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Weder Fräulein Streit noch Ilse hatten je auch nur mit einer Silbe jener »Verlorenen« gedacht, und doch mußte sie meiner Großmutter sehr nahe gestanden haben, denn sie war ihr letzter Gedanke gewesen. Jetzt erst erschütterte mich das feierliche »Christine, ich verzeihe!« in tiefinnerster Seele; unwillkürlich mußte ich an den verlorenen Sohn denken, der im tiefsten, stillsten Herzenswinkel des Vaters doch das geliebte Kind geblieben war.
Ich steckte die Briefreste in meine Tasche und ging hinein auf den Fleet. Eben rollte die Chaise aus dem Gatterthor und bog, bedenklich schwankend, in den nach links führenden schauderhaften Heideweg ein, und von der entgegengesetzten Seite her kam Heinz auf den Dierkhof zugetrabt. In diesem Augenblick erst fiel es mir auf, daß er ja stundenlang verschwunden gewesen war. Ich trat neben Ilse, die den Doktor bis an das Hausthor begleitet hatte und auf der Schwelle stehen geblieben war ... Es wollte mir scheinen, als käme Freund Heinz sehr unsicher daher; er machte sich erst noch in völlig unnützer Weise mit dem Gatter zu schaffen, ehe er es unternahm, auf uns zuzuschreiten – das wurde ihm offenbar blutsauer. Beim Anblick unserer verweinten Gesichter blieb er verwirrt stehen.
»Nu, was hat er denn gemeint?« fragte er verlegen stockend, indem er mit dem Daumen über die Schulter zurück nach dem wegfahrenden Doktor zeigte.
»Mein Gott, Heinz, du weißt es nicht?« rief ich, aber Ilse unterbrach mich mit barscher Stimme.
»Wo warst du?« fragte sie kurz und bündig den Bruder.
»Bei mir zu Hause,« antwortete er trotzig.
Heinz trotzig! Ich traute meinen Augen und Ohren nicht; aber da stand er trotz alledem, der ewig Nachgebende, und schöpfte offenbar Mut aus seinem eigenen widersetzlichen Ton, denn nun verstieg er sich auch noch zu der unglaublichen Kühnheit, Ilses feindlich scharfen Blick zu parieren.
»So – was war denn nachts um Eins so nötig bei dir zu Hause? – Hast wohl deinen Vogel füttern müssen!« sagte sie schneidend.
Er sah ängstlich und unsicher auf. »O je – nachts um Eins den Vogel füttern – wie werd' ich denn so dumm sein! Zwischen meine vier Wände hab' ich mich gesetzt,« platzte er heraus, »die hat mein Vater mit seinen ehrlichen Händen gebaut, und ein frommer Spruch steht über der Thür ... Wie werd' ich denn auf dem Dierkhof bleiben, wenn eine Judenseele geradewegs in die Hölle fährt! ... Ilse, wenn das mein Vater wüßte, daß du bei einer Judenfrau gedient hast!«
»Heinz, wenn das mein Vater wüßte, daß du bei einem Christen gedient hast, wo du halb verhungert und erfroren bist, und der dir alle Tage mit Ohrfeigen und Stockprügeln gedroht hat!« parodierte sie ihn zornig. »Das ist mir ja eine ganz neue Weisheit, die du da auskramst, und die hast du von da drüben!« Sie zeigte nach der Richtung eines großen Dorfes hinter dem Walde, wo Heinz in früheren Jahren als Knecht gedient hatte.
