Die Wiederaufnahme in Strafsachen

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Dr. Klaus Marxen
Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin
Richter am Kammergericht Berlin i. R.
und
Dr. Frank Tiemann
Vorsitzender Richter am Landgericht Potsdam
Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin
3., neu bearbeitete Auflage

eine Marke der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH
www.cfmueller.de
Die Wiederaufnahme in Strafsachen › Herausgeber
Praxis der Strafverteidigung Begründet von Rechtsanwalt Dr. Josef Augstein (†), Hannover (bis 1984) Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke, Passau Prof. Dr. Hans-Ludwig Schreiber, Göttingen (bis 2008) Herausgegeben von Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke, Passau Rechtsanwalt Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor, Berlin Schriftleitung Rechtsanwalt[1] Dr. Felix Ruhmannseder, WienAnmerkungen
[1]
RAK OLG-Bezirk München
Impressum
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ISBN 978-3-8114-5465-1
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Vorwort der Herausgeber
Anliegen des Wiederaufnahmerechts ist es, einen angemessenen Ausgleich zwischen materieller Gerechtigkeit einerseits und Rechtssicherheit andererseits herbeizuführen. Die in den §§ 359 ff. StPO verwirklichte, gesetzgeberische Konzeption misst dabei Aspekten der Rechtssicherheit tendenziell höheres Gewicht bei, indem einer Korrektur rechtskräftiger Fehlurteile enge Grenzen gesetzt werden. Hinzu kommt eine äußerst restriktive Auslegung der einschlägigen Vorschriften durch die Rechtsprechung. Beides stieß in jüngerer Vergangenheit aus Anlass spektakulärer, medienwirksamer Fälle – wie etwa dem von Gustl Mollath – auch jenseits der Fachöffentlichkeit vermehrt auf Kritik. Gleichwohl ist ein Tätigwerden des Gesetzgebers derzeit ebenso wenig in Sicht wie eine wachsende Bereitschaft der Rechtsprechung, eigene Fehler trotz bereits eingetretener Rechtskraft zu korrigieren. Nach wie vor befindet sich daher der Verurteilte, der eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu seinen Gunsten anstrebt, in einer ungünstigen Ausgangslage. Sein Verteidiger wird deshalb sein gesamtes anwaltliches Können in die Waagschale werfen müssen, um die Beachtung der rechtsstaatlichen Garantien zu gewährleisten, die der Beschuldigte auch in diesem Verfahrensabschnitt beanspruchen kann. Bei der Mehrzahl der Verteidiger gehört das Wiederaufnahmerecht indes nicht zum täglich Brot. Hinzu kommt die erhebliche Komplexität der Materie. Ohne sachkundige Anleitung wird eine erfolgversprechende anwaltliche Vertretung des Verurteilten daher in der Regel nicht gelingen. Dem trägt das vorliegende Werk Rechnung. In bewährter Manier bieten die Autoren Marxen und Tiemann dem Leser eine systematische, problemorientiere Darstellung des gesamten Wiederaufnahmerechts und erteilen überdies wertvolle Praxishinweise, wobei sie auf ihre langjährige richterliche Erfahrung zurückgreifen können. Dabei beschränken sie sich nicht etwa auf eine bloße Wiedergabe des wiederaufnahmerechtlichen Status quo, sondern hinterfragen diesen kritisch, um auf diese Weise zu einer – zweifelsohne wünschenswerten – Veränderung der diesbezüglichen Rechtsanwendungspraxis beizutragen.
Acht Jahre nach Erscheinen der zweiten Auflage war eine Neuauflage dringend geboten, um die zahlreichen gerichtlichen Entscheidungen, die in den letzten Jahren im Bereich des Wiederaufnahmerechts ergangen sind, angemessen berücksichtigen zu können. Auch neuere, einschlägige Publikationen wurden von den Autoren selbstverständlich ausgewertet. Am Ende des Buches finden sich – ebenso wie in anderen Bänden der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ – Muster von Verteidigerschriftsätzen, welche nicht nur weniger erfahrenen Mitgliedern der Zunft die Arbeit erleichtern sollen.
