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Um ihre Lippen zuckte ein leises Beben, und sie schob unter unsäglicher Mühe ihre auf der Decke liegende Rechte nach mir hin.
»Fürchtest du dich vor mir?« fragte sie.
»Nein – nicht mehr!« wollte ich hinzusetzen, aber ich verschluckte die zwei letzten Worte und bog mich zu ihr hin.
»Nun, so gib mir deine Hand und küsse mich auf die Stirn!«
Ich that, wie sie geheißen, und seltsam, in dem Augenblick, wo meine Lippen das gefürchtete Gesicht berührten, und meine Hand von den großen, kalten Fingern umschlossen und sanft gedrückt wurde, zog ein neues, süßseliges Gefühl in meine Brust ein. Ich wußte auf einmal, daß ich an diesen Platz gehörte, ich fühlte das geheimnisvolle Band des Blutes zwischen Großmutter und Enkelin, und hingerissen durch dieses plötzliche Erkennen setzte ich mich auf den Bettrand und schob sanft meinen Arm unter ihren Kopf.
Ein beglücktes Lächeln glitt durch die großen, starken Züge; sie legte sich in meinem Arm zurecht wie ein müdes Kind, das einschlafen will.
»Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut – ach!« flüsterte sie und schloß die Augen.
Ilse aber stand hinter dem Vorhang des Bettes; sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.
Es trat wieder Totenstille in. Sie wurde nur unterbrochen durch das leise Aufstöhnen der Kranken und ihre schweren, unregelmäßigen Atemzüge, und durch das unausgesetzte leise Schnurren in dem hohen, hölzernen Standgehäuse der alten Uhr, deren großes blinkendes Zifferblatt gespenstisch herüberstarrte, und die zu jeder Pendelschwingung weit und langsam aushob wie eine kranke Brust zum Atemholen.
So war abermals eine lange, bange Zeit verstrichen; es hatte bereits Eins geschlagen. Da wurde draußen das Hausthor geöffnet, und Heinz schritt in Begleitung eines anderen Mannes durch die Tenne; er brachte also, wider Erwarten, den Arzt gleich mit.
Ilse atmete sichtlich auf und winkte mir, ihm am Bett Platz zu machen; ich zog vorsichtig meinen steifgewordenen Arm an mich und ließ das Haupt der Kranken behutsam in die Kissen sinken . Sie schien weiter zu schlummern; sie gab auch kein Zeichen, daß sie es höre, als die Zimmerthür leise geöffnet wurde und die Männer eintraten.
Da stand auf einmal der alte Pfarrer des nächsten Dorfes im vollen Ornat inmitten des Zimmers, während Heinz, den Hut in der Hand, ehrfurchtsvoll im Hintergrunde verblieb ... Sie sah feierlich ergreifend aus, die ehrwürdige Gestalt des Geistlichen im schwarzen Talar, das Gebetbuch in den Händen haltend. Ilse aber fuhr empor, als sähe sie ein Gespenst; sie stürzte zurückwinkend auf ihn zu, allein es war zu spät – in demselben Moment, als fühle sie den Blick des Eingetretenen, schlug meine Großmutter auch die Augen auf.
Ich wich zurück, so sehr entsetzte mich die furchtbare Verwandlung in den Zügen, die sich eben noch so friedsam geglättet hatten.
»Was will der Schwarzrock?« stöhnte sie.
»Ihnen Trost bringen, so Sie dessen bedürfen,« versetzte der alte Mann mild, ohne sich durch die rauhe Anrede beirren zu lassen.
»Trost? ... Ich habe ihn bereits gefunden am unschuldigen Kindesherzen, in der Liebe, die sich dahingibt, ohne zu fragen: wie glaubst du, und was gibst du mir dafür? ... Leonore, mein gutes Kind, wo bist du?«
Mir zitterte das Herz bei diesen sehnsüchtigen Tönen. Ich trat rasch an das Kopfende des Bettes, so daß sie mich sehen konnte.
