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Das Zimmer war leer und als die Thür sich hinter dem Wirth schloß, zogen sich die Muskeln in dem Gesichte des Capitäns zusammen, während der fröhliche Ausdruck aus seinen braunen Augen verschwand und einem entschiedenen Trübsinn Platz machte.
Als der Punsch gebracht wurde, trank er drei Gläser nach einander; aber weder das große Holzfeuer, das in dem weiten Kamin brannte, noch das dampfende Getränk schien ihn zu erwärmen, denn er fröstelte, während er trank.
Er fröstelte, während er trank, und zog dann seinen Stuhl näher an den Kamin, stellte seine Füße auf die zwei eisernen Feuerböcke und blickte düster in die rothe knisternde Flamme.
»Mein Alp, mein Schatten, mein Fluch!« sagte er.
Es waren nur sechs Worte, aber sie drückten den Haß eines Lebens aus.
Darauf schien ihm plötzlich ein Gedanke zu kommen. Er sprang so schnell empor, daß er den schweren Eichenstuhl umwarf, und eilte aus dem Gemach.
Auf der andern Seite des Vorplatzes befand sich das gewöhnliche Wirthszimmer, wo die Leute aus dem Bürgerstande ihre Abende zubrachten. Es war gegenwärtig gedrängt voll und ein lauter Lärm von Reden und Gelächter drang durch die offene Thüre.
In dieses Zimmer trat der Capitän, und den Hut von seinen braunen Locken, welche hinten mit einem Band zusammengebunden waren, abnehmend, verbeugte er sich vor der fröhlichen Versammlung.
Die Anwesenden waren in einem Augenblick auf ihren Füßen. Capitän George Duke von Sr. Majestät Schiff der Vultur war ein großer Mann zu Compton. Seine Heirath mit der einzigen Tochter des verstorbenen Squire hatte ihm in dem Orte, in dem er sonst ein Fremder war, eine gewisse Popularität verliehen.
»Es thut mir leid, Euch stören zu müssen, Gentlemen,« sagte er herablassend, »ist Pecker da?«
Pecker war da, aber so niedergeschlagen und schüchtern, daß er, als er sich bei Nennung seines Namens von seinem Stuhl erhob und vortrat, kaum ein Wort vorzubringen vermochte.
»Pecker, ich wünsche genau zu wissen, wie viel Uhr es ist,« sagte der Capitän. »Meine Uhr ist abgelaufen und Mistreß Duke, war durch das Lesen von Mr. Richardsons Romanen und durch die Wartung ihres Schooßhundes so ganz in Anspruch genommen, daß alle Uhren in meinem Hause stehen geblieben sind. Welches ist die genaue Zeit nach Eurer unfehlbaren großen Uhr an der Stiege, Samuel?«
Der Wirth fuhr mit feinen kleinen knochigen Händen durch sein lichtblondes Haar, wodurch er seinem Denkvermögen eine leichte Anregung zu geben schien, und entfernte sich dann schweigend, um den Befehl des Capitäns zu vollziehen. Ein Dutzend große kartoffelähnliche silberne und tombackene Uhren kamen in einem Augenblick zum Vorschein.
»Ich habe halb Acht.« — »Ich ein Viertel auf Neun.« —- »Zwanzig Minuten, Capitän.« — George Duke hätte ein halbes Dutzend verschiedene Zeiten haben können, wenn er gewollt hättet aber er sagte in ruhigem Tone:
»Vielen Dank, Gentlemen; aber ich will meine Uhr nach der von Pecker richten, denn ich glaube, daß sie die Zeit besser einhält als die Kirchen-, die Markt- und die Gefängnißuhr.«
»Die Gefängnißuhr geht aber zuweilen am Montag früh um acht Uhr doch sehr richtig, nicht wahr, Capitän?« sagte ein kleiner Schuhmacher, der die Rolle des Witzbolds in der Gesellschaft spielte.
