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»Sieh nach der Entfernung, O'Brien«, sagte Robinson.
Man maß und fand sie dreizehn Meilen.
»Nur dreizehn Meilen; wenn wir herumkommen, haben wir gewonnen; denn die Bai ist weiter draußen tief, 's ist eine Felsenspitze, wie ihr gerade bei der Abweichung seht. Nun, meine Jungen, ich habe immerhin noch eine Art Trost für euch. Ihr werdet nicht lang im Ungewissen sein: denn um ein Uhr Mittags werdet ihr entweder einander wegen eures guten Glücks gratulieren, oder es wird Matthäus am letzten sein. Kommt, rollt die Karte auf, ich hasse den melancholischen Anblick; Proviantmeister, seht, was Ihr zur Stärkung finden könnt.«
Etwas Brot und Käse mit den Überresten des gekochten Schweinefleisches von gestern wurde aufgetischt nebst einer Flasche Rum, eigens dazu aufbewahrt, »einen auf die Lampe zu gießen«; allein wir fühlten uns nicht sehr zum Essen aufgelegt; einer nach dem andern kehrte aufs Verdeck zurück, um nach dem Wetter zu sehen, und ob der Wind uns günstig sei. Auf dem Verdecke besprachen sich die höheren Offiziere mit dem Kapitän, der dieselbe Besorgnis ausgedrückt hatte, welche O'Brien in der Kajütte äußerte. Die Matrosen, welche wohl wußten, was sie zu erwarten hatten, traten haufenweise zusammen, ernsten Blickes, ohne jedoch die Zuversicht zu verlieren. Sie wußten, daß sie auf den Kapitän vertrauen konnten, soweit als Einsicht und Mut ihnen helfen konnte, und Seeleute sind zu sanguinisch, um selbst im letzten Augenblicke zu verzweifeln. Was mich betrifft, so fühlte ich nach dem, wovon ich diesen Morgen Zeuge gewesen, solche Bewunderung für den Kapitän, daß, als mich der Gedanke beschlich, ich werde sehr wahrscheinlich in einigen Stunden verloren sein, ich mir trotzdem eingestehen mußte, der Verlust eines solchen Mannes sei für sein Vaterland viel trauriger. Ich will damit nicht sagen, daß mich dieser Gedanke tröstete, aber er trug gewiß dazu bei, daß ich das Unglück, womit wir bedroht waren, noch mehr bedauerte.
Vor dem Schlag zwölf Uhr war die Felsenspitze, welche wir so sehr fürchteten, breit auf der Leeseite sichtbar; wenn nun schon die niedrige Sandküste furchtbar erschien, um wie viel mehr diese, selbst in der Entfernung! Schwarze Felsmassen waren mit Schaum bedeckt, welcher jede Minute höher spritzte als die Spitzen unserer niedrigen Masten. Der Kapitän betrachtete einige Minuten in stillschweigender Überlegung dieses Schauspiel.
»Herr Falkon,« sagte er endlich, »wir müssen das Hauptsegel aufziehen.«
»Die Fregatte kann es nicht tragen, Sir.«
»Sie muß es tragen,« war die Antwort. »Schicken Sie die Mannschaft nach hinten zu dem großen Segel, und sehen Sie, daß die Leute die Bauchgurten sorgfältig bedienen.«
Das Hauptsegel wurde aufgezogen, und die Wirkung desselben auf das Schiff war furchtbar. Es legte sich so sehr über, daß seine Leerusten unter Wasser gingen; wenn eine Woge darauf fiel, wurde die Leeseite des Hinterdecks und der Gang überflutet. Das Schiff gemahnte mich an ein feuriges Roß, welches durch den angelegten Sporn wild geworden ist; es erhob sich nicht wie früher, sondern erzwang sich seinen Weg mitten durch die Wogen, und zerteilte die Wellen, welche in beständigem Strom vom Vorderkastell auf das Verdeck herabstürzten. Vier Männer wurden an das Rad befestigt, die Matrosen mußten sich anklammern, um nicht weggeschwemmt zu werden, die Taue wurden in Verwirrung leewärts geschleudert. – Die Kugeln rollten aus ihren Behältern hervor, und aller Augen waren auf die Masten geheftet, welche jeden Augenblick über Bord geworfen werden konnten. Eine schwere Welle legte uns auf die Batterieseite. Es stand einige Minuten an, bis das Schiff sich wieder zu erholen schien; es schwankte, zitterte, und hielt seinen Lauf inne, als ob es betäubt wäre. Der erste Leutnant sah den Kapitän an, als ob er sagen wollte: das wird nicht gehen.
»Es ist unser einziges Rettungsmittel,« antwortete der Kapitän auf die Mahnung.
Daß das Schiff schneller durch das Wasser ging, und einen besseren Wind hielt, war gewiß, aber gerade, bevor wir an die Spitze kamen, nahm die Gewalt des Sturmes zu.
