder Nacht sei, bis das Schnäbelchen an die Schale pochte und Raum und Licht schaffte für zwei neue kluge Aeuglein ... Ich wußte auch, daß jetzt weit drüben aus dem Waldsaum leisen Trittes die Rehe kamen und wohlig die Heideluft schlürften, die, auch über den Dierkhof hinstreichend, Wiesen- und Kräuterdüfte mitbrachte.
Meine Pulse waren allmählich ruhig geworden. Unbewußt hatte ich in die glatte, friedliche Bahn meines gewohnten Denkens eingelenkt und die Interessen wieder aufgenommen, die meine anspruchslose Seele bisher vollkommen ausgefüllt.
Im Hause war es still geblieben, so still, daß ich Miekes Kette durch die Wand hatte klirren hören. Ilse hatte Recht gehabt mit ihrer Versicherung und konnte nun jeden Augenblick mit dem Licht in die Schlafstube treten. – Hei, wie rasch mich der Gedanke auf die Füße brachte! Ich wäre sicher binnen zwei Minuten in dem hochaufgetürmten Federbett rettungslos versunken gewesen, hätte nicht plötzlich das Zuwerfen einer fernen Thür alle Balken und Pfosten des Dierkhofes erzittern gemacht.
Ich war eben im Begriff, das Fenster zu schließen, da kam es lautatmend um die Ecke, dicht am Fenster hin, so daß der gewaltige grauhaarige Kopf meiner Großmutter in erschreckender Nähe an mir vorüberfuhr.
»Es brennt, da – da!« stöhnte sie im Vorüberlaufen und hielt beide Hände auf die Stirne gepreßt.
Ich wagte nicht, mich hinauszubiegen und ihr nachzusehen, hörte aber, wie sie gleich darauf stehen blieb, und ihre weitausgestreckten Arme kamen in den Bereich meiner Blicke.
»Denn das Feuer ist angegangen durch meinen Zorn,« sprach sie mit feierlich beschwörendem Pathos »und wird brennen bis in die unterste Hölle, und wird verzehren das Land mit seinem Gewächs, und wird anzünden die Grundfeste der Berge!«
Langsam schritt sie unter den Eichen hin und trat in die Ecke des Baumhofes. Sie stand mir nicht allzu fern, und es war hell genug, ich konnte sie deutlich sehen -bildete doch der Himmel mit seinem Goldgefunkel einzig und allein den Hintergrund für die kräftigen Umrisse der Gestalt. Sie hatte das Obergewand abgeworfen, die weiten Hemdärmel hingen von den Schultern und schimmerten weiß herüber, und den Rücken hinab fielen halbaufgeflochten in vereinzelten Strähnen die langen Zöpfe.
Was sie hinaussprach in die lautlose schweigende Heide – ich verstand es nicht; es war mir, als hörte ich alle die Fremdwörter des alten Professors hier in einem Fluß, aber mit eigentümlich singender Betonung ... Plötzlich riß das Gemurmel in einem halberstickten Schrei ab; meine Großmutter fuhr herum, und die ruhelosen Füße begannen abermals, in verdoppeltem Geschwindschritt, die Wanderung. Ich meinte, sie wolle auf den Brunnen zustürmen – da lief sie blindlings gegen eine der Eichen, taumelte zurück, nahm nochmals einen Anlauf und brach zusammen, plötzlich, gewaltsam, wie niedergerissen durch unsichtbare Hände.
»Ilse, Ilse!« schrie ich auf. Aber da stand sie schon und versuchte unter Heinzens Beistand die Gestürzte aufzurichten. Die Beiden hatten jedenfalls von der Baumhofthür aus meine Großmutter bewacht und beobachtet. Ich sprang zum Fenster hinaus.
»Sie ist tot!« flüsterte Heinz, als ich zu ihnen trat. Er ließ mutlos den gewaltigen Körper zurücksinken, der in seiner Leblosigkeit jedenfalls furchtbar schwer war.
»Sei still!« gebot Ilse mit erstickter Stimme. »Auf, brauche deine Kräfte – vorwärts!« Und sie faßte meine Großmutter unter den Armen und nahm sie mit übermenschlicher Kraft vom Boden auf, während Heinz die Füße hob.
