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»Wer ist es, George?«
»Dein Cousin, Darrell Markham.«
Sie stieß einen Ruf aus, keinen schrillen Schrei, sondern einen kläglichen Ruf, und erhob ihre Hände zum Kopf. Sie blieb einige Augenblicke in dieser Stellung, ganz still und ruhig, und dann sank sie wieder auf ihren Sitz am Tische nieder. Ihr Mann beobachtete sie die ganze Zeit über mit einem höhnischen Lächeln und einem boshaften Feuer in seinen Augen.
»Darrell, mein Cousin Darrell, todt?«
»Nicht todt, Mistreß Millicent, nicht ganz so schlimm als das. Dein theurer, blonder Cousin mit dem Milchgesicht ist nicht todt, mein süßes, liebendes Weib; er liegt blos im Sterben.«
»Ja dem blauen Zimmer des Schwarzen Bären liegend,« sagte sie, die Worte, die er einige Minuten zuvor gesprochen hatte, in einer verwirrten Weise wiederholend.
»In dem blauen Zimmer des Schwarzen Bären liegend. Ja, im blauen Zimmer, Nummer vier im langen Gang. Du kennst das Gemach gut genug. Warst Du nicht oftmals in dem alten Wirthshaus, um die frühere Haushalterin Deines Vaters, die Wittwe des Matrosen, jetzt die Frau des Wirths, zu besuchen ?«
»Zwischen Tod und Leben schwebend,« wiederholte Millicent in demselben halb bewußtlosen Tone, der so kläglich anzuhören war.
»Er war es! Der Himmel weiß, wie es seht mit ihm steht. Das war vor einer halben Stunde. Die Wage mag seitdem den Ausschlag gegeben haben; er mag todt sein!«
Als George Duke die letzten Worte sprach, sprang seine Frau plötzlich von ihrem Sitze auf und eilte, ohne ihn anzublicken, nach der äußern Thüre. Sie hatte bereits ihre Hand auf dem Riegel, als sie im Tone des Schmerzes ausrief: »O nein, nein, nein!« und auf ihre Kniee niedersank, den Kopf an die Thüre gelehnt.
Der Capitän des Vultur folgte ihr in den Gang hinaus und beobachtete sie mit harten, mitleidslosen Augen.
»Du wolltest also zu ihm eilen?« sagte er, als sie auf ihre Kniee sank.
Zum ersten Male, seit Darrell Markhams Name erwähnt worden war, blickte Millicent ihren Gatten an, nicht traurig, nicht vorwurfsvoll und am wenigsten furchtsam, sondern ihre blauen Augen sahen kühn und trotzig zu ihm empor.
»Ich wollte es.«
»Und warum gehst Du nicht?« Du siehst, ich bin nicht grausam; ich halte Dich nicht auf. Du hast Deine Freiheit. Geh! Geh zu Deinem Cousin und — zu Deinem Geliebten, Mistreß Duke. Soll ich Dir die Thüre öffnen?«
Sie erhob sich mit einiger Anstrengung, noch immer zur Stütze an die Hausthür gelehnt.
»Nein,« sagte sie, »ich will nicht zu ihm gehen, ich könnte ihm von keinem Nutzen sein; ich könnte ihn aufregen, ich könnte ihn tödten!«
Der Capitän biß sich auf die Unterlippe und der triumphirende Blick verschwand aus seinen braunen Augen.
»Aber wisse, George Duke,« sagte sie in einem Tone, der den Ohren ihres Mannes neu war, »es ist nicht die Furcht vor Dir, die mich hier zurückhält, keine Scheu vor Deinen grausamen Worten und noch grausameren Blicken, die mich abhält, an seine Seite zu gehen, denn, wenn ich ihm durch meine Gegenwart nur einen Augenblick des Schmerzes ersparen, oder durch meine Liebe und Aufopferung nur eine Minute Frieden und Trost geben könnte, und wenn die Stadt Compton ein einziges Feuermeer wäre, so würde ich durch die Flammen gehen, um es zu thun.«
»Das ist eine sehr schöne Rede aus einem Roman,« sagte ihr Gatte, »aber ich glaube nicht an solche schöne Reden und ich habe vielleicht meine eigenen guten Gründe, daran zu zweifeln. Wenn Darrell Markham im Sterben nach Dir verlangte, so würdest Du vielleicht zu ihm gehen, besonders,« setzte er mit seinem gewöhnlichen Spott hinzu, »da die Stadt Compton nicht in Flammen steht.«
Millicent sprang auf ihn zu und ergriff mit ihren beiden kleinen, schlanken Händen, die sonst so schwach und in dieser Nacht so stark waren, krampfhaft seinen Arm.