»Zuweilen nicht halb richtig genug, Mr. Tomkins,« antwortete der Capitän, seine Uhr aufziehend, während ein ernstes Lächeln um seinen hübschen Mund spielte. »Wenn Jeder gehängt würde, der es verdient, so würde mehr Platz für die ehrlichen Leute in der Welt sein, Mr. Tomkins. Nun, Samuel, welches ist die genaue Zeit!«
»Zehn Minuten auf Acht,« Capitän, und welch eine Nacht. Ich habe gerade aus dem Stiegenfenster geblickt und der Himmel ist so schwarz wie Dinte und der Erde so nahe, daß man denken könnte, er würde auf unsere Köpfe fallen und uns erdrücken, wenn ihn der Wind nicht hielte.
»Zehn Minuten auf Acht,« wiederholte der Capitän, seine Uhr einsteckend. Dann drehte er sich um und ging auf die Thüre zu, blieb aber hier stehen und sagte: »O, beiläufig gesagt, würdiger Samuel, um welche Zeit habt Ihr meinen Geist gesehen?«
Er lachte, während er diese Frage stellte, und sah die Gesellschaft mit einem boshaften, gegen den schüchternen Wirth gerichteten Wink an.
»Die Kirchenuhr schlug gerade Sieben, als der Mann zu Pferd in den Weg über das Moor einbog, Capitän. Aber fragen Sie mich nichts weiter, es ist von keiner Wichtigkeit, es geht mich nichts an, es geht Niemand etwas an — aber —« und er holte tief Athem —- »Aber ich habe es gesehen.«
Die Kunden des Schwarzen Bären waren sonst nicht gewöhnt, den Bemerkungen des Wirths große Aufmerksamkeit zu schenken: aber diese drei letzten Worte schienen eine besondere Wirkung ans sie auszuüben und sie blickten mit erschrockenen Gesichtern von Samuel Pecker auf den Capitän und von dem Capitän wieder auf Samuel Pecker.
»Unser lustiger Wirth hat seinem alten Ale etwas zu stark zugesprochen und er muß sich in seinen klugen Kopf gesetzt haben, daß er meinen Geist gesehen, aus keinem bessern Grunde, als weil ein Reisender, der mir ein wenig ähnlich sieht, an seiner Thüre angehalten und ihn nach dem Wege von Marley Water gefragt hat. »Ich hoffe, daß guter Ale und gute Gesellschaft ihm den Kopf wieder zurecht setzen werden,« sagte George Duke. »Gute Nacht, Gentleman.«
Er verließ das Zimmer und kehrte nach dem eichengetäfelten Gemach zurück, wo er sich wieder in den Stuhl am Kamin warf und mit düsteren Blicken in das Feuer starrte. Er war ein so gänzlich verschiedenes Wesen von dem Manne, dessen fröhliche Stimme und leichtes Lachen sich so eben in dem gewöhnlichen Wirthszimmer hatte vernehmen lassen, daß es für Denjenigen, der ihn in der einen Phase gesehen, schwierig gewesen wäre, ihn in der andern wieder zu erkennen.
Er blieb indeß nicht lange allein, denn bald darauf trat Nathaniel Halloway, der Müller, ein und leistete dem Capitän bei seinem Punsch Gesellschaft, und nicht lange danach kamen auch Solgood, der Advokat, und Jordan, der Wundarzt, gewöhnlich Dr. Jordan genannt. Die vier Männer waren sich sehr befreundet und sie saßen rauchend, trinkend und von Politik sprechend bis Mitternacht beisammen, als Capitän George Duke von seinem Sitz aufstand.
»Zwölf Uhr vom Thurme der Kirche,« sagte er. »Gentlemen, ich habe eine hübsche junge Frau, die zu Hause auf mich wartet, und eine Viertelstunde zu gehen, bis ich nach Hause komme. Deshalb muß ich Euch jetzt gute Nacht sagen. Ihr werdet mit Eurem Punsch und Eurer Unterhaltung auch ohne mich fertig werden.«
Nathaniel Halloway sprang empor.
»Capitän Duke, Ihr werdet uns nicht so ohne weiteres verlassen,« rief er. »Ihr seid nicht auf dem Verdeck Eures Schiffs und Ihr dürft nicht in Allem Euren Willen haben. Was aber den schönen kleinen Admiral im Unterrocke zu Hause betrifft, so könnt Ihr leicht Euren Frieden mit ihm machen. Bleibt und trinkt Euren Punsch aus, Mann,« und der würdige Müller, auf den das Gelage des Abends nicht ganz ohne Wirkung geblieben war, ergriff in herzlicher Weise den Capitän beim goldverbrämten Aermel und versuchte ihn zurückzuhalten.