»Ja, hast Recht, von dort her hab' ich's!« versetzte er trotzig wie vorher und nickte verstockt mit steifem Nacken. »Die Juden sind verflucht bis in alle Ewigkeit, weil sie den Heiland gekreuzigt haben. Mein Herr hat's gesagt, und das war ein Reicher und ein Hofbesitzer, und der Pfarrer hat's von der Kanzel gepredigt, und der muß es noch besser wissen – dafür war er der Pfarrer!«
Ilse sah dem Sprecher scharf ins Auge. »Jetzt paß auf!« setzte sie kurz und resolut hinzu und trat ihm mit aufgehobenem Zeigefinger so nahe, daß er ängstlich zurückwich. »Es ist ein für allemal nicht wahr, daß der Heiland von unserm Herrgott bis in alle Ewigkeit gerächt sein will! Wenn er das zuließe, nachher wär's aber auch aus und vorbei mit meinem Glauben, denn er hat uns geboten: ›Segnet, die euch fluchen‹, und thät's selber nicht! ... Wenn ich Christi Leidensgeschichte lese, dann hab' ich freilich allemal einen Heidenzorn auf die Juden, aber, wohlgemerkt, Bruder Heinz, nur auf die Juden, die dazumal gelebt haben ... Wie werd' ich denn so ein Unmensch sein und meinen Zorn an Leuten auslassen, die bis auf den heutigen Tag als unschuldige Kinder auf die Welt kommen und von ihren Eltern in der alten Lehre auferzogen werden! ... He, Musje Heinz, wie gefiele dir denn das, wenn irgendein Mensch mir etwas zuleide thäte, und ich wollte seine Kinder dafür schlagen?«
»Das ist lauter Studiertes!« sagte Heinz kleinlaut, »das hast du alles von der alten Frau gelernt –«
»Das hab' ich nicht gelernt wie die Bibelsprüche in der Schule; das hat mir mein Gewissen und,« sie deutete auf ihre Stirn, »der gesunde Menschenverstand gesagt ... Gesprochen hab' ich freilich im Anfang viel mit meiner armen Frau, und es hat ein Wort das andere gegeben, und ich hab' sie manchmal beruhigt, wenn ›die Leute im schwarzen Rock‹ Unheil angerichtet hatten ... Die Juden haben den Heiland einmal gekreuzigt; aber solche, wie der Herr Pfarrer dort drüben,« sie zeigte abermals nach dem Dorfe hinter dem Walde, »die kreuzigen ihn alle Tage – Feuer und Schwert und Verfluchen und böse Worte, die machen das Reich Christi gar nicht fein, und ist es den Leuten nicht zu verdenken, wenn sie nicht hinein wollen! ... Da hast du meine Meinung, und nun sage ich noch zu dir selber: Pfui, schäme dich in dein Herz hinein, du undankbarer Mensch! Hast lange Jahre das Brot auf dem Dierkhof gegessen – und ich meine, es ist dir recht gut bekommen, das Judenbrot- und nun lässest du die alte Frau in ihrer Sterbestunde allein – geh heim und lies das Kapitel vom barmherzigen Samariter!«
Sie wandte sich um und ging in das Haus hinein.
Recht hatte sie, vollkommen Recht! Bei jedem Worte wurde es mir so leicht, als hätte ich selber gesprochen und meiner Erbitterung Luft gemacht. Ich war tief empört, und doch dauerte mich der arme Sünder, wie er ganz zerknirscht, mit niedergeschlagenen Augen an der Schwelle stehen blieb und sich nicht in das Haus hineintraute ... Wie war es nur möglich? Dieser Mensch mit der kinderweichen Seele, der kein Tier leiden sehen konnte, er zeigte plötzlich eine dunkle Stelle in seinem Gemüt, eine unbegreifliche Härte und Erbarmungslosigkeit, und glaubte sich dazu auch noch völlig berechtigt, ja förmlich autorisiert gerade – als Christ!
»Heinz, du hast einen sehr schlechten Streich gemacht!« schalt ich in hartem Ton.
»Ach, Prinzeßchen, wem soll man's denn nur recht machen?« seufzte er auf, und Thränen funkelten in seinen Augen. »Todsünde gegen den lieben Gott soll's sein, wenn man dem Pfarrer nicht gehorcht, und nun meint Ilse, ich sei ein schlechter Kerl, weil ich ihm folge.«
»Ilse trifft immer das Richtige – das hättest du doch wahrhaftig wissen sollen,« sagte ich. Die Strenge, die ich mir vorhin erlaubt, gelang mir nicht mehr. So unreif ich auch noch im Denken war, das sah ich doch ein, die Grausamkeit wurzelte auch nicht mit einem Fäserchen in seiner Seele selbst, sie war ihm systematisch eingeimpft worden – abscheulich!
Meine Augen schweiften unwillkürlich über den Himmel – mir graute nicht mehr vor dem vielen Licht, das nun gekommen war; es floß wie milder Balsam in mein gepreßtes Herz, und ich begriff zum ersten Mal, nachdem ich heute Nacht dem Tod in die düsteren Augen gesehen, die Wunderverkündigung des Auferstehens.