»Wenn etwas bricht, sind wir verloren, Sir,« bemerkte der erste Leutnant wieder.
»Ich bin vollkommen davon überzeugt,« erwiderte der Kapitän in ruhigem Tone, »aber wie ich vorhin sagte, und Sie nun einsehen müssen, es ist unsere einzige Rettung. Die Folge einer Sorglosigkeit oder Nachlässigkeit beim Ansetzen und Befestigen des Takelwerks wird sich nun fühlbar machen, und wenn wir aus dieser Gefahr entrinnen, dürfen wir nie vergessen, wie viel wir zu verantworten haben, wenn wir unseren Dienst vernachlässigen. Das Leben einer ganzen Schiffsmannschaft kann durch die Nachlässigkeit oder Unfähigkeit eines Offiziers im Hafen geopfert werden. Ich muß Ihnen das Kompliment machen, Falkon, daß ich überzeugt bin, die Masten des Schiffes sind so fest, als Einsicht und Sorgfalt sie nur machen konnten.«
Der erste Leutnant dankte dem Kapitän für seine gute Meinung, und hoffte, es werde nicht das letzte Kompliment sein.
»Ich hoffe auch nicht, aber in ein paar Minuten wird es entschieden sein.«
Das Schiff war nun nur noch zwei Kabellängen von der Felsenspitze entfernt. Ich bemerkte einige Matrosen, welche ihre Hände zusammenschlugen, aber die meisten legten stillschweigend ihre Jacken ab und zogen ihre Schuhe aus, um keine Gelegenheit zur Rettung zu verlieren, im Falle das Schiff stranden sollte.
»Es wird scheitern und untergehen, Falkon,« bemerkte der Kapitän (ich hatte mich nämlich in der letzten halben Stunde, seitdem das große Segel aufgezogen war, nahe bei ihnen, an die Hebehölzer angeklammert). »Kommen Sie, Sie und ich müssen das Steuer führen – wir werden dort unsere Kraft brauchen, und für jetzt nur dort.«
Der Kapitän und der erste Leutnant gingen nach hinten, nahmen die Vorderspeichen des Rades, und O'Brien faßte auf ein vom Kapitän gegebenes Zeichen die Hinterspeichen. Ein alter Quartiermeister nahm als der vierte seinen Posten ein. Das Brausen der Wellen an den Felsen, verbunden mit dem Heulen des Windes, war furchtbar, allein der Anblick war noch schrecklicher als das Getöse. Einige Minuten schloß ich meine Augen, doch die Angst zwang mich, sie wieder zu öffnen. So viel ich beurteilen konnte, waren wir noch zwanzig Ellen von den Felsen entfernt, als das Schiff nahe an ihnen vorbeifuhr. Wir befanden uns mitten im Schaume, welcher uns rings bespritzte, und als das Schiff dem Riffe näher getrieben wurde, und durch den Andrang einer Woge sich umlegte, kam es mir vor, unsere große Nocke müsse den Felsen berührt haben. In diesem Momente erhob sich ein Windstoß, welcher das Schiff auf die Seite legte, und seinen Lauf durchs Wasser hemmte, während das erhöhte Getöse betäubend war. Das Schiff trieb einige Minuten weiter dahin; da fiel eine andere Woge über dasselbe her, und brach sich an den Felsen, während der Schaum von ihnen zurückspritzte und auf das Verdeck herabfiel. Der vorderste Felsen war etwa zehn Ellen von seinem Buge entfernt, als ein anderer Windstoß uns auf die Seite warf; das Vordersegel und das große Segel zerrissen und wurden aus ihren Leiken geworfen, das Schiff richtete sich vorne und hinten zitternd wieder auf. Ich blickte nach hinten – die Felsen lagen windwärts an unserem Hinterdecke, und wir waren in Sicherheit. Ich dachte damals, das von seiner Anstrengung befreite und wieder auf den Wogen dahin hüpfende Schiff wäre kein übles Gleichnis von der Erleichterung, welche wir alle in diesem Augenblicke empfanden, denn wie jenes zitterten wir mit klopfendem Herzen, infolge der plötzlichen Rückwirkung, und fühlten das Weichen der beklemmenden Ängstlichkeit, welche auf unserer Brust lastete.
Der Kapitän verließ das Steuer und ging nach hinten, um die Spitze zu betrachten, welche nun deutlich an der Wetterseite lag. Nach ein paar Minuten befahl er Herrn Falkon, neue Segel ansetzen und aufbinden zu lassen, und dann gingen wir in seine Kajütte hinab. Ich bin überzeugt, er dankte Gott für unsere Befreiung; ich that es auch mit inbrünstigem Gebete, nicht nur damals, sondern auch, als ich nachts in meine Hängematte stieg. Wir waren nun vergleichungsweise sicher; in einigen Minuten vollkommen, denn sonderbar – sogleich, nachdem wir die Felsen umsegelt hatten, ließ der Sturm nach, und ehe der Morgen anbrach, hatten wir schon ein Reff aus den Topsegeln. Ich war auf meiner Nachmittagswache, und da ich Herrn Chucks auf dem Vorderkastell wußte, so begab ich mich zu ihm und fragte ihn, was er davon denke.