George Duke aber schüttelte ihn leicht ab und trat, die Thüre öffnend, hinaus auf den Vorplatz gefolgt von dem Müller und den beiden andern Mitgliedern der kleinen Gesellschaft. Das Haus, das fünf Minuten zuvor so ruhig gewesen, war jetzt ganz Geschäftigkeit und Verwirrung. Da war zuerst die würdige Mistreß Sarah Pecker, welche abwechselnd jammerte und klagte und dann wieder mit der äußersten Höhe ihrer Stimme Verwünschungen und Scheltworte ausstieß. Dann war Samuel, ihr Gatte, da, blaß, erschrocken, nutzlos und überall im Wege stehend. Dazu waren der Stallknecht, die Köchin, zwei rosenwangige Zimmermädchen und der Aufwärter da und in der Mitte der Halle lag der Gegenstand von all diesem Lärm und dieser Aufregung, durch die Arme zweier Männer, eines Briefträgers und eines Farmarbeiters unterstützt, auf dem Boden ausgestreckt. Ja da lag still, bewegungslos und bewußtlos derselbe Darrell Markham, der fünf Stunden vorher in voller Gesundheit und Kraft von hier nach dem kleinen Seehafen von Marley Water aufgebrochen war, und an seiner Seite kniete Mrs. Sarah, ihn beschwörend, die Augen zu öffnen und zu sprechen.
»Wir haben ihn auf dem Weg gefunden,« sagte einer der Männer. »ich und Jim Bulder; wir waren auf dem Heimweg vom Marley-Markt, und wir stießen auf ihn in der Finsterniß. Es war so dunkel, daß wir nicht sehen konnten, ob es ein Mensch oder ein todtes Schaf war; aber mir hoben ihn auf und fühlten, daß er steif und kalt war. An seiner Brust und seinem linken Arm war etwas Feuchtes und ich merkte beim Anfühlen das es Blut war; und ich und Jim faßten ihn beim Kopf und bei den Füssen und trugen ihn geraden Wegs hierher.«
»Wer ist es? Was ist es?« fragte Capitän Duke, sich vordrängend.
»Der nächste Verwandte und theuerste Freund Eurer Frau, Capitän, Mist Millicents Cousin, Darrell Markham! Ermordet! Ermordet auf dem Moore zwischen hier und Marley Water.«
»Meine Viertelstunde von hier,« ergänzte der Farmarbeiter, der den Verwundeten aufgehoben hatte.
»Darrell Markham, der Cousin meiner Frau, Darrell Markham! Weshalb ist er hierher gekommen? Was hat er in Compton gethan?« fragte der Capitän argwöhnisch. Seine dunkelbraunen Augen blickten auf das stille Gesicht nieder, das von Essig und Wasser triefte, womit Mrs. Pecker die Schläfe des Verwundeten badete.
»Weshalb er hergekommen ist? Er ist hergekommen, um ermordet zu werden! Er ist hergekommen, damit ihm sein kostbares Leben auf dem Compton-Moor geraubt würde, das arme, liebe Lamm!« schluchzte Mrs. Pecker.
Während all, dieser Verwirrung war Lunas Jordan, der Wundarzt, ruhig an die Seite des Verwundeten geschlüpft, hatte den Arm desselben ergriffen und mit der Scheere, welche am Gürtel von Mrs. Pecker hing, den Rock vom Aufschlage bis zur Schulter bedächtig ausgeschnitten.
»Eine Schüssel, Molly, und ein seidenes Tuch zum Verbinden,« sagte er ruhig.
Mehrere seidene Tücher wurden ihm von den Anwesenden überreicht, während das Mädchen eine Schüssel brachte und sie mit zitternder Hand unter Darrells Arm hielt.
»Halte sie ruhig, mein Mädchen,« sagte der Arzt, während er eine Lancette hervorzog und in den kalten, steifen Arm stieß. Das Blut floß langsam und stoßweise aus der geöffneten Ader.