Im November 2013
Passau Werner Beulke
Berlin Alexander Ignor
Vorwort der Autoren
Das Wiederaufnahmerecht hat in jüngster Zeit mit spektakulären Fällen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen. Auf heftige öffentliche Kritik ist die restriktive Praxis der Wiederaufnahmegerichte gestoßen. Mehrfach bedurfte es einer obergerichtlichen Korrektur. Bestätigt sehen wir uns dadurch in dem Anliegen, zu einer sachgerechten Anwendung des Wiederaufnahmerechts beizutragen. Der Sache gerecht wird eine Praxis, in der die Verfahrensbeteiligten mit den Besonderheiten dieses Rechtsgebiets vertraut sind und allseits ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass auch rechtskräftige strafrechtliche Entscheidungen, weil von Menschen gemacht, fehleranfällig sind. Dem entspricht die Konzeption dieses Buches, an der auch in der Neuauflage festgehalten wird. Eine eingehende Systematisierung soll einen Überblick verschaffen, das rasche Auffinden rechtlicher Probleme ermöglichen und die in der Praxis, gerade auch in der Praxis der Strafverteidigung, einzuhaltenden Arbeitsschritte kenntlich machen. Ferner wird durchgängig die restriktive Justizpraxis kritisch überprüft.
Für die Neuauflage sind die erforderlichen Aktualisierungen mit einem Schwerpunkt bei der Rechtsprechung vorgenommen worden. Der erheblichen Zunahme an Literatur, insbesondere an kommentierender Strafprozessrechtsliteratur, haben wir Rechnung getragen, soweit das im Rahmen einer auf das Wesentliche konzentrierten Darstellung möglich und angebracht war.
Berlin, im November 2013 Klaus Marxen Frank Tiemann
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Herausgeber
Vorwort der Autoren
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
A.Zur Praxis der Wiederaufnahme in Strafsachen und zugleich zur Konzeption des Buches
B.Einführung in das Recht der Wiederaufnahme in Strafsachen
Teil 1 Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags
A.Zulässigkeitsvoraussetzungen
I.Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen
1.Allgemeine Prozessvoraussetzungen
a)Antrag
b)Sonstige allgemeine Prozessvoraussetzungen
2.Statthaftigkeit
a)Rechtskräftige Urteile
aa)Vollrechtskräftige Sachurteile
bb)Prozessurteile, insbesondere Einstellungsurteile
cc)Teilrechtskräftige Urteile
b)Rechtskräftige Strafbefehle
c)Beschlüsse
3.Antragsberechtigung
4.Beschwer
5.Zuständigkeit des Gerichts
a)Örtliche Zuständigkeit
b)Sachliche Zuständigkeit
II.Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen
1.Wiederaufnahmeantrag zugunsten des Verurteilten
a)Zulässige Antragsziele
aa)Allgemein zulässige Antragsziele
(1)Freisprechung und vergleichbare Entscheidungen
(2)Strafmilderung
(3)Andere Maßregelentscheidung
bb)Speziell zulässiges Antragsziel in Fällen des § 359 Nr. 1 bis 4 und 6 StPO: Schuldspruchänderung
b)Form und Frist
c)Vorbringen eines Wiederaufnahmegrundes
aa)Allgemeine Anforderungen
(1)Geltendmachen eines gesetzlichen Wiederaufnahmegrundes
(a)Angabe eines gesetzlichen Wiederaufnahmegrundes
(b)Schlüssiger Sachvortrag
(2)Anführen eines geeigneten Beweismittels
(a)Beweismittel
(b)Geeignetheit
bb)Die Wiederaufnahmegründe nach § 359 StPO
(1)Unechte oder verfälschte Urkunden, Nr. 1
(a)Gesetzliche Voraussetzungen
(b)Schlüssiger Sachvortrag
(c)Geeignete Beweismittel
(2)Falsche Aussagen oder Gutachten, Nr. 2
(a)Gesetzliche Voraussetzungen
(b)Schlüssiger Sachvortrag
(c)Geeignete Beweismittel
(3)Strafbare Amtspflichtverletzung, Nr. 3
(a)Gesetzliche Voraussetzungen
(b)Schlüssiger Sachvortrag
(c)Geeignete Beweismittel
(4)Aufhebung eines zivilgerichtlichen Urteils, Nr. 4
(a)Gesetzliche Voraussetzungen
(b)Schlüssiger Sachvortrag
(c)Geeignete Beweismittel
(5)Neue Tatsachen oder Beweismittel, Nr. 5
(a)Gesetzliche Voraussetzungen
(aa)Tatsachen oder Beweismittel
(bb)Neuheit von Tatsachen oder Beweismitteln
(aaa)Neuheit von Tatsachen
(bbb)Neuheit von Beweismitteln
(cc)Geeignetheit