Ich nahm Heinzens Rechte zwischen meine Hände. »Hier im Hofe kannst du doch nicht stehen bleiben,« sagte ich. »Komme nur mit herein – Ilse wird schon wieder gut werden; und meine liebe, arme Großmutter – die hat dir längst verziehen; sie ist im Himmel!«
»Weiß es Gott, wie leid mir die alte Frau thut!« murmelte er und ließ sich wie ein Kind auf den Fleet führen.
Draußen im Baumhof stand Ilse; sie hatte den Eimer unter den Brunnen gestellt und hob eben den Schwengel; beim ersten Aufkreischen desselben ließ sie ihn mit kreideweißem Gesicht wieder sinken.
»O, Herr Jesus, ich kann das nicht mehr hören!« stöhnte sie auf.
Sie kam herein, sank auf einen Stuhl nieder und verhüllte die Augen mit ihrer Schürze. Aber das dauerte keine zwei Minuten.
»Was für ein albern Ding bin ich doch!« sagte sie unwirsch, richtete sich straff empor und strich die Schürze über den Knieen glatt. »Möchte wohl gar die Frau wieder da am Brunnen stehen sehen, wo sie immer ihren Kopf gekühlt hat, und sollte doch Gott danken, daß sie drin still liegt und erlöst ist von dem vielen Jammer.«
»Ilse, war Christine an dem vielen Jammer schuld?« fragte ich schüchtern.
Sie sah mich scharf an. »Ach so,« sagte sie nach kurzem Besinnen, »Du hast's ja heute nacht mit angehört – nun, da magst du's wissen, sie hat so viel Jammer über deine Großmutter gebracht, wie es eben nur eine ungeratene Tochter kann.«
»Ach, meine Vater hat eine Schwester?« rief ich überrascht.
»Eine Stiefschwester, Kind ... Deine Großmutter war zuerst an einen Juden verheiratet, der ist jung verstorben – die Christine hat dazumal noch in den Windeln gelegen. Nach zwei Jahren hat die Großmutter sich und das Kind taufen lassen und ist Frau Rätin von Sassen geworden – nun weißt du alles –«
»Nein, Ilse, noch nicht alles – was hat die Christine verbrochen?«
»Sie ist heimlich entwischt und unter die Komödianten gegangen –«
»Ist das so schlimm?«
»Das Durchbrennen freilich – das solltest du doch selber wissen – was aber die Komödianten betrifft, da kenne ich keinen Einzigen und kann nicht sagen, ob sie schlimm oder recht sind. – Bist du nun fertig?«
»Ilse, sei nicht böse,« sagte ich zögernd, »aber eines möchte ich dir noch sagen – diese Christine ist doch sehr unglücklich, sie hat ihre Stimme verloren.« –
»So – du hast den Brief gefunden und ihn gelesen, Leonore?« fragte sie in ihrem eisigsten Tone.
Ich nickte stumm mit dem Kopfe.
»Und du schämst dich nicht?« schalt sie. »Mir machst du Vorwürfe, weil ich in den schweren Stunden meine Pflicht und Schuldigkeit thue, und in dem gleichen Moment guckst du in fremde Briefe, die dich auf der Gotteswelt nichts angehen! – Das ist so gut wie Diebstahl – weißt du das? ... Uebrigens glaube ich kein Wort von dem ganzen geschriebenen Zeug; und damit gib dich zufrieden!«
»Nein, das kann ich nicht! ... Sie dauert mich! Wirst du ihr wirklich nichts schicken? ... Ach, Ilse, ich bitte dich –«
»Nicht einen Pfennig! ... Die hat mehr als ihr Erbteil vornweg genommen in der Nacht, wo sie heimlich aus dem Hause gegangen ist – das hat auch in dem armen Kopf da drinnen gewühlt –«
»Meine Großmutter hat ihr verziehen, Ilse –«
»Ich müßte das erst lernen! Das kann wohl eine Mutter, noch dazu, wenn sie schon fast nicht mehr auf der Erde ist; aber unsereinem, der das Elend jahrelang mit angesehen und redlich mitgetragen hat, dem wird's schon saurer ... Gelt, nimmst alles für bare Münze, was in dem Briefe steht? ... Ja, ja, auf den Knieen kömmt sie gerutscht, aber nicht etwa, weil sie Verzeihung will – Gott bewahre! – ohne die hat sie lange Jahre draußen gelebt, und ist es recht gut gegangen – Geld will sie! ... Das liebe Geld! Darum ist's freilich der Mühe wert, auf die Kniee zu fallen!«
Wie tief mußte ihr dies alles gehen, daß sie so heftig und bitter und so anhaltend sprach, die schweigsame Ilse.