»Hat er, hat er, hat er es gethan ?« rief sie leidenschaftlich; »hat Darrell nach mir verlangt? O, George Duke, bei Deiner Ehre als ein Gentleman, als ein Seemann, als ein Diener Sr. Majestät, bei Deiner Hoffnung auf den Himmel, bei Deinem Glauben an Gott, sage mir, hat Darrell Markham nach mir verlangt?«
Der Capitän ließ sie auf seine Antwort warten, während er nach dem Wohnzimmer zurückkehrte und dort an der flackernden Flamme des großen Leuchters ein kleines Wachslicht anzündete.
»Ich sage nicht Nein und sage nicht Ja,« sagte er. »Ich habe keine Lust, den Boten zwischen Dir und ihm zu machen. Gute Nacht,« setzte er hinzu, an seiner Frau vorüber in den Vorplatz tretend und von dort nach der Treppe gehend. »Wenn Du die ganze Nacht aufbleiben willst, so thue es, Mistreß Duke. Es ist auf den Schlag Zwei und ich bin müde. Gute Nacht!«
Er ging hinaus und in ein kleines Schlafgemach über dem Wohnzimmer. Es war einfach, alter hübsch möblirt und überall herrschte die größte Nettigkeit. Im Kamin brannte noch das Feuer; aber obschon der Capitän fror, so lenkte er doch seine Schritte sofort nach dem Fenster. Er öffnete es sacht und lehnte sich hinaus, während die Uhren Zwei schlugen.
»Ich dachte es mir,« sagte er, als er das leise Oeffnen der Hausthüre vernahm. »Ich wußte es, daß sie zu ihm gehen würde.«
Der schwache Ton eines leichten und schnellen Tritts unterbrach die ruhige Stille der Straße.
»Und die geringste Aufregung kann verderblich für ihn sein,« murmelte der Capitän, während er das Fenster schloß.
Darrell Markham lag in einer todtenähnlichen Betäubung in dem blauen Zimmer des Schwarzen Bären. Mr. Jordan, der Arzt, hatte erklärt, daß es mehrere Tage dauern werde, bis der gebrochene Arm des Patienten wieder eingerichtet werden könne. Mittlerweile war Mrs. Sarah Becker angewiesen, über das geschwollene Glied fortwährend kühlende Umschläge zu machen. Aber in keinem Falle sollte die würdige Matrone den jungen Mann, wenn sein Bewußtsein wieder zurückkehrte, durch Klagen oder Fragen beunruhigen; noch sollte sie bei Gefahr seines Lebens irgend Jemand, mit Ausnahme des Arztes selbst, den Zutritt zu ihm gestatten.
Mrs. Pecker erwiederte daraus, sie möchte sehen, wer es wagen würde, dem Verwundeten zu nahe zu kommen, um ihn zu belästigen oder zu beunruhigen, »denn wenn es der Pfarrer des Kirchspiels selbst wäre,« sagte sie mit Nachdruck, »so müßte er keinen großen Werth auf seine Augen legen, im Falle er es wagen sollte, Sarah Pecker zu hintergehen.«
»Niemand darf in seine Nähe kommen, einmal für allemal und einmal für immer,« setzte Mrs. Pecker scharf hinzu, als sie unten an der großen Treppe auf eine kleine Versammlung von blassen Gesichtern stieß, denn das gesamte Hauspersonal hatte sich um sie gedrängt, als sie von dem Krankenzimmer herunter kam, begierig, Nachrichten von dem Verwundeten zu erhalten, »und ich will Dich nicht haben,« fuhr sie mit besonderer Heftigkeit zu ihrem Herrn und Gebieter, den würdigen Samuel, gewendet, fort, »ich will es nicht haben, daß Du alle Augenblicke mir mit Deinen Fragen in den Weg kommst: »Ist er noch nicht besser, Sarah?« oder: »Denkst Du nicht! daß er davonkommen wird?« und so weiter. Wenn der Arm eines armen, jungen Gentlemans zu Brei zermalmt ist,« setzte sie hinzu, sich an die Uebrigen wendend, »und wenn ein armer, junger Gentleman so viele Stunden in einer kalten Oktobernacht für todt auf einem einsamen Moor gelegen hat, so kann er nicht in zwanzig Minuten oder in einer halben Stunde wiederhergestellt sein. So geht in die Küche und verhaltet Euch ruhig, bis der Eine oder Andere von Euch gebraucht wird, denn Alles, was Master Darrell bedarf, soll er haben. Ja, wenn er die goldene Krone und den Scepter des Königs bedürfte, so müßte Jemand von Euch nach London und sie holen!«
Nachdem Mrs. Pecker auf diese Weise ihren höchsten Willen kund gethan, ging sie wieder die Treppe hinauf und trat in das Krankenzimmer, während der Arzt, der seine Absicht erklärte hatte, die Nacht in dem Gasthause zuzubringen, sich zu einer kurzen Ruhe in einem Nebenzimmer niederlegte.