(aaa)Erheblichkeit
(bbb)Hinreichende Erfolgsaussicht
(b)Schlüssiger Sachvortrag und geeignete Beweismittel
(aa)Tatsachen
(bb)Beweismittel
(cc)Neuheit
(dd)Geeignetheit
(aaa)Erheblichkeit
(bbb)Hinreichende Erfolgsaussicht
(6)Festgestellte Verletzung der Menschenrechtskonvention, Nr. 6
(a)Bedeutung des § 359 Nr. 6 StPO
(b)Gesetzliche Voraussetzungen
(c)Schlüssiger Sachvortrag
(d)Geeignete Beweismittel
(e)Wiederaufnahmeverfahren und Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag
d)Kein Ausschluss nach § 364 StPO
e)Kein Verbrauch des Vorbringens
2.Wiederaufnahmeantrag zuungunsten des Angeklagten
a)Zulässige Antragsziele
b)Form und Frist
c)Vorbringen eines Wiederaufnahmegrundes
aa)Allgemeine Anforderungen
bb)Die Wiederaufnahmegründe nach § 362 StPO
(1)§ 362 Nr. 1 bis 3 StPO
(2)Geständnis des Freigesprochenen, Nr. 4
(a)Gesetzliche Voraussetzungen
(b)Schlüssiger Sachvortrag und geeignete Beweismittel
d)Kein Ausschluss nach § 364 StPO
e)Kein Verbrauch des Vorbringens
B.Zulässigkeitsverfahren
C.Entscheidungsmöglichkeiten des Wiederaufnahmegerichts
D.Rechtsbehelf und weitere Entscheidungen
Teil 2 Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags
A.Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes
B.Begründetheitsverfahren
I.Erforderlichkeit der Beweisaufnahme
II.Anordnung der Beweisaufnahme
III.Durchführung der Beweisaufnahme
IV.Schlussanhörung
C.Entscheidungsmöglichkeiten des Wiederaufnahmegerichts
I.Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags
II. Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens und Entscheidung über die Erneuerung der Hauptverhandlung
1.Wirkungen der Wiederaufnahmeanordnung
2.Erneuerung der Hauptverhandlung und weiteres Verfahren
a)Das für die neue Hauptverhandlung zuständige Gericht
b)Verfahren in der neuen Hauptverhandlung
c)Entscheidungsmöglichkeiten des neu erkennenden Gerichts
3.Entscheidung ohne neue Hauptverhandlung, § 371 Abs. 2 StPO
D.Rechtsbehelf und weitere Entscheidungen
Teil 3 Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags zugunsten des Verurteilten
A.Weitere Aufklärung des Sachverhalts
B.Antrag auf Bestellung eines Verteidigers
I.Antrag auf Bestellung eines Verteidigers für das Wiederaufnahmeverfahren, § 364a StPO
1.Voraussetzungen der Verteidigerbestellung
a)Fehlende Verteidigung
b)Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage
c)Keine offensichtliche Aussichtslosigkeit des Wiederaufnahmeantrags
d)Antragstellung
2.Entscheidung über den Antrag und Rechtsbehelf
II. Antrag auf Bestellung eines Verteidigers zur Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens, § 364b StPO
1.Voraussetzungen der Verteidigerbestellung
a)Fehlende Verteidigung
b)Erfolgsaussicht des Wiederaufnahmeantrags
c)Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage
d)Mittellosigkeit des Verurteilten
e)Antragstellung
2.Entscheidung über den Antrag und Rechtsbehelf
Teil 4 Vollstreckungsaufschub oder -unterbrechung
Teil 5 Besonderheiten der Wiederaufnahme zugunsten eines Verstorbenen
Teil 6 Besonderheiten der Wiederaufnahme nach § 79 Abs. 1 BVerfGG
A.Bedeutung des § 79 Abs. 1 BVerfGG
B.Zulässige Antragsziele
C.Gesetzliche Voraussetzungen des § 79 Abs. 1 BVerfGG
D.Schlüssiger Sachvortrag
E.Wiederaufnahmeverfahren und Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag
Teil 7 Besonderheiten der Wiederaufnahme in Bußgeldsachen
A.Anfechtbare Bußgeldentscheidungen
B.Antragsberechtigung
C.Zuständigkeit des Gerichts
D.Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten
E.Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen
F.Wiederaufnahmeverfahren, Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag und weiteres Verfahren
Teil 8 Entschädigung des Verurteilten nach erfolgreicher Wiederaufnahme
A.Der Entschädigungsanspruch
I.Voraussetzungen einer Entschädigung dem Grunde nach
II.Umfang des Entschädigungsanspruchs
B.Das Entschädigungsverfahren