»Trost könnt ihr mir nicht bringen, die ihr mich hinausgestoßen habt in die grauenhafte Wüste, wo mir der Sonnenbrand das Gehirn ausgedörrt hat!« fuhr sie zu dem Geistlichen gewendet fort. »Nicht einen Tropfen kühler Labung habt ihr mir gereicht auf dem Wege, der nun, wie ihr predigt, enden soll in der Hölle! ... Ihr Unduldsamen, ihr rühmt euch, in Demut vor Gott zu wandeln, und haltet doch jederzeit den Stein in der Hand, ihn auf euren Nächsten zu werfen, und vermesset euch, entehrendes Totengericht zu halten am Grabe der Hingeschiedenen, die bereits vor ihrem Richter stehen! ... Ihr falschen Propheten, ihr rühmt euch, zu dem Gott der Güte, des unendlichen Erbarmens zu beten, und macht ihn zum Lenker mörderischer Schlachten, zu einem grimmigen und eifrigen Gott, wie das Volk der Hebräer auch, das ihr das verfluchte nennt! ... Vollkommen preist ihr ihn und gebt ihm doch alle Gebrechen eurer sündhaften Menschennatur, eure Rachsucht, eure Herrschbegierde, eure kalte Grausamkeit ... Euer Mittler hat euch eine Palme in die Hand gedrückt, ihr aber macht sie zur Geißel –«
Der Geistliche hob die Hand, als wolle er sie unterbrechen, aber sie fuhr heftiger fort:
»Und mit dieser Geißel habt ihr mich geschlagen und hinausgehetzt aus eurem Himmel, da ihr schwurt: Dein Vater, der Jude, der dir das Leben gegeben, deine Mutter, die Jüdin, die dich genährt, sie sind verflucht bis in alle Ewigkeit! ... Mann, mein Vater war der Weisesten einer. Er hat gesammelt und aufgespeichert in seinem Geiste unermeßliches Wissen – und das sollte nutzlos verkommen in der Hölle, und dem geistig Beschränkten, der nie gedacht und nur geglaubt, würde mühelos das Himmelreich, wo doch dem Forschenden erst recht verheißen ist Wahrheit und Klarheit? ... Und mein Vater,« fuhr sie fort, »hat gebrochen dem Hungrigen sein Brot und dahingegeben, daß die Linke nicht wußte, was die Rechte that. Er hat verabscheut die Sünde der Lüge, des Geizes und des Hochmuts und hat verziehen seinen Beleidigern und nie gerächt, was sie ihm angethan – er hat Gott, seinen Herrn, geliebt von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte, und soll doch schmachten in der Hölle bis in alle Ewigkeit, weil das Wasser nicht über seinem Haupte ausgegossen ist? ... Wohl, wohl, so will ich dahingehen, wo er ist – ich gebe euch eure Taufe zurück! Behaltet euren Himmel – ihr verkauft ihn teuer genug, ihr Tyrannen im schwarzen Rock!«
Mit dem tiefsten Erbarmen in seinen milden Zügen trat ihr der alte Pfarrer näher; aber da war keine Versöhnung mehr möglich.
»Lassen Sie das – ich bin fertig!« sagte sie schneidend und kehrte das Gesicht nach der Wand.
6.
»Herr Pfarrer,« sagte Ilse draußen auf dem Fleet zu ihm, »ihr dürfen Sie das nicht zurechnen, sie hat sich taufen lassen, und der's gethan hat, war gut und christlich wie Sie, und sie hat ehrlich zu Christo gehalten ... Da ist aber einer gekommen – er mag's verantworten – und hat geeifert und hat des Verfluchens und Verdammens kein Ende gewußt. Ja, da war das viele Unglück in der Familie immer und immer nur ein Strafgericht des Herrn! Und das hat ihr den Verstand genommen – er mag's verantworten!«
»Ich rechte nicht mit ihr,« entgegnete er sanft. »Weiß ich doch leider zu gut, daß falscher Eifer im Weinberg des Herrn viele edle Frucht zerstört! ... Die Frau hat viel gelitten – Gott wird barmherzig sein! Mich schmerzt nur, daß ich nicht trösten durfte, wo ich es freudigen Herzens gekonnt hätte. Aber es widerstrebt mir, mit dem unerbetenen Beistand der Kirche auf eine Seele einzustürmen, die ohnehin im schweren Kampfe liegt, im Kampfe mit der Hülle.« Er strich liebkosend mit der Hand über meinen Scheitel. »Gehe hinein zu ihr, sie wird dich vermissen! ... Ich wollte, ich könnte allen Trost unseres Glaubens auf deine Lippen legen, auf daß der geängstigten Seele der wahre Friede werde.«
Ich kehrte sofort in das Zimmer zurück, während er ein Glas Wasser trank und dann, ohne zu rasten, den Dierkhof verließ.