Mr. Samuel Pecker hatte sich indeß in das kleine Privatgemach neben der Gaststube zurückgezogen, wo er sich am Kamin niedersetzte.
»Ich denke, da Mr. Markham in den Arm geschossen ist und sie wahrscheinlich nicht herunterkommen wird, so könnte ich mich an eine Kanne Bier wagen,« bemerkte der Wirth gedankenvoll.
Die Verlockung war trotz der vorgerückten Stunde zu groß für ihn und nach einigem weiteren Bedenken stand er auf, um das Bier zu holen. Er war eben im Begriff, über den Hausplatz zu geben, als er durch ein leichtes Klopfen an der starken, eichenen Hausthüre, welche für die Nacht geschlossen worden war, aufgehalten wurde. Das Licht wäre fast seinen Händen entsunken.
»Gespenster!« murmelte er, »Compton ist voll von ihnen. Ich hatte sonst geglaubt, sie wären nur auf dem Kirchhof und das war schon schlimm genug; aber jetzt reiten sie Einem geradezu vor die Thüre und stellen allerlei Fragen. Ich bin begierig, was noch aus uns werden soll. Ich wünschte nur, sie suchten Sarah heim. Ihre Nerven würden es vertragen. Ich glaube aber nicht, daß sie zum zweiten Mal kommen würden, wenn sie ihr einmal da, wo sie in ihrer üblen Laune ist, gegenübergetreten wären.«
Das Klopfen wurde etwas lauter wiederholt, während der Wirth aus diese Weise bei sich überlegte.
»Für Geister klopfen sie doch etwas stark und sie sind sehr beharrlich,« sagte Samuel. Das Klopfen dauerte indeß fort und wurde immer lauter. »O, ich werde also doch aufmachen müssen,« murmelte Mr. Pecker mit einem Seufzer; »wenn denn doch Jemand draußen wäre, der herein muß, was würde Sarah sagen, wenn ich ihn nicht einließe?«
Es war wirklich Jemand von Fleisch und Blut draußen, denn als Mr. Pecker langsam und sehr vorsichtig die Riegel zurückgeschoben hatte, schlüpfte eine weibliche Gestalt durch die enge Oeffnung der Thüre und eilte, ehe Mr. Pecker sich von seinem Erstaunen erholt hatte, nach der großen Treppe, die zu dem Zimmer führte, in welchem Darrell Markham lag.«
Ein jäher Schrecken vor der Rache seiner gewichtigen Ehehälfte ergriff den armen Samuel und mit ungewohnter Schnelligkeit lief er der Fremden nach und hielt sie am Fuße der Treppe aus.
»Ihr dürft nicht, Madam,« sagte er, »Ihr dürft nicht, entschuldigt mich, Madam, es kostet mir das Leben — selbst der Pfarrer — ja, Madam, Sarah!« so stammelte der erschrockene und verwirrte Samuel.
Die Frau schlug die große graue Kapuze zurück, die ihr Gesicht verhüllte.
»Kennt Ihr mich nicht, Mr. Pecker ?« fragte sie. »Ich bin es, Millicent, Millicent — Duke.«
»Ihr, Miß Millicent! Ihr, Mrs. Duke! O Miß, o Madam, Euer armer Cousin!«
»Um’s Himmelswillen, Mr. Pecker, haltet mich nicht von ihm fern. Gebt aus dem Weg, geht aus dem Weg,« sagte sie leidenschaftlich, »er stirbt vielleicht, während Ihr hier mit mir sprecht.«
»Aber, Madam, Ihr dürft nicht zu ihm. Der Doktor und Sarah haben es verboten. Sie ist wirklich schrecklich -—«
»Laßt mich durch!« rief Mrs. Duke, »ich sage Euch, ein rasendes Feuer könnte mich nicht aufhalten. Laßt mich durch!«
»Nein, Madam — aber Sarah —«
Millicent Duke streckte ihre zwei schlankem weißen Hände aus und stieß den Wirth mit einer Kraft, die ihr Niemand zugetraut hätte, aus dem Wege. Sie flog die Treppe hinauf nach dem blauen Zimmer, auf dessen Schwelle ihr Mrs. Sarah Pecker entgegentrat.