Nie werde ich den erschütternden Anblick vergessen, als sie keuchend über den Fleet schritten, und die grauen Haarsträhnen der Leblosen über die Steinfliesen hinschleiften, auf denen vor kaum einer Stunde noch die Geldstücken unter kräftigen Fußstößen umhergeflogen waren.
Ich lief voraus und öffnete die Thür im Zimmer meiner Großmutter; aber ich mußte erst noch eine hohe spanische Wand, die im Halbkreis den Eingang umstellte, zurückschieben, ehe ich in das Zimmer selbst eintreten konnte; der Einblick war den profanen Augen Vorübergehender somit vollkommen verwehrt. Ich hatte diesen Raum nie betreten dürfen, selbst als kleines Kind nicht. Bei aller Seelenangst und Gemütserschütterung war mir doch in diesem Augenblicke zu Mute, als sähe ich mit zurückschreckenden Augen in eine neue Welt, aber in eine unsäglich düstere. Ich habe denselben Eindruck nur einmal noch empfangen, als ich eintrat in eine uralte dämmerdunkle Kirche voll halberblindeter Pracht, voller Marterbilder und erfüllt mit jenem unbeschreiblichen Gemisch von kalter eingeschlossener Kirchenluft und erstickenden Weihrauchdüften.
Meine Großmutter wurde auf ein Bett niedergelassen, das in der einen Ecke stand; es hatte Vorhänge, altmodische, steifseidene grüne Vorhänge, in die feine Goldblümchen eingewirkt waren. Wie das knisterte und rieselte, als sie zurückgeschlagen wurden, und wie schreckenerregend das bläuliche Gesicht mit den geschlossenen Augen unter dem harten dunklen Grün hervorsah!
Heinz hatte sich geirrt, meine Großmutter war nicht tot. Schweratmend lag sie da; sie rührte kein Glied, aber als Ilse in so weichflehenden Tönen, wie ich sie nie von ihr gehört, ihren Namen nannte, da öffnete sie für einen Moment die Lider und sah sie verständnisvoll an. Ilse schob ihr Kissen und Polster unter den Rücken und gab ihr eine sitzende Stellung im Bett; das that ihr sichtlich gut, das leise unheimliche Geräusch, das ihre Atemzüge begleitete, minderte sich.
Während dem hatte Heinz bereits den Dierkhof verlassen, um einen Arzt zu holen. Er mußte in das nächste Dorf laufen, und von da nach dem eine Stunde Wegs entfernten größeren Orte einen Wagen schicken, der den Doktor nach dem Dierkhof brachte; so konnten drei bis vier Stunden vergehen, ehe ärztlicher Beistand kam.
Mein Versuch, Ilse behilflich zu sein, wurde zurückgewiesen. Sie schob schweigend, mit einem besorglichen Blick auf die Kranke, meine Hände weg, gestattete mir aber, dazubleiben.
Ich kauerte mich, halbverdeckt durch den Vorhang, zu Füßen des Bettes auf eine kleine gepolsterte Bank nieder und sah beklommen in das fremdartige Zimmer hinein. Es war das größte im Hause und von einer saalartigen Weite; vielleicht hatte meine Großmutter eine Wand durchschlagen lassen, um den befremdend großen Raum zu gewinnen. An den Wänden hingen mit eingewobenen Gestalten bedeckte wollene Tapeten. Mein Blick kehrte immer wieder zurück auf einen lebensgroßen Kinderkörper mit einem schönen Gesicht voll Trauer und sanftmütiger Duldung – es war der junge, auf einem Holzstoß festgebundene Isaak. Die Tapeten waren uralt und von den Motten zerfressen, so daß der nervigen Gestalt Abrahams ein Auge und die hochgehobene, opferbereite Hand fehlten ... Wie eine Versammlung mürrisch schweigender Greise, in steifer Ordnung, reihten sich Stühle mit himmelhohen Lehnen und großblumigen, samtenen Polsterbezügen an den Wänden hin. Ich habe erst späterhin diese aus den kostbarsten Hölzern geschnitzten, schwarzbraunen Säulenlehnen zu würdigen gelernt; bei ihrem ersten Erblicken jedoch stierten mich die aus Band- und Laubgewinden hervorlauschenden Tierköpfe und fabelhaften Gebilde, die auch an all den umherstehenden Spinden und Schreinen wiederkehrten, dräuend und sinnverwirrend an.