»Wo ist das Kind?« hörte ich die Kranke schon draußen im Gange wiederholt fragen.
»Da bin ich, Großmutter!« rief ich eintretend und flog auf das Bett zu. Sie war ganz allein. Heinz, den wir bei ihr zurückgelassen, war fortgegangen, ich vermutete, aus Furcht vor Ilse, da er eigenmächtig den Geistlichen mitgebracht hatte.
»Ach ja, da bist du, mein kleines schwarzbraunes Täubchen!« sagte sie zärtlich und seufzte erleichtert auf. »Ich meinte schon, du seiest mir nun auch abgewandt und mit ihm hinweggegangen in Haß und Verachtung.«
Ich protestierte. »So darfst du nicht denken, Großmutter!« rief ich lebhaft. »Er hat mich zu dir geschickt und ist unsäglich gut, und ich – ich weiß gar nicht einmal, wie es ist, wenn man haßt und verachtet.«
»Das heißt, du liebst die ganze Welt,« sagte sie schwach lächelnd.
»Ach ja, das habe ich dir ja schon gesagt! Ilse und Heinz, und Spitz und Mieke, und die gute, alte Föhre drüben auf dem Hügel und den blauen Himmel –«
Ich verstummte plötzlich und schämte mich – es war ja nicht wahr, was ich da sagte; diese volle hingebende, friedsame Liebe für die ganze Welt besaß ich gar nicht mehr! Gerade heute war ich ein zorniges, ungebärdiges Geschöpf gewesen – sollte ich ihr das sagen?
Ich saß wieder auf dem Bettrand, und sie hielt in ihrer Rechten meine Hand; die Finger umschlossen sie so fest, als sollte sie nie, nie wieder losgelassen werden – dabei sanken ihr langsam die Lider über die Augen. Sie hatte vorhin so kraftvoll und energisch gesprochen, und ich war so über alle Begriffe unerfahren, daß ich bei diesem Anblick nicht im entferntesten mehr an Erschöpfung dachte; aber nun legte ich auch meine Linke liebkosend um ihr Handgelenk; ich wußte recht gut, daß der Lebensstrom in regelmäßigem Takt unaufhörlich klopfen mußte – zu meiner tiefsten Bestürzung wurde mir allmählich klar, daß es unheimlich still unter dieser kalten Hand blieb; nur selten, nach langen, herzbeklemmenden Pausen, schlug es einmal kurz und hart an meine Fingerspitzen.
»Wir sind wie der Thon in der Hand des Töpfers,« flüsterte sie plötzlich. »Was sind wir, was ist unser Leben, alle unsere Herrlichkeit?« Sie stöhnte auf. »Aber du bist unser Vater, und wir sind deine Kinder, erbarme dich unser, wie sich ein Vater seiner Kinder erbarmt –«
Sie schwieg wieder; mich aber überfiel eine unbeschreibliche Angst, ich hätte alles darum gegeben, diese geschlossenen Augen offen zu sehen, und legte leise meine Lippen auf ihre Stirne. Sie fuhr empor, sah mich aber liebevoll und zärtlich an.
»Geh, rufe mir Ilse!« sagte sie schwach.
Ich sprang auf, und in demselben Augenblick rasselte zu meiner unaussprechlichen Erleichterung ein Wagen über das Pflaster des Hofes. Gleich darauf trat Ilse in Begleitung eines Herrn in das Zimmer.
»Der Herr Doktor ist da, gnädige Frau!« sagte sie und ließ den Arzt an das Bett treten.
Das Gesicht meiner Großmutter zeigte sofort wieder einen festen, gespannten Ausdruck. Sie schob dem Arzt die Rechte hin, um sich den Puls untersuchen zu lassen, und sah ihn aufmerksam an.
»Wieviel Zeit geben Sie mir noch?« fragte sie kurz und bestimmt.