Das Mädchen fiel aus die Kniee, während ihr aufgelöstes Haar um ihre Schultern wallte.
»Sarah, Sarah, liebe, gute Sarah, laß mich ihn sehen.«
»Nicht Euch, nicht Euch, noch irgend Jemanden,« sagte die Wirthin in entschiedenem Tone — »Euch am wenigsten von allen Personen, Mrs. George Duke.«
Der Name traf sie wie ein Schlag und sie schauderte unter demselben.
»Laßt mich ihn sehen! — laßt mich ihn sehen!« sagte sie, »seines Vatersbruders einzige Tochter, seine nächste Verwandte — seine Spielgenossin — seine theure und liebende Freundin —«
»Die seine Frau hätte werden sollen,« unterbrach sie Mrs. Pecker.
»Ja, die niemals die Frau eines Andern hätte werden sollen, sondern feine liebende, treue und glückliche Frau. Laßt mich ihn sehen!« rief Millicent, ihre gefalteten Hände flehend emporhebend.
»Der Doktor ist im Zimmer, wollt Ihr, daß er Euch hört, Mrs. Duke?«
»Wenn mich die ganze Welt hörte, so würde ich nicht aufhören, Euch zu bitten. Sarah, laß mich meinen Cousin, Darrell Markham, sehen!«
Die Wirthin, die ein Licht in der Hand hielt, wurde, indem sie auf das jammervolle Gesicht und die thränenvollen Augen, die durch das hereinhängende goldene Haar fast geblendet wurden, niederblickte, ein wenig erweicht.
»Miß Millicent,« sagte sie, »der Doktor hat verboten, daß ein sterbliches Geschöpf in seine Nähe kommt — der Doktor hat verboten, daß eine sterbliche Seele ein Wort zu ihm spreche, das ihn beunruhigen und aufregen könnte — und glaubt Ihr, der Anblick Eures Gesichts würde ihn nicht aufregen?«
»Aber er hat mich zu sehen verlangt, Sarah, er hat von mir gesprochen.«
»Wann, Miß Millicent?«
Von Mitleid erfüllt für dieses jammervolle Gesicht, das zu ihr emporblickte, nannte die Wirthin die Tochter ihres verstorbenen Gebieters nicht mehr bei dem neuen, harten und grausamen Namen der Mistreß Duke. »Wann, Miß Millicent?«
»Diesen Abend — diesen Abend, Sarah.
»Master Darrell hätte gewünscht, Euch zu sehen! Wer hat Euch das gesagt?«
»Capitän Duke.«
»Master Darrell hat diesen Abend nicht mehr als ein Dutzend Worte gesprochen, Miß Millicent, und diese Worte waren unsinnige Worte. Er hat nicht ein einziges Mal Euren Namen genannt.«
»Aber mein Mann hat doch gesagt —-«
»Der Canitän schickt Euch also her?«
»Nein, nein, er hat mich nicht hergesendet. Er hat mir gesagt —- oder wenigstens zu verstehen gegeben, daß Darrell von mir gesprochen — daß er mich zu sehen verlangt hat.«
»Euer Mann ist ein seltsamer Herr, Miß Millicent.«
»Laßt mich ihn sehen, Sarah, laßt mich ihn nur sehen. Ich will kein Wort sprechen, keinen Seufzer ausstoßen; laßt mich ihn nur sehen.«
Mrs. Pecker zog sich einige Augenblicke in das blaue Zimmer zurück und flüsterte dem Arzte etwas zu. Nach einigen Minuten kehrte sie in Begleitung des Doktors, welcher die Treppe hinunterging, um in der Küche nach einem Trank zu sehen, den er für seinen Patienten verordnet hatte, zurück.
»Wenn Ihr auf einen leblosen Körper blicken wollt, so könnt Ihr hereinkommen, Miß Millicent, denn er liegt so still wie ein solcher,« sagte Mrs. Pecker.