»Kannst bei der Gelegenheit auch erfahren, weshalb deine Großmutter das Geldgeklapper nicht hören konnte,« fuhr sie, tief Atem schöpfend, fort. »Es kann dir nicht schaden, wenn du erfährst, wieviel Unglück oft an solchen leidigen Thalern hängt, wie du sie gestern zum erstenmal in deinem Leben gesehen hast ... Deine Großmutter ist die reichste Frau in Hannover gewesen – ihr erster Mann hat ihr volle Kisten und Kasten hinterlassen ... Nachher bei der zweiten Heirat – sie mochte den Mann eben zu gut leiden – da hat sie die größten Opfer gebracht, ihren Glauben hat sie hingegeben; den durfte sie ja nicht mitbringen – mit dem jüdischen Geld nimmt man's nicht so genau. Es hat auch gar nicht lange gedauert, da ist's ihr klar geworden, daß es dem Zweiten nicht im geringsten um ihre Liebe zu thun gewesen ist – ihre Kapitalien aber sind mit der Zeit nur so nach allen vier Winden verflogen – der hat's verstanden!«
»Das war mein Großvater, Ilse?«
Das prächtige Karminrot erschien plötzlich in seiner ganzen früheren Glut auf Ilses Backenknochen.
»Siehst du, da lässest du einem keine Ruhe und fragst das Blaue vom Himmel herunter, und nachher kommen solche Dinge zum Vorschein!« schalt sie ärgerlich und stand auf. »Aber das sage ich dir, mit der Christine kömmst du mir nicht wieder – die ist tot für mich, das merke dir, Kind ... Brauchst auch gar nicht mehr an die Verlogene zu denken – das sind Dinge, die nicht in deinen jungen Kopf passen!«
Sie schob Heinz, der sich demütig und schweigend auf einen Stuhl gesetzt hatte, eine Tasse hin und schenkte ihm Kaffee ein; aber einen Blick erhielt er noch nicht. Dann ging sie wieder hinaus an den Brunnen. Ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiß, als sie den Schwengel hob, aber das mußte ja sein! Der Wasserstrom schoß unermüdlich nieder, bis der Eimer gefüllt war.
Nein, und wenn Ilse auch immer das Richtige traf, darin konnte ich ihr doch nicht folgen. Denken mußte ich an die unglückliche Sängerin! Sie war ja meine Tante! Meine Tante! Das klang süß und wohlthuend, aber doch viel zu gesetzt für das reizende Gebild, das mir vorschwebte ... Und doch – sie war älter als mein Vater, älter als zweiundvierzig Jahre – hu, wie entsetzlich alt! ... Aber das half doch alles nichts, meine Phantasie blieb geschäftig, die interessante Gestalt auszuschmücken – sie war ja eine Sängerin ...
Ich flüchtete mit meinem übervollen Herzen hinüber auf den einsamen Hügel und starrte mit schmerzenden Augen in den schönen blauen Himmel ... Ob sie mich wohl sah, meine liebe Großmutter, wie ich traurig dasaß? Sie war ganz gewiß nicht böse, daß ich an Christine dachte – sie hatte ihr ja verziehen! ...
8.
Der einsame Dierkhof hatte just seine schönste Zeit; er lag mitten in einem pfirsichfarbenen Bett – die Heide fing an zu blühen, und die Bienenschwärme, die bis dahin auf den goldenen Rübsamenfeldern und in der Buchweizenblüte geschwelgt hatten, breiteten sich nun wonnetrunken über den unabsehbaren, honigtriefenden Flächen aus ... Nun summte sie wieder bestrickend und einlullend um das traute Dach, die uralte eintönige Heidemelodie! Aus den Lüften taumelten meine Lieblinge, die blauen Schmetterlinge, so massenhaft nieder, als sei der strahlende Sommerhimmel droben in Stückchen zerflattert; über die Sandblößen schlüpften goldflimmernde Laufkäfer, und an den Wiesen- und Gartenblumen hingen Perlmuttervögel, der prächtige Admiral und das Pfauenauge.