Er schwieg einen Moment betroffen und vermied es, ihrem Blick zu begegnen.
»Wir wollen einen Versuch machen –« sagte er zögernd.
»Nein, nein, bemühen Sie sich nicht!« unterbrach sie ihn. Sie sah mit einem schattenhaften Lächeln an der linken Körperseite nieder. »Das ist bereits dem Staub verfallen!« sagte sie kalt. »Wieviel Zeit geben Sie mir noch?« wiederholte sie unabweisbar nachdrücklich mit geschärfter Stimme.
»Nun denn – eine Stunde.«
Mir stürzte ein Thränenstrom aus den Augen, und Ilse flüchtete in ein Fenster und preßte das Gesicht gegen die Scheiben. Nur meine Großmutter blieb vollkommen ruhig. Ihre Augen hefteten sich auf den Silberleuchter an der Decke.
»Zünde an, Ilse!« gebot sie, und während diese auf einen Stuhl stieg und Flämmchen um Flämmchen unter ihren Händen aufflackerten, wandte sich die Kranke zu dem Arzt.
»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,« sagte sie, »und möchte Sie noch um einen letzten Liebesdienst bitten – würden Sie die Güte haben, niederzuschreiben, was ich diktieren werde?«
»Von Herzen gern, gnädige Frau; aber falls es sich um einen letzten Willen handeln sollte, so muß ich darauf aufmerksam machen, daß er ungültig sein wird ohne gerichtliche –«
»Ich weiß das,« unterbrach sie ihn. »Allein dazu verbleibt keine Zeit. Meinem Sohn wird und muß mein letzter Wille auch in dieser Form genügen.«
Ilse brachte Schreibgerät, und meine Großmutter diktierte.
»Ich vermache Ilse Wichel den Dierkhof mit seinen vollen Einrichtungen und Liegenschaften ...«
»Nein, nein –« schrie Ilse angstvoll und erschrocken auf, »das leide ich nicht!«
Meine Großmutter warf ihr einen strengen, zurechtweisenden Blick zu und sprach unbeirrt weiter: »als einen Beweis meiner Dankbarkeit für ihre unbegrenzte Hingebung und Aufopferung ... Ich vermache ferner meiner Enkelin, Leonore von Sassen, was ich an Staatspapieren noch besitze, und darf niemand, wer es auch sei, ein Recht daran erheben.«
Ilse war emporgefahren und sah erstaunt nach ihr hinüber. Die Kranke deutete auf einen Schrank. »Da drin muß ein Blechkasten stehen ... Nimm ihn heraus, Ilse; ich habe völlig vergessen, wie viel er enthält.«
Ilse öffnete den Schrank und stellte einen niedrigen Blechkasten auf den Tisch. Ein verrostetes Schlüsselchen steckte in dem Vorlegeschloß.
»Es mag wohl lange, lange her sein, daß ich ihn nicht berührt habe,« murmelte die Kranke und hob matt die Rechte nach der Stirn. »Es ist finster in mir gewesen – ich weiß es ... Welches Jahr schreiben wir?«
»Das Jahr 1861«, entgegnete der Arzt.
»Ach, da mag manches da drin verfallen und wertlos geworden sein!« klagte sie, während er den Deckel zurückschlug. Auf den Wunsch der Kranken überzählte er die Papiere, die den Kasten bis an den Rand füllten.
»Neuntausend Thaler,« berichtete er.
»Neuntausend Thaler!« wiederholte meine Großmutter befriedigt. »Sie genügen, um die Not abzuwehren ... Es muß auch noch eine kleine Schachtel in dem Kasten liegen.«
Ich sah, wie Ilse den Kopf schüttelte über diese plötzliche Geistesklarheit, die so leicht da anknüpfte, wo vor vielen Jahren der glatte Faden des ungetrübten Denkens abgerissen war. Der Arzt nahm eine unscheinbare Holzschachtel aus dem Kasten – sie enthielt eine Perlenschnur.