Sie ergriff das Mädchen beim Arm und führte es in das Zimmer, wo Darrell Markham, einem hellen Kaminfeuer gegenüber, bewußtlos aus einem großen Himmelbett lag. Millicent wankte an die Seite des Lagers, setzte sich in den Armstuhl, den Sarah Pecker bisher eingenommen hatte, ergriff Darrell Markhams Hand und drückte sie an ihre zitternden Lippen. Es schien, als ob etwas Magisches in diesem sanften Druck läge, denn des jungen Mannes Augen öffneten sich seit der Scene in der Halle zum ersten Mal und blickten auf seine Cousine.
»Millicent,« sagte er ohne Ueberraschung, »liebe Millicent, es ist so gut von Dir, daß Du bei mir wachst.«
Sie hatte ihn vor drei Jahren während einer gefährlichen Krankheit gepflegt, und es war kaum auffallend, wenn er in seinem Delirium die Gegenwart mit der Vergangenheit verwechselte, indem er glaubte, daß er sich in seinem alten Zimmer in Compton Hall befände und daß seine Cousine an seinem Bette wache.
»Ruf meinen Onkel, ruf den Squire", sagte er, »ich wünsche ihn zu sehen,« und dann nach einer Pause murmelte er für sich: »das ist doch nicht das alte Zimmer; es muß es Jemand verändert haben.«
»Master Darrell,« rief die Wirthirn »wißt Ihr denn nicht, wo Ihr Euch befindet? Bei Freunden, Muster Darrell, bei treuen und aufrichtigen Freunden. Wißt Ihr denn nicht?«
»Ja, ja,« sagte er, »ich weiß, ich weiß. Ich habe lange in der Kälte draußen gelegen und mein Arm ist verletzt. Ich erinnere mich setzt, Sally, ich erinnere mich; aber ich habe ein sonderbares Gefühl in meinem Kopfe und ich kann nicht sagen, wo ich bin.«
»Seht her, Master Darrell, hier ist Mrs. Duke, die in dieser bitterkalten, finstern Nacht den weiten Weg vom andern Ende der Stadt hierher gekommen ist, um Euch zu sehen.«
Die gute Frau sagte dies, um dem Kranken eine Freude zu machen; aber die Erwähnung des Namens Duke erinnerte den jungen Mann an die Heirath seiner Cousine und er rief mit Bitterkeit aus:
»Mrs. Duke! Ja, ich erinnere mich’s, und dann den Kopf aus dem Kissen umdrehend, sagte er mit plötzlicher Heftigkeit: »Millicent Duke! Millicent Duke, weshalb kommst — Du hierher, um mich mit Deinem Anblick zu peinigen?«
In diesem Augenblicke erhob sich der Ton eines Wortwechsels in dem Hausflur unten, gefolgt von raschen Fußtritten auf der Treppe. Mrs. Pecker eilte nach der Thüre, aber ehe sie dieselbe erreichen konnte, wurde sie heftig aufgerissen und der Capitän des Vultur trat in das Zimmer. Ihm auf dem Fuße folgte der Arzt, der sogleich an das Bett ging, indem er mit halbunterdrücktem Zorn ausrief:
»Ich protestire dagegen, Capitän Duke, und wenn etwas Schlimmes daraus entstehen sollte, so mache ich Euch dafür verantwortlich.«
Der Capitän nahm keine Notiz von der Rede, sondern wandte sich an seine Frau und sagte in rohem Tone:
»Wird es Euch anstehen, mit mir nach Hause zu gehen, Mrs. Millicent? Es ist fast vier Uhr und das Zimmer eines kranken Gentlemans ist zu solcher Zeit kaum ein passender Ort für eine Dame.«
Darrell Markham richtete sich im Bette empor und rief mit krampfhaftem Lachen:
»Ich sage Dir, das ist der Mann, Millicent; Sarah, sieh ihn an. Das ist der Mann, der mich auf Compton Moor angehalten —- der Mann, der mich in den Arm geschossen — der Mann, der mir meine Briefe geraubt hat.«
»Darrell! Darrell!« rief Millicent, »Du weißt nicht, was Du sagst. Der Mann ist mein Gatte.«
»Dein Gatte! Ein Straßenräuber! ein —«
Das Wort, das noch auf Mr. Markhams Lippe war, blieb ungesprochen, denn er fiel bewußtlos auf das Kissen zurück.