»Ist er todt, ist er todt, Mr. Jordan?« rief Sarah Pecker.
»Ebensowenig als ich es bin, ebensowenig als ich es bin, Mrs. Pecker,« sagte der Arzt, welcher seine Untersuchung vornahm, während die Umstehenden erschrocken und erwartungsvoll zusahen. »Der Gentleman hat das Unglück gehabt, eine Pistolenkugel durch den rechten Arm zu erhalten. Sie hat den Knochen über dem Ellbogen zersplittert, aber wir werden wohl im Stande sein, den Arm wieder in Ordnung zu bringen. Er ist in Folge von Blutverlust und der kalten Nachtluft ohnmächtig geworden. Er hat, ich glaube, einen schlimmen Fall von seinem Pferde gethan und auf dem Hinterkopfe hat er eine Hautwunde, die von den scharfen Kieselsteinen auf dem Wege herrührt, weiter ist es aber nichts.«
Nichts weiter! Dies schien den erschrockenen Leuten, welche noch vor wenigen Minuten Mr. Markham für todt gehalten, eine so geringfügige Sache, daß Mrs. Pecker, die sonst nicht zur Weichherzigkeit geneigt war, die Hand des Wundarztes ergriff und sie mit Thränen und Küssen bedeckte.
»So, das ist also Darrell Markham,« sagte der Capitän gedankenvoll zu sich. »Darrell, der Unwiderstehliche, Darrell, der Schöne, Darrell der Muthige, Darrell, der seine Cousine, Millicent, jetzt meine Frau, heirathen sollte. Hm, ein hübscher, junger Mann mit braunen Locken und einer geraden Nase! Keine Gefahr für sein Leben, wie Sie sagen, Doktor ?« fragte er laut.
»Keine, wenn nicht Fieber dazu tritt, was der Himmel verhüten wolle!«
»Aber wenn es doch geschehen würde, wie dann?«
»Dann ist’s freilich schlimm. Bei solchen erregbaren Temperamenten —«
»Er hat also ein erregbares Temperament?«
»Ein sehr erregbares. Unfälle wie dieser haben ohnedies leicht Fieber zur Folge. Mrs. Pecker, er muß sehr ruhig gehalten werden. Es darf Niemand zu ihm gelassen werden, dessen Anwesenheit ihn aufregen könnte.«
»Ich werde an seiner Thüre selbst Wache halten und ich möchte die Person sehen, die es wagen würde, ihn auch nur durch einen Athemzug zu stören,« sagte die würdige Matrone, ihren dünnen Gatten scharf anblickend.
Der Wirth zum Schwarzen Bären hielt sofort den Athem an, als ob er glaubte, daß er künftig ohne diese natürliche Verrichtung existiren müßte.
»Wir müssen den Patienten sogleich hinauf bringen,« sagte der Arzt. »Wir müssen ihn in Euer ruhigstes Zimmer und in Euer bequemstes Bett bringen, und wir dürfen dazu keine Zeit verlieren.«
Auf die Weisung des Arztes hoben drei Männer den Verwundeten behutsam auf und sie waren gerade im Begriff, ihn die Treppe hinaufzutragen, als er seine linke Hand an die Stirne führte und langsam die Augen öffnete.
Die drei Männer hielten an und Mrs. Pecker rief laut:
»O, die Freude, er ist nicht todt! Master Darrell, sprecht zu uns und sagt uns, daß Ihr nicht todt seid.«
Die blauen Augen blickten trübe auf die erschrockenen Gesichter, die sich ringsum sammelten.
»Er hat mich geschossen. Er hat mich des Briefs an den König und meiner Börse beraubt. Er hat mich in den Arm geschossen!«
»Wer hat Euch geschossen, Master Darrell?« rief Mrs. Pecker.
Der junge Mann sah sie mit leere Blicke an, offenbar nicht wissend, wo er sich befand und wer Diejenigen, die ihn umgaben, waren. Darauf wandte er seine blutunterlaufenen Augen von ihrem Gesichte ab und seine Blicke wanderten unter den übrigen Zuschauern umher: vom Wirth zum Stubenmädchen, vom Stubenmädchen zum Briefträger, vom Briefträger zum Arzt, vom Arzt zu Capitän George Duke von Sr. Majestät Schiff, der Vultur.