Sonst war ich den Schmetterlingen nachgelaufen, hatte sie eingefangen, mich ergötzt an dem wunderbaren Farbenspiel der Flügel, und sie dann wieder davonfliegen lassen – so hatte ich oft halbe Tage lang die Heide durchschwärmt; das war jetzt anders geworden. Ich hielt mich viel im Zimmer meiner Großmutter auf, das mit seinen altertümlichen, aus dem Judenhause stammenden Möbeln einen geheimnisvollen Reiz auf mich ausübte. Es lag und stand da alles an seinem alten Platze, nicht ein Gerät war verrückt worden, die große Uhr wurde wieder pünktlich aufgezogen, und damit nichts fehle, was den Glauben erwecken konnte, die Verstorbene walte noch in dem Raume, hatte Ilse die niedergebrannten Kerzen auf dem Silberleuchter durch neue ersetzt.
Sie schloß mir auch da und dort eine Truhe oder ein Spind auf: die Fächer waren meist leer – meine Großmutter hatte bei ihrer Flucht aus der Welt allen Ballast von sich geworfen. Dafür war mir aber auch jedes beschriebene Papierblättchen, jeder zerstäubende Blumenrest ein interessanter Fund.
In einem Schranke hingen auch noch verschiedene Kleidungsstücke, die meine Großmutter aber nie in der Heide getragen hatte. Eines Tages nahm Ilse ein schwarzes, wollenes Kleid aus dem Schranke, zertrennte es und fing an, zuzuschneiden – sie hatte in der Stadt schneidern gelernt, und das war ihr Stolz ... Ich war sehr erschrocken, als sie mich aufforderte, zur Anprobe in das Werk ihrer Hände zu schlüpfen – das Ding sah aus wie ein Küraß.
»Ilse, nur das nicht,« protestierte ich schaudernd und zerrte ängstlich an dem pressenden Halsausschnitt, der mir dicht an der Kehle saß, und mein Ellbogen gab sich insgeheim alle Mühe, die enge, drückende Aermelnaht zu zersprengen.
»Ei was – wirst dich schon dran gewöhnen!« sagte sie kaltblütig und schneiderte weiter.
Wir saßen im Baumhof unter den Eichen, wohin ich einen Tisch und Stühle getragen hatte. Draußen über der Ebene brütete die flimmernde Nachmittagssonnenhitze; aber hier war es schattig kühl und still; nur die Bienen summten, und droben im Nest schrieen die jungen Elstern. Ich hatte den übergroßen, runden, braunen Strohhut unter den Händen, den mir Ilse vor circa fünf Sommern aus der Stadt hatte kommen lassen, und trennte auf ihr Geheiß das Rosaband herunter, das die Wonne meiner Augen gewesen war.
Da kam Heinz aus dem nächsten Dorfe zurück und legte einen Brief vor Ilse hin.
Mein Vater hatte auf die ihm telegraphisch mitgeteilte Nachricht vom Ableben meiner Großmutter hin geschrieben und sein Nichterscheinen bei der Beerdigung mit ernstlichem Kranksein entschuldigt. Seitdem war die Korrespondenz zwischen ihm und Ilse eine ziemlich lebhafte geworden; um was es sich handelte, wußte ich nicht, ich bekam keine Zeile zu sehen; aber so viel war mir bekannt, daß zwischen Ilses letztem Schreiben und der Antwort meines Vaters, die sie da eben vor meinen Augen überlas, kaum fünf Tage lagen.
»Nichts da!« sagte sie und steckte den Brief in die Tasche. »Uebermorgen reisen wir – dabei bleibt's!«
Hut und Schere fielen mir aus den Händen.
»Reisen wir!« wiederholte ich mit stockendem Atem. »Du willst mit Heinz fort? ... Ihr wollt mich mutterseelenallein auf dem Dierkhofe lassen?«
»O je, da wär' er gut aufgehoben, der arme Dierkhof!« rief sie, und zum erstenmal wieder seit dem Tode meiner Großmutter flog ein schwaches Lächeln über ihre Züge. »Närrisches Ding, du sollst fort!«
Ich stand auf und warf meinen Stuhl so heftig zurück, daß er polternd hinten über fiel.