»Der letzte Rest der Jakobsohnschen Herrlichkeit!« flüsterte die Kranke wehmütig vor sich hin. »Ilse, lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort! ... Sie gehört zu deinem Gesicht, mein Kind!« sagte sie zu mir, während ich leise in mich zusammenschauerte unter der kühlen, schmeichelnden Berührung. »Du hast die Augen deiner Mutter, aber die Jakobsohnschen Züge ... Das Band hat viel Familienglück und schöne, friedliche Zeiten voll Glanz gesehen; aber es ist auch mitgeflüchtet vor dem Scheiterhaufen und anderen grausamen Martern der christlichen Unduldsamkeit!« Sie rang nach Atem. »Nun will ich unterschreiben!« stieß sie nach einer Pause der Erschöpfung sichtlich beängstigt hervor.
Der Doktor legte das Papier auf die Bettdecke und drückte die Feder in die steife Hand ... Sie war unsäglich mühselig, diese letzte irdische Handlung; aber der Name, Klothilde von Sassen, geborene Jakobsohn, stand schließlich doch in ziemlich festen großen Zügen unter dem Dokument, das auch der Arzt als Zeuge mittels einiger Worte unterschrieb.
»Weine nicht, mein Täubchen!« tröstete sie mich. »Komm noch einmal her zu mir!«
Ich warf mich sprachlos am Bett nieder und küßte ihre Hand. Sie trug mir Grüße an meinen Vater auf, und richtete ihre großen verschleierten Augen von meinem Gesicht hinweg fest und sprechend auf Ilse.
»Das Kind darf nicht verkommen in der einsamen Heide!« sagte sie bedeutsam.
»Nein, gnädige Frau, dafür lassen Sie mich sorgen!« versetzte die Angeredete in ihrer gewohnten knappen Kürze, obgleich ihr die Lippen schmerzlich zuckten und helle Thränen an ihren Wimpern hingen.
Noch einmal glitt die kalte, matte Hand liebkosend über mein Kinn, dann schob mich meine Großmutter sanft, aber doch in jener ängstlichen Hast, die mit jeder Sekunde geizt, von sich und sah starr nach einem der Fenster mit einem so seltsam ausdrucksvollen Blick, als wolle die Seele bereits auf ihm hinausfliegen in das All.
»Christine, ich verzeihe!« rief sie zweimal angestrengt in die Lüfte, in die weite Ferne hinaus ... Sie war fertig, gerüstet. Sichtlich beruhigt rückte sie den Kopf in den Kissen zurecht, wandte den Blick nach oben und begann feierlich inbrünstig, wenn auch mit erlöschender Stimme: »Höre, Israel, unser Herr, unser Gott ist ein Einziger und Einiger! ... Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit –« die Stimme erstarb in einem geflüsterten Hauch; sie neigte sanft und langsam das Haupt seitwärts.
»In Ewigkeit, Amen!« vollendete der Arzt an Stelle des Mundes, der für immer verstummt war.
Er drückte ihr mit sanfter Hand die Lider über die Augen.
7.
Mit der ganzen enthusiastischen Zärtlichkeit, die so leicht aus dem jugendlichen übervollen Gemüt hervorquillt, hatte ich mich an die neugeschenkte Großmutter gehangen. Ich durfte das unaussprechlich süße Gefühl kosten, welches mir sagte, die Hingebung meines kleinen Herzens werde heiß gewünscht – und nun marterte mich der Gedanke, daß ich nicht genug gegeben, daß ich meiner Großmutter bei weitem nicht überzeugend genug ausgesprochen habe, wie sehr ich sie lieben wolle. Es war mir Bedürfnis gewesen, ihr zu versichern, daß ich sie auf den Händen tragen werde, wenn sie erst wieder gesund sei – statt dessen hatte ich sorglos die ganze kostbare Zeit verstreichen lassen und kindischer Weise von meiner Liebe für die ganze Welt gesprochen. ... Das hatte sie gewiß am wenigsten hören wollen, sie, der man draußen in der Welt so furchtbar wehe gethan ... Und nun war sie gestorben, und ich konnte ihr dies alles nicht mehr sagen ... Zu spät! Unsere ganze Ohnmacht und Hilflosigkeit liegt in dem niederschmetternden Wort!