»Was ich davon denke, Sir,« versetzte er, »wie ich immer übles davon denke, wenn die Elemente mein Pfeifen nicht hören lassen, und ich halte das nicht gerade für günstige Wetterchancen. Ich kümmere mich wenig darum, wenn es gilt, sich in eigener Person anzustrengen, aber wie ist es einer Schiffsmannschaft möglich, ihre Schuldigkeit zu thun, wenn sie die Bootsmannspfeife nicht hören kann? Doch, Gott sei gedankt, und möge er uns alle zu besseren Christen machen! Aber der Zimmermann ist verrückt; gerade bevor wir die Spitze umsegelten, sagte er mir, es seien nun just siebenundzwanzigtausend sechshundert und etliche Jahre seither. Ich glaube, er wird auf seinem Totenbette (und gestern war ihm ein sehr hartes nicht gerade ferne) uns erzählen, wie er vor so vielen tausend Jahren an der nämlichen Krankheit starb. Und unser Feuerwerker ist auch ein Narr. Können Sie es glauben, Herr Simpel, er ging weinend auf dem Verdecke herum: ›O meine Kanonen, was wird aus ihnen werden, wenn sie losbrechen.‹ Es schien ihm von gar keiner Bedeutung, ob das Schiff mit seiner Mannschaft zu Grunde ging, wenn nur seine Kanonen glücklich an den Strand gebracht würden. ›Herr Dispart,‹ sagte ich endlich, ›erlauben Sie mir, auf die zarteste Weise von der Welt zu bemerken, daß Sie ein verdammt alter Narr sind.‹ Sie sehen, Herr Simpel, es ist die Pflicht eines Offiziers, das Allgemeine im Auge zu behalten, und dem Einzelnen nur insofern Aufmerksamkeit zu schenken, als es die Sicherheit des Ganzen erfordert. Ich schaue nach meinen Ankern und Tauen, so wie nach dem Takelwerk, nicht als ob ich sie besonders lieb hätte, sondern weil die Sicherheit eines Schiffes von ihrem guten Zustand abhängt. Ich hätte gerade so gut weinen können, weil wir gestern Morgen einen Anker und ein Tau opferten, um das Schiff vom Stranden zu retten.«
»Sehr wahr, Herr Chucks,« erwiderte ich.
»Privatgefühle,« fuhr er fort, »müssen immer dem öffentlichen Dienste aufgeopfert werden. Wie Sie wissen, das untere Verdeck war voll Wasser, und in unseren Kajütten schwammen die Koffer umher, doch damals dachte ich nicht an meine Hemden; aber nun sehen Sie dieselben an, wie sie in der vorderen Takelung aufgehängt sind, ohne ein bischen Stärke in den Krägen oder Krausen. Ich werde die ganze Fahrt durch nicht imstande sein, zu erscheinen wie es einem Offizier geziemt.«
Während er so sprach, ging der Küfer an ihm vorbei und stieß ihn an.
»Bitte um Verzeihung, Sir,« sagte der Mann, »das Schiff hat sich geneigt.«
»Hat sich geneigt, wirklich?« versetzte der Bootsmann, welcher, wie ich vermute, wegen seiner Garderobe nicht in der besten Laune war. »Verzeiht, Herr Küfer, wozu hat der Himmel Euch zwei Beine beschert nebst Gelenken an den Knieen, als um es Euch möglich zu machen, der horizontalen Abweichung zu begegnen. Glaubt Ihr, sie seien zu nichts bestimmt, als ein Faß fortzurollen? Hört, Sir, hieltet Ihr mich für einen Pfosten, um daran Eure Sauhaut zu reiben? Erlaubt mir, Euch gerade zu bemerken, Herr Küfer, nur so anzudeuten, daß, wenn Ihr an einem Offizier vorbeigeht, es Eure Pflicht ist, Euch in ehrfurchtsvoller Entfernung zu halten, und nicht seine Kleider mit Eurer eisenrostigen Jacke zu besudeln. Versteht Ihr mich, Sir, oder soll Euch dies in Zukunft ins Gedächtnis rufen?«
Der Rohrstock erhob sich und fiel mit einem Hagel von Schlägen herab, bis der Küfer durch die Vorderluke entwischte.
»Da nimm dies, Du schmutziger Faßklopfer, Du bohrerführender Ausbund von einer Mistpfütze! Ich bitte um Verzeihung, Herr Simpel, daß ich die Unterhaltung unterbrach, allein wenn die Pflicht ruft, müssen wir gehorchen.«
»Allerdings, Herr Chucks, man läutet soeben Glock sieben, und ich muß es dem Schiffsmeister melden. Also guten Tag.«


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