I.Grundverfahren
II.Betragsverfahren
Teil 9 Muster von Verteidigerschriftsätzen
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Gesetzesstellen
1.Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
2.Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)
3.Bundeszentralregistergesetz (BZRG)
4.Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)
5.Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)
6.Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG)
7.Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG)
8.Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (RVG)
9.Grundgesetz (GG)
10.Jugendgerichtsgesetz (JGG)
11.Menschenrechtskonvention (MRK)
12.Rechtspflegergesetz (RPflG)
13.Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV)
14.Strafgesetzbuch (StGB)
15.Strafprozessordnung (StPO)
16.Strafvollstreckungsordnung (StVollstrO)
17.Strafvollzugsgesetz (StVollzG)
18.Zivilprozessordnung (ZPO)
19.Zuständigkeitsergänzungsgesetz (ZEG)
Stichwortverzeichnis
Einleitung
Einleitung › A. Zur Praxis der Wiederaufnahme in Strafsachen und zugleich zur Konzeption des Buches
A. Zur Praxis der Wiederaufnahme in Strafsachen und zugleich zur Konzeption des Buches
1
Die Praxis der Wiederaufnahme in Strafsachen ist höchst unbefriedigend. Es bedarf keiner aufwändigen empirischen Untersuchung, um wissen zu können, dass die Misserfolgsquote bei Wiederaufnahmeanträgen außerordentlich hoch ist. Die Auskunft ist von jedem Richter oder Staatsanwalt zu erhalten, der mit Wiederaufnahmesachen befasst ist. Sofern dieser sich vor Berufsblindheit hat bewahren können, wird er zugeben, dass keineswegs entsprechend selten rechtskräftige Fehlurteile in der strafrechtlichen Praxis vorkommen. Nur werden sie eben selten korrigiert.
2
Verantwortlich für den unbefriedigenden Zustand ist einmal eine gesetzliche Konzeption, die einer Korrektur rechtskräftiger Fehlurteile sehr enge Grenzen setzt.[1] Von erheblichem Gewicht sind aber auch Gründe, die die Praxis der Rechtsanwendung betreffen. So handhabt die justizielle Praxis die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts zumeist sehr restriktiv.[2] Ferner zeigt die richterliche Erfahrung, dass Strafverteidiger mit dem Wiederaufnahmerecht, das sich in wesentlichen Strukturelementen vom sonstigen Strafverfahrensrecht unterscheidet, oft nicht genügend vertraut sind.
3
Das Buch soll zu einer Veränderung der Rechtsanwendungspraxis beitragen. Es bietet eine betont systematische Darstellung des Wiederaufnahmerechts, was das Verständnis für die Besonderheiten dieses Gebietes fördern soll. Die Abfolge der gesetzlichen Vorschriften ist nämlich eher verwirrend. Daher leisten Kommentare auch nur begrenzt Hilfestellung. Zugleich ist eine kritische Überprüfung der restriktiven justiziellen Praxis beabsichtigt. Somit wendet sich das Buch nicht allein an Strafverteidiger, sondern auch an sonstige in Praxis und Theorie mit dem Wiederaufnahmeverfahren befasste Personen.
4
Soweit das Buch für Zwecke der Strafverteidigung benutzt wird, sollte Anleitungsliteratur zur Verteidigungstätigkeit im Ermittlungsverfahren ergänzend herangezogen werden. Denn die dort zu findenden praktischen Hinweise zur Informationsbeschaffung[3] sind weitgehend übertragbar auf das Wiederaufnahmeverfahren. Daher geht die vorliegende Darstellung nur gelegentlich auf diese Fragen ein. Das beruht im Übrigen auch auf der richterlichen Erfahrung, dass Wiederaufnahmeanträge selten an mangelndem Know-how hinsichtlich der Informationsbeschaffung, sehr häufig jedoch an unzureichendem Wissen darüber scheitern, welche Informationen wie darzulegen sind. Konkrete praktische Hilfen bietet das Buch insoweit durch Muster von Verteidigerschriftsätzen im Anhang sowie durch Fall- und Formulierungsbeispiele in dem praktisch besonders bedeutsamen Bereich der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten auf Grund von § 359 Nr. 5 StPO.