Ich trat durch die Baumhofthür ins Freie. Ein kräftiger Luftstrom, noch mit den Spuren der Nachtfeuchte im Atem, strich über die Heide her. Er blies dem Torfsumpf die große federweiße Schlafhaube ab und verdünnte sie zum zarten Spitzenvorhang, hinter welchem das Sonnenfeuer aufzuglühen begann. Rotgolden färbten sich die rauschenden Eichenwipfel, und das kleine Giebelfenster des Dierkhofes fing an zu blinken.
Wie trunken schwankten die Grashalme unter dem funkelnden Tau; aber aufgerichtet hatten sich alle wieder, über die meine Großmutter heute nacht zum letzten Mal hingeschritten war. Die Fenster des Sterbezimmers, die ich nie anders als halbverhüllt gekannt hatte, standen weit offen. Ich schwang mich auf die Brüstung und sah hinein. Das Zimmer war leer. Die Vorhänge, jetzt im schräg einfallenden Morgenlicht smaragdfarben schimmernd, waren nach der Wand zurückgeschlagen und ließen die Lüfte über das Bett hinstreichen ... [In eine so athemlose, friedensvolle Stille hinein hatte das gequälte Gesicht des jungen Isaak wohl seit langen Jahren nicht gesehen. Anm.: Nur in der ersten Aufl.] Die mächtige Gestalt, der das Blut so heiß und ungestüm in den Adern gekreist hatte, dort lag sie hingestreckt unter dem weißen verhüllenden Tuche, nur kenntlich an der prächtigen grauen Flechte, die hervorgeschlüpft war und über den Bettrand hinabhing.
Eine aufgescheuchte Brummfliege zog summend an mir vorüber, und auf dem Silberleuchter an der Decke züngelten die gelben Flammen der Wachskerzen im Luftzuge unruhig hin und her. Das war alles, was sich regte in dem weiten Zimmer, selbst die Uhr stand still.
Dagegen erscholl nun das erwachende Leben aus dem Vorderhofe herüber. Die Hähne krähten, Spitz fuhr kläffend unter die krakelnden und aufschreienden Hühner, und Mieke verlangte dumpfbrüllend nach der Hand, die ihr das strotzende Euter entleerte. Ueber das Dach her kam die Hauskatze; sie sprang geräuschlos in das Gras des Baumhofes und schlich mit grünfunkelnden Augen unter den Ebereschenbaum, auf welchem ein kleiner Vogel sorglos zwitscherte. Ich bog eben um die Ecke und scheuchte sie fort. Und droben im Reisernest auf dem Dache wurde unter eifrigem Geklapper Toilette gemacht, dann rauschte das Storchenpaar hoch über meinem Haupte hin zum Frühstück nach dem Sumpfe – alles wie sonst! Nur vor dem Hause schreckte mich Fremdes und Ungewohntes zurück – ein Pferd wieherte in die frische Morgenluft hinaus, und an der niedrigen Umzäunung des Hofes stand mit rückwärts verschränkten Armen der Doktor und schaute über die mit Tau und Sonnengold förmlich überschüttete Heide hin.
Die kleine verstaubte Chaise, die ihn gebracht hatte, stand angeschirrt vor dem Hausthor, und drin auf dem Fleet sah ich Ilse stehen, fest und stramm wie immer. Sie hatte den Eßtisch sauber gedeckt, Tassen und Butterbrot auf der weißen Serviette geordnet und kochte Kaffee für den Arzt.
Ich trat aufgeregt zu ihr.
»Ilse, wie kannst du das nur? Wie ist dir das möglich in einem solchen Augenblick?« rief ich zornig vorwurfsvoll.
»Sollen andere dursten und hungern, weil ich Schmerz habe?« fragte sie scharf und strafend. »Hast heute nacht deine Großmutter sterben sehen und hast doch nicht von ihr gelernt, daß man in den schlimmsten Stunden den Kopf oben behalten soll!«
Tief beschämt legte ich meine Arme um ihren Hals; denn das Gesicht, das sich mir erst jetzt voll zugewendet, schien wie erstarrt im Jammer, und das urgesunde Rot war bis auf den letzten Schein weggelöscht von den Wangen. Und doch rührten sich die Hände nach wie vor, und nicht die kleinste Pflicht durfte versäumt werden.