»Ich? – wohin denn?« stieß ich hervor.
»In die Stadt,« lautete die lakonische Antwort.
Das ganze sonnige Heideland draußen und die urkräftigen, rauschenden Eichen über mir versanken – die entsetzliche, dunkle Hinterstube umfing mich, und ich sah in das feuchte, karge Gärtchen inmitten der vier grünangelaufenen Häuserwände.
»Und was soll ich in der Stadt?« preßte ich heraus.
»Lernen. –«
»Ich gehe nicht mit, Ilse, darauf kannst du dich verlassen!« erklärte ich entschieden, während ich mit den bitteren, heißen Thränen rang. »Mache mit mir, was du willst – aber du sollst sehen, ich klammere mich in der letzten Stunde draußen am Hausthorpfosten an ... Ob du das Herz hast, mich fortzuschleppen?« Ich schüttelte Heinz, der wie eine Bildsäule mit offenem Munde dastand, verzweiflungsvoll am Aermel. »Hörst du denn nicht – fort soll ich! ... Wirst du das leiden, Heinz!«
»Ist's denn wirklich wahr, Ilse?« fragte er beklommen und faltete die ungeschlachten Hände ineinander.
»Nun sehe mir einer die zwei Kinder hier an – thun sie doch wirklich, als sollte der Kleinen der Hals abgeschnitten werden!« schalt sie, aber ich sah recht gut, daß ihr gar nicht wohl zu Mute war bei meiner ausbrechenden Heftigkeit. »Meinst du denn, es kann das ganze Leben lang so fortgehen, Heinz, daß das Kind wie ein Heide den ganzen lieben Tag über draußen herumtobt und mir Abends barfuß, mit Schuhen und Strümpfen in der Hand, heimkommt? ... Sie kann nichts und versteht nichts und läuft fort wie eine wilde Katze, wenn ihr ein fremdes Gesicht über den Weg geht! ... Wo soll's endlich hinaus? ... Das ist immer mein stiller Kummer gewesen, und ich hab' manchmal vor Angst nicht einschlafen können; aber so lange die Großmutter lebte, konnte ich nicht fort – das ist vorbei, und nun halten mich keine zehn Pferde mehr! Sei vernünftig, Kind!« sagte sie zu mir und zog mich wie ein kleines Kind auf ihre Kniee. »Ich bringe dich zu deinem Vater – nur zwei Jahre bleibe draußen und lerne was Rechtes, und wenn es dir durchaus nicht gefallen will, so kommst du wieder heim auf den Dierkhof, und nachher bleiben wir zusammen, gelt?«
Zwei Jahre! Das war ja eine ganze Ewigkeit! ... Zweimal sollte die Heide blühen, sollten die Störche fortziehen und wiederkommen, und ich war nicht auf dem Dierkhof; ich steckte zwischen vier dumpfen Wänden und knebelte am verhaßten Strickstrumpf, oder mußte wohl gar Schreibübungen halten und neue Bibelsprüche auswendig lernen! ... Ich schauderte und schüttelte mich, und jede Fiber in mir stählte sich zum Aufruhr und energischem Widerstand.
»Ilse, da lasse mich nur gleich drüben auf dem Gottesacker einscharren!« sagte ich trotzig. »In die entsetzliche Hinterstube bringst du mich nicht –«
»Dummes Zeug!« unterbrach sie mich. »Glaubst du denn, dein Vater kann sie im Koffer mitnehmen? ... Er ist ja fortgezogen, und Vieles ist anders geworden – nun wohnt er ja in K.«
Husch, da war der braune Lockenkopf mit der blendend weißen Stirn wieder und sah mich mit spöttischen Augen an – er kam immer so unversehens und erschreckte mich jedesmal so heftig, daß mir das Blut heiß nach den Schläfen schoß!
»Mein Vater will mich ja nicht!« sagte ich und steckte das Gesicht in Ilses Halstuch.
»Das wollen wir sehen!« versetzte sie mit einem schlecht unterdrückten Seufzer; aber sie warf herausfordernd den Kopf zurück und schob mich von sich.