Die blauen Augen öffneten sich mit einem wilden Ausdruck so weit sie konnten.
»Das, das ist der Mann!«
»Welcher Mann, Master Darrell?«
»Der Mann, der mich geschossen hat«
»Ich habe mir’s ja gedacht, daß er in ein Wundfieber verfallen würde. Er redet bereits irre,« sagte der Arzt mit leiser Stimme.
Capitän Duke schlug die Augen nieder und ein dunkler Schatten verbreitete sich über sein hübsches Gesicht.
»Ihr träumt, mein Lieber,« sagte Mrs. Pecker. »Welcher Mann und wo, wo ist er?«
Darrell Markham hob langsam seinen unverwundeten Arm auf und deutete auf das dunkle Gesicht des Capitäns.
»Dort!« sagte er, sich in dem Arme des Mannes, der ihn unterstützte, ein wenig emporrichtend und dann bewußtlos wieder zurücksinkend.
»Ich dachte es mir,« murmelte der Capitän.
»Ich ebenfalls,« erwiederte der Arzt. »Das Fieber ist bereits da und damit auch die Gefahr.«
»Und er muß ruhig gehalten werden?« fragte der Capitän, als der Verwundete die breite, eichene Treppe hinaufgetragen wurde.
»Er muß ruhig gehalten werden, sonst kann ich nicht für sein Leben einstehen. Ich habe ihn als Knaben gekannt und ich weiß, daß ihm jede heftige Aufregung eine Gehirnentzündung zuziehen wird.«
»Armer Mensch! Er ist in Folge meiner Verheirathung mit seiner Cousine ein Verwandter von mir, obschon ich fürchte, daß in dieser Beziehung keine große Zuneigung zwischen uns besteht. Und dies ist das erste Mal, daß wir einander gesehen haben. Seltsam!«
»Es giebt Vieles im Leben, was seltsam ist, Capitän Duke,« sagte der Arzt.
»So ist es, Doktor,« antwortete der Capitän. »So ist Darrell Markham auf seinem Wege von Compton nach Marley Water von einer oder mehreren unbekannten Personen durch einen Schuß verwundet worden. Sehr seltsam!«

Zweites Capitel.
Millicent.
Millicent Duke saß an diesem Herbstabend allein in ihrem kleinen Wohnzimmer, während der Nordostwind draußen um das Gebäude heulte,— sie saß allein und versuchte Richardsons letzten Roman zu lesen, einen kleinen, abgegriffenen Band, den ihr die Frau des Pfarrers von Compton geliehen hatte. Aber so sehr sie Richardsons Novellen liebte, so war sie heute doch nicht im Stande, ihre Aufmerksamkeit auf die Erzählung zu concentriren; ihre Gedanken entfernten sich von der armen Clarissa und dem bösen Lovelace, das Buch entsank ihrer Hand und sie verfiel in ein tiefes Nachsinnen. Es lohnt sich wohl der Mühe, auf Mrs. Millicent Duke zu blicken, wie sie ruhig an ihrem einsamen Kamin sitzt, mit der einen weißen Hand ihren kleinen Kopf stützend, während ihr Ellbogen auf der Armlehne des Stuhls ruht, in welchem sie sitzt.