Einleitung › B. Einführung in das Recht der Wiederaufnahme in Strafsachen
B. Einführung in das Recht der Wiederaufnahme in Strafsachen
5
Die Wiederaufnahme ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf. Ihre Funktion besteht in der Durchbrechung der Rechtskraft im Interesse materieller Einzelfallgerechtigkeit.[4]
6
Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens setzt einen entsprechenden Antrag voraus, vgl. §§ 360 Abs. 1, 361 Abs. 1, 364 Satz 1, 365, 366 StPO. Als Antragsteller kommen verschiedene Verfahrensbeteiligte in Betracht, in erster Linie der Verurteilte bzw. sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft, §§ 365, 296, 297 StPO. In dem Wiederaufnahmeantrag müssen der gesetzliche Grund der Wiederaufnahme und die Beweismittel angegeben werden, § 366 Abs. 1 StPO. Je nach dem Ziel des Antrags kommen teilweise verschiedene gesetzliche Wiederaufnahmegründe in Frage. Wenn Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten erstrebt wird, gilt § 359 StPO, bei Wiederaufnahmeanträgen zuungunsten des Angeklagten § 362 StPO.[5] Die praktisch bedeutsamste Besonderheit der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten gegenüber der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten besteht darin, dass sie auf alle neuen Tatsachen oder Beweismittel gestützt werden kann, wenn diese nur geeignet sind, allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Verurteilten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen (Wiederaufnahme propter nova, § 359 Nr. 5 StPO).
7
Der Wiederaufnahmeantrag durchläuft ein mehrstufiges Verfahren. Das nach den §§ 367 Abs. 1 Satz 1 StPO, 140a GVG zuständige Wiederaufnahmegericht entscheidet zunächst über die Zulassung des Wiederaufnahmeantrags (sog. Aditionsverfahren). Der Antrag wird als unzulässig verworfen, wenn er nicht in der vorgeschriebenen Form angebracht, in ihm kein gesetzlicher Grund der Wiederaufnahme geltend gemacht oder kein geeignetes Beweismittel angeführt worden ist, § 368 Abs. 1 StPO. Nach der Zulassung des Antrags werden die angetretenen Beweise erhoben, § 369 StPO; anschließend befindet das Gericht über die Begründetheit des Antrags (sog. Probationsverfahren). Wenn die in dem Antrag aufgestellten Behauptungen durch die Beweisaufnahme genügend bestätigt worden sind, wird die Wiederaufnahme des Verfahrens und – in der Regel[6] – die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet. Die neue Hauptverhandlung richtet sich wie die erste Hauptverhandlung nach den §§ 226 ff. StPO. Nach § 373 StPO gelten allerdings besondere Regeln für die Tenorierung und, was bedeutsamer ist, das Verbot der reformatio in peius.
8
Die Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens unterscheidet sich grundlegend von derjenigen des Erkenntnisverfahrens.[7] Das Erkenntnisverfahren ist inquisitorisch strukturiert, die Verfahrensherrschaft liegt beim Gericht. Dementsprechend obliegt ihm auch die Stoffsammlung. Für Darlegungslasten anderer Verfahrensbeteiligter, namentlich des Angeklagten, bleibt kein Raum. Mit dem rechtskräftigen Abschluss des Erkenntnisverfahrens geht ein Strukturwandel einher. Ein anschließendes Wiederaufnahmeverfahren ist ähnlich akkusatorisch strukturiert wie der Zivilprozess. Das Gericht hat keine verfahrensbeherrschende Position inne. Die maßgebenden verfahrensgestaltenden Befugnisse besitzt der Antragsteller. Dementsprechend verschieben sich auch die Verantwortungsbereiche hinsichtlich der Stoffsammlung. Den Antragsteller treffen umfassende Darlegungs- und Beweisführungslasten. Andererseits ist das Wiederaufnahmegericht ähnlich wie ein Zivilgericht gemäß § 139 ZPO in besonderem Maße zur Hilfeleistung gegenüber dem Antragsteller verpflichtet, so dass es ihn insbesondere erforderlichenfalls auf das Ausmaß seiner Darlegungs- und Beweisführungsobliegenheiten hinzuweisen hat.
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