»Muß es wirklich sein? ... Ach, Ilse –«
»Es muß sein, Kind! ... Und nun sei still und mache mir das Leben nicht schwer! Denke an deine Großmutter – die hat's auch so gewollt!«
Sie nähte mit verdoppeltem Eifer den zweiten Aermel in das schwarze Kleid; Heinz aber schob die kaltgewordene Pfeife in die Tasche und schlich fort. Gegen Abend sah ich ihn drüben auf dem großen Hünenbett sitzen; er hatte die Arme um die Kniee gelegt und sah unverwandt hinaus ins Weite ... Ich lief hinüber und setzte mich zu ihm, und nun flossen die Thränen unaufhaltsam, die sich in Ilses strenger Gegenwart nicht hervorgewagt hatten. Ein so tiefes Trennungsweh hatte das blaue Stück Himmel über uns wohl lange nicht gesehen!
Am andern Tage sah die Wohnstube schrecklich aus. Eine große hölzerne Truhe stand auf den Dielen, und Ilse packte ein.
»Da sieh her!« sagte sie und hielt mir ein Paket grober, buntgewürfelter Bettüberzüge hin. »Ist das nicht eine wahre Pracht! ... Ja, da ist Kern drin! ... Das Spinnwebenzeug, in dem die Großmutter schlief, ist mir von jeher ein Greuel gewesen!«
Sie schob einen Stoß außerordentlich feinen, mit Stickerei besetzten Leinenzeugs verächtlich auf die Seite. »Die neuen Ueberzüge bekommst du mit; die habe ich nach und nach für den Haushalt angeschafft, seit wir auf dem Dierkhof sind – halte sie ordentlich!«
Auch ein ganzes Regiment jener steifen, unförmlichen Strümpfe aus Heidschnuckenwolle wanderten in den Koffer und füllten einen beträchtlichen Raum. Ilse hatte jahrelang beträchtliche Vorräte für mich aufgespeichert, die nun draußen in der Welt »Staat machen« sollten ... Dann wurden kolossale strotzende Federbetten zu einem Ballen geknetet und in Sackzeug eingenäht – ein riesiges Frachtstück!
Mir verursachten alle diese Vorbereitungen entsetzliches Herzweh, und doch gab es Augenblicke, wo meine junge Seele plötzlich schwoll, wo es über sie kam wie ein frohes Ahnen, eine schöne Hoffnung; aber das erschien und erlosch wie der Blitz, und – seltsame Gedankenverbindung – mein Blick huschte jedesmal scheu und prüfend über meine Schuhe hin. Sie waren jetzt recht hübsch ausgetreten und gewährten meinen Füßen in liberalster Weise Spielraum. Ich trat so stark auf, als ich vermochte, und suchte mein ängstliches Herz mit der unumstößlichen Gewißheit zu beruhigen, daß die Nägel doch bei Weitem nicht mehr so entsetzlich klapperten wie vor vier Wochen. Aber das half nicht immer, und so verstieg ich mich denn einmal in meiner Bedrängnis zu der schüchternen Bitte, Ilse möchte mir unterwegs ein Paar neue Schuhe kaufen. Aber da kam ich schön an. Sie zog mir einen Schuh aus und hielt ihn gegen das Licht.
»Solche Nähte und solche Sohlen, die kann man suchen!« sagte sie. »Das sind Schuhe, in denen du noch nach zwei Jahren zum Tanze gehen kannst! ... Brauchst keine neuen!«
Damit war die Sache erledigt.
Und er kam wirklich, der Morgen, da ich meinen geliebten Dierkhof verlassen sollte ... Früh vor vier Uhr lief ich schon durch die tautriefende Heide. Ich winkte mit ausgebreiteten Armen über die Millionen blütenbeschwerter Erikastengel hin und nach dem qualmenden Torfsumpf hinüber, und schüttelte die gute, alte Föhre im Abschiedsschmerz so heftig, daß die letzten dürren Nadeln vom vergangenen Winter auf mein flatterndes Haar herabrieselten ... Spitz war mitgelaufen und bellte und freute sich wie närrisch – er hielt alle meine heftigen Bewegungen für eitel Spaß und Kurzweil, die ich ihm machen wolle. Ich flocht einen bunten Kranz und legte ihn auf Miekes Hörner, die schlaftrunken aufblinzelte und zu bequem war, um mir auch nur mit einem leisen Brummen zu danken oder Adieu zu sagen.