Es ist ein sehr schönes und mädchenhaftes Gesicht« auf dem das wechselnde Licht des Feuers zittert, bald die eine Wange mit einer sanften Röthe beleuchtend, bald sie im Schatten lassend, je nachdem die Flamme emporschießt oder zurücksinkt. Es ist ein sehr schönes und mädchenhaftes Gesicht mit zarten Zügen und dunkelblauen Augen, in deren sanften Tiefen ein Schatten wohnt — ein Schatten wie von langgetrockneten, aber nicht vergessenen Thränen. Es sind auch gedankenvolle Linien um den Mund bemerkbar, die nicht von einer vollkommen glücklichen Jugend Zeugniß geben. Wenn man diesen gedankenvollen Mund und diese traurigen Augen ansieht, so läßt sich unschwer errathen, daß Millicent Duke und Kummer und Sorgen längst Bekanntschaft mit einander gemacht haben. Aber trotz dieser Schwermuth, welche ihre Züge überschattet, oder vielleicht gerade wegen dieser Schwermuth, ist Millicent Duke ein sehr schönes Mädchen. Man kann sie sich nicht leicht als eine verheirathete Frau denken. Ihr Aussehen ist noch so jugendlich, in ihrem Benehmen liegt eine so mädchenhafte, fast kindische Schüchternheit, daß ihr Gatte — kein besonders liebender oder zärtlicher Gatte — zu sagen pflegte: »Millicent ist so schwer wie ein kleines Kind zu behandeln, denn man weiß niemals, ob sie nicht wie ein verzogenes Kind im nächsten Augenblicke in Weinen ausbrechen wird.« Es giebt indeß Leute in Compton, welche sich der Zeit erinnern, wo das verzogene Kind niemals weinte und wo ein Frühlings-Sonnenblick kaum heiterer war als das strahlende Gesicht von Millicent Markham. Aber dies war in den guten alten Tagen, wo ihr Vater, der Squire, noch lebte und wo sie gewohnt war, auf ihrem hübschen weißen Pony die Gegend zu durchstreifen, begleitet und beschützt von ihrem Cousin und theuersten Freunde, Darrell Markham.
Sie ist an diesem kalten Herbstabend ganz besonders traurig. Der scharfe Wind, unter dessen Stößen die Fenster erzittern, macht sie frösteln und sie zieht den schweren Stuhl näher an das niedergebrannte Feuer. Sie hat ihre einzige Magd längst zu Bett geschickt und es fehlt ihr an Material, um das Feuer in dem weiten Kamin zu unterhalten. Die Wachskerzen sind in den alten, silbernen Leuchtern tief heruntergebrannt. Es bat Zehn, Elf, Zwölf auf dem Kirchthurme von Compton geschlagen, aber noch immer ist kein Anzeichen von der Rückkehr des Capitäns.
»Er ist glücklicher bei ihnen, als bei mir,« sagte sie traurig. »Wer kann sich auch darüber wundern? Ihre Reden unterhalten und erheitern ihn; ich kann ihn mit meinem unglücklichem blassen Gesicht nur langweilen.« Sie warf, während sie dieses sprach, einen Blick in den ihr gegenüberhängenden Spiegel, in welchem sie bei dem schwachen Lichte des erlöschenden Feuers und der düster brennenden Kerzen ihr bleiches Gesicht erblickte. »Und doch nannte man mich einst ein hübsches Mädchen,« murmelte sie; »ich hatte Farbe aus meinen Wangen und Darrell pflegte zu sagen, ich habe die Rosen aus dem Garten gestohlen. Ich glaube, er würde mich jetzt kaum mehr erkennen.«
Die lange Stunde nach Mitternacht schlich träge dahin und als es endlich Eins schlug, vernahm sie den scharfen Tritt ihres Mannes auf dem Pflaster der leeren Gasse. Sie sprang rasch von ihrem Stuhle auf und eilte hinaus in den Vorplatz; aber gerade als sie im Begriff war den Riegel zurückzuziehen, hielt sie plötzlich inne und legte die Hand auf’s Herz.
»Was ist’s diesen Abend mit mir?« murmelte sie. »Ich habe das Gefühl, als ob mir ein großer Kummer bevorstände, aber welcher neue Kummer kann mich noch treffen?«
Ihr Mann klopfte mit seinem Schwertgriff ungeduldig an die Thüre, während sie mit zitternder Hand zu öffnen suchte.
»Hattest Du an der Thüre gehorcht, Millicent, weil Du so schnell aufmachst?« fragte er beim Eintritt.
»Ich habe Deine Tritte in der Straße gehört und mich beeilt, Dich einzulassen, George. Du kommst sehr spät,« setzte sie hinzu, während er in das Zimmer trat und sich in den Stuhl warf, in dem sie gesessen hatte.