Die dunklen Farben und die tiefen Ecken allüberall sogen das Licht der zwei Lampen, die hell auf den Tischen brannten, gierig ein. Dunkel war der Teppich, auf dem meine Füße ruhten und der sich über den ganzen Boden hinbreitete, und fast schwarz der erdrückend niedrige Holzplafond. Nur das nackte Fleisch der Tapetenbilder, im Lauf der Zeit bis ins Leichenhafte erblichen, leuchtete da und dort wie ein aufgesetzter Lichtpunkt, und ein einziger heller Gegenstand von mildem Glanze schwebte wie die versöhnende weiße Taube in das Düster herein – es war ein vielarmiger, mit weißen Wachskerzen besteckter Silberleuchter, der am Deckenbalken hing.
Es schien im Verlauf der bangen Stunde, die ich bereits am Bette verharrte, besser mit der Kranken zu werden. Sie sah sich mit weitoffenen Augen um, trank etwas frisches Wasser, und plötzlich kehrte ihr auch die Sprache zurück.
»Was ist mit mir?« fragte sie langsam in gebrochenen, ganz veränderten Tönen.
Ilse bog sich, ohne zu antworten, über sie – ich glaube, der Jammer nahm ihr die Stimme – und strich ihr lind und liebkosend die Haare aus der Stirne.
»Meine alte Ilse!« murmelte die Kranke. Sie machte eine Anstrengung, sich zu erheben, es ging nicht – mit einem sonderbar starren, forschenden Blick streiften ihre Augen langsam an dem linken Arm nieder.
»Tot!« seufzte sie und ließ den Kopf in das Kissen zurücksinken.
Der Ausruf flößte mir kaltes Entsetzen ein. Ich machte eine unwillkürliche Bewegung, das Polsterbänkchen rückte weiter und die Vorhänge rauschten.
»Wer ist noch im Zimmer?« fragte meine Großmutter aufhorchend.
»Das Kind, gnädige Frau – Leonore,« antwortete Ilse zögernd.
»Dem Wilibald sein Kind – ja wohl, ich kenne es – es springt mit den kleinen nackten Füßen durch die Heide und singt drüben am Hügel – ich kann das Singen nicht hören, Ilse!«
Das wußte ich wohl; nie hatte auf dem Dierkhofe ein singender Laut über meine Lippen kommen dürfen – ach, und ich sang so gern! Mir war, als fliege meine Seele auf den Tönen, die mir die Brust weiteten, in die Ferne hinaus. Da sang ich denn in Heinzens Lehmhütte, daß die flaschengrünen Fensterlein zitterten, oder drüben auf dem Hügel; aber ich hatte nie gemeint, daß das die Großmutter auf dem Dierkhof hören könne.
Ich war aufgestanden und trat ihr zitternd einen Schritt näher.
»Klein wie ihre Mutter,« murmelte sie vor sich hin, »und hat die großen Augen und ein kaltes, enges Herz – ihr ist ja auch das Wasser über der Stirne ausgegossen worden.«
»Nein, Großmutter,« sagte ich ruhig, »ich habe kein kaltes Herz!«
Sie sah mich so erstaunt an, als habe sie bis dahin gemeint, das kleine Wesen könne nur singen und nicht sprechen, am allerwenigsten aber sie selbst anreden. Ilse zog sich hinter den Vorhang zurück und winkte mir angstvoll, zu schweigen; sie mochte durch mein unerwartetes Hervortreten einen Anlaß zu neuer Geistesstörung bei der Kranken befürchten. Aber meine Großmutter blieb vollkommen ruhig: ihre Augen hafteten unverwandt auf meinem Gesicht. Diese Augen, vor denen ich mich immer so entsetzlich gefürchtet, wenn sie im Vorüberlaufen unstät und irr über mich hinflackerten, waren sehr schön; über ihren dunklen Glanz breitete sich freilich ein unheimlicher Schleier, aber es lag Seele darin, bewußtes Denken.
»Komm einmal her zu mir!« unterbrach sie das minutenlange Schweigen.
Ich trat dicht an das Bett.
»Weißt du, was es heißt, jemand lieb haben?« fragte sie, und ihre gebrochene, tonlose Stimme nahm einen innigen Klang an.
»Ja, Großmutter, das weiß ich! Ich habe Ilse so lieb, so lieb, daß ich's nicht sagen kann – und Heinz auch.«