Der Doktor kam herein und der Knecht, der ihn gefahren, auch; ich ging ihnen aus dem Wege und trat wieder vor das Haus.
Die Enten des Dierkhofes, sämtliche Schnäbel nach der Heide hinaus gerichtet, standen am geschlossenen Gatterthore der Einfriedigung; sie warteten sehnsüchtig auf den Augenblick, wo es geöffnet wurde und sie hinausrennen und sich kopfüber in den Fluß stürzen durften. Nur eine balgte sich noch mit einem weißen, zerflatternden Klumpen im Hofe herum – da war ja der Brief, den meine Großmutter heute nacht vom Fleet aus fortgeschleudert und welchen Ilse nachher so emsig gesucht hatte! Er war bis vor das offene Hausthor geflogen. Ich öffnete den Enten das Gatter und nahm den befreiten Papierknäuel auf; er sah übel zugerichtet aus; das schmutzige Wagenrad war über ihn hingegangen, und der Entenschnabel hatte ihn halb zerfleischt.
Auf das Bänkchen unter dem Ebereschenbaum flüchtend, machte ich mich daran, das Papier auf dem Knie zu glätten und die auseinanderfallenden Stücke zusammenzufügen. Es fehlte viel, zudem war die Handschrift eine sehr flüchtige; unter großer Mühe entzifferte ich folgende Stellen:
»Ich habe Dich nie belästigt, weil ich es Dir gegenüber für Ehrensache hielt, den eigenmächtig eingeschlagenen Weg auch selbständig zu gehen ... ›Die Verlorene‹ hat alles gethan, damit kein Schatten ihrer Laufbahn auf Dich zurückfalle – nie ist mein eigentlicher Familienname gegen andere über meine Lippen gekommen, nie habe ich durch irgendwelche Erkundigungen nach Dir und meiner ehemaligen Heimat den Verdacht erregt, als sei ich mit den Sassens verwandt – es hätte sie wahrlich nicht geschändet; denn – denke, wie du willst – ich sage es dennoch mit Stolz, man hat mich einstimmig das Wunder, den glänzendsten Stern unserer Zeit genannt.« ... Hier war ein Stück Papier abgerissen, es fehlte – aber auf der anderen Seite des Bogens las ich weiter: »Nun ist ein schweres Unglück über mich hereingebrochen – wohin soll ich gehen, wenn nicht zu Dir? ... Ich habe meine Stimme verloren, meine kostbare Stimme! Die Aerzte sagen, eine Badekur in Deutschland könne sie mir zurückgeben. Aber ich stehe da mit leeren Händen; durch die gewissenlose Verwaltung anderer ist mein Vermögen bis auf den letzten Groschen verloren gegangen ... Auf den Knieen liege ich vor Dir, die Du im Wohlleben schwimmst, die Du nie erfahren hast, was Not, grimme Not ist – ich könnte Dir viel erzählen von schlaflosen, qualvollen Nächten ... Vergiß nur einmal, nur auf eine Stunde, daß ich unfolgsam war, und gib mir die Mittel, mich zu retten! Was sind einige hundert Thaler für Dich, die« – über das Folgende lief die breite schwarze Spur des Wagenrades, die ohnehin blassen Schriftzüge waren total zerkratzt und verwischt. Auf einem herabhängenden Fetzen des zweiten Blattes stand noch ziemlich lesbar die Adresse der Schreiberin, und auf einem anderen die zwei Worte, die genügt hatten, meine Großmutter in schäumende Wut zu versetzen, die Unterschrift »Deine Christine«.
Wer war Christine? Dieses Wunder, der glänzendste Stern unserer Zeit? ...
Die Stelle »Auf den Knieen liege ich vor Dir!« machte auf mein einfaches, unverbildetes Gemüt einen ungeheuer dramatischen Eindruck. Ich sah sofort das schlankste Ritterfräulein aus einem meiner Bilderbücher in die Kniee sinken und die weißen Hände flehend erheben ... Und die Stimme hatte sie verloren, ihre kostbare Stimme! ... Meine Hände fuhren unwillkürlich nach dem Halse – wie mußte das entsetzlich sein, wenn man mit voller Brust aushob, um die Töne hinausklingen zu lassen, und die Kehle versagte und blieb stumm!