»Das klingt wie ein Vorwurf,« sagte er spöttisch. »Ich habe allerdings sehr Vieles, was mich zu Hause halten könnte,« murmelte er sich umsehend — »ein weinendes Weib, ein schlechtes Feuer und herabgebrannte Lichter.«
Er wandte seiner Frau den Rücken und beugte sich über die erlöschenden Kohlen, indem er an denselben seine Hände zu wärmen suchte. Seine Frau setzte sich an einen kleinen, polirten Tisch, wo sie den Roman von Richardson wieder aufnehmend, sich den Anschein gab, als sei sie im Lesen vertieft.
Nach einer kleinen Pause sprach der Capitän, ohne sich nach seiner Gefährtin umzuwenden, ohne sie auch nur ein einziges Mal beim Namen anzureden: »Es hat drunten ein Unglück gegeben,« sagte er kurz.
»Ein Unglücks« rief Millicent, ihr Buch weglegend und mit einem Ausdruck von unbestimmter Besorgniß aufblickend. »Ein Unglück! O, das thut mir leid; aber was für ein Unglück?«
Da er ihre Frage nicht beantwortete, so wiederholte sie dieselbe:
»Was für ein Unglück, George?«
»Ein Mann ist auf dem Compton-Moor von Straßenräubern halb ermordet worden.«
»Aber nicht wirklich ermordet worden, George?« Sie war so lebhaft mit ihren eigenen traurigen Gedanken beschäftigt, daß sie dem, was ihr Mann sagte, nur eine halbe Aufmerksamkeit zu schenken vermochte.
»Nein, nicht ermordet, aber fast ermordet; hab’ ich es Dir nicht gesagt?« antwortete der Capitän. »Und ein sehr hübscher, junger Bursche ist es,« setzte er halb zu sich sprechend hinzu — »ein hübscher Mensch mit weißem Gesicht und hellen Haaren. Armer Teufel!«
»Es thut mir sehr leid,« murmelte Millicent halbleise, und da ihr Gatte sich nicht auf seinem Sitze rührte und nichts weiter mehr sagte, nahm sie ihr Buch wieder auf und begann zu lesen. Es trat eine Pause ein, während welcher der Capitän die erlöschenden Kohlen aufstörte. Darauf wendete er sich um und blickte seine Frau scharf an. Nachdem er sie einige Minuten mit einem zornigen Ausdruck in seinen hübschen, braunen Augen beobachtet hatte, sagte er mit einem verächtlichen Lachen:
»Der Himmel segne diese romanlesenden Weiber! Der Tod eines Mitmenschen ist ihnen gar nichts, wenn nur Miß Clarissa mit ihrem Geliebten versöhnt ist und Mistreß Palmela’s Tugend im sechsten Bande belohnt wird! Was Du doch für ein zartes, theilnehmendes Wesen bist! Weinst über Sir Charles Grandison und fragst mich nicht einmal, wer der ist, der im blauen Zimmer des Schwarzen Bären zwischen Leben und Tod liegt.«
Mrs. Duke sah ihren Gatten mit einem bittenden Blicke an, als ob sie an harte Worte und als Erwiderung darauf an Entschuldigungen gewöhnt wäre.
»Ich bitte Dich um Vergebung, George,« sagte sie zögernd. »Ich bin wirklich nicht gefühllos, dieser verwundete, halb sterbende Mann thut mir leid, wer er auch sein mag. Wenn ich ihm einen Dienst leisten könnte, so würde ich es sehr gern thun, was es mir auch kosten möchte. Was kann ich mehr sagen, George?«
»Und man spricht von weiblicher Neugierde,« rief der Capitän mit einem spöttisches Gelächter; »selbst jetzt fragt sie mich nicht, wer der Verwundete ist.«
»Sein Name kann wenig Unterschied in meinem Mitleid für ihn machen, George. Der arme Mensch! Er dauert mich sehr, wer er auch sein mag. Ist er ein Freund von Dir? Ist es Jemand, den ich kenne, George?«
Ihr Gatte wartete einige Augenblicke, ehe er diese Frage beantwortete. Millicent hatte sich von ihrem Sitz erhoben und stand am Tisch mit den Lichtern beschäftigt, welche nahe daran waren, auszugehen. Der Capitän drehte sich in seinem Stuhle um und beobachtete ihr bleiches Gesicht, während er langsam und deutlich sagte:
»Der Mann ist Jemand, den Du kennst, und er ist kein Freund von mir.«