»Capitän George Duke,« sagte der Arzt, seine Hand auf den Puls seines Patienten legend, »wenn dieser Mann stirbt, so habt Ihr einen Mord begangen.«

Drittes Capitel.
Rückblicke.
John Homerton, der Grobschmied, sagte nur die Wahrheit, wenn er behauptete, daß der junge Squire, Ringwood Markham, sich in London ruinire. Wenn auch die einfachen Landbewohner die Gefahren und Laster der Hauptstadt leicht übertreiben, so war doch, was der ehrliche Meister Homerton sagte, keine Uebertreibung, denn der junge Squire eilte mit schnellen Schritten auf der glatten und bequemen Straße dahin, die als der Weg zum Ruin bekannt ist.
Ringwood Markham war drei Jahre älter als seine Schwester Millicent und sechs Jahre jünger als sein Cousin Darrell, denn der alte Squire Markham hatte spät im Leben geheirathet und kurz nach seiner Hochzeit den kleinen Darrell adoptirt. Dieser war das einzige Kind seines jüngeren Bruders, der frühzeitig gestorben war und seinem Waisenknaben ein kleines Vermögen hinterlassen hatte.
Ringwood Markham hatte in seinem Aeußern große Aehnlichkeit mit seiner Schwester. Er besaß dasselbe blaßgoldene Haar, dieselben tiefblauen, glänzenden Augen, dieselben feinen Züge und dieselbe weiße und rosige Hautfarbe. Aber jene Art Schönheit, welche reizend an einem Mädchen von Neunzehn ist, war viel zu weibisch an einem Manne von Zweiundzwanzig, um gefallen zu können, und der alte Squire sah mit Verdruß seinen geliebten Sohn zu nichts Besserem als zu einem hübschen Knaben, zu einem puppenhaften Gecken aufwachsen, die Bewunderung von einfältigen Schulmädchen und überspanntem mittelalterlichen Frauen.
Ringwood war stets der Günstling seines Vaters gewesen, selbst mit Ausschluß der reizenden, liebenswürdigen und liebenden Millicent, und als Darrell zum Mann heranwuchs, kränkte es den alten Squire, in dem älteren Cousin einen muthigen, kühnen und kräftigen Jüngling zu sehen, der sich in allen männlichen Uebungen auszeichnete, während Ringwood nur an sein hübsches Gesicht und an seinen gestickten Rock dachte, und den glänzenden Griff seines Schwerts mehr liebte als die Klinge.
Es war hart für den Squire, sich die demüthigende Wahrheit bekennen zu müssen; aber die Thatsache ließ sich nicht in Abrede stellen, daß Ringwood Markham ein Feigling war.
Der alte Mann verbarg seine Kränkung in dem Innern seines Herzens und mit einem Gefühl von Ungerechtigkeit, welches eine der Schwächen leidenschaftlicher Liebe ist, haßte er Darrell, weil derselbe seinem Sohne überlegen war.
So kam es, daß sich das blasse Gesicht des Kummers zuerst in der kleinen Familiengruppe zu Compton Halt zeigte.
Darrell und Millicent hatten einander von Kindheit an geliebt und sie liebten einander so offen und aufrichtig, daß sie in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes vielleicht niemals Liebende gewesen waren.
Sie hatten keine koketten Eifersüchteleien, keine reizenden Zwiste und noch reizendere Versöhnungen, keine verstohlenen Zusammenkünfte im Mondschein, keine Vermittlung von bestochenen Kammerzofen, welche mit der Besorgung parfümirter Liebesbriefe beauftragt waren. Nein, sie liebten einander ehrlich und offen mit einer ruhigen, unveränderten Zuneigung, die so wenig Worte bedurfte, daß vielleicht Niemand von der Tiefe und Stärke dieser stillen Leidenschaft eine Ahnung hatte.
Wenn der Squire diese wachsende Neigung zwischen den jungen Leuten auch wahrnahm, so that er doch nichts, um sie zu begünstigen oder zu entmuthigen. Um Millicent hatte er sich ohnehin nie viel bekümmert. Sie und ihr Bruder waren die Kinder einer Frau, die er wegen ihres schönen Vermögens geheirathet hatte und die unbeachtet und unbetrauert — Einige sagten, am gebrochenen Herzen — gestorben war, bevor Millicent ihr erstes Jahr vollendet hatte.
So verliefen die Dinge zu Compton Hals sehr friedlich. Darrell und Millicent ritten mit einander durch die schattigen grünen Feldwege und über die weite Moorfläche, während der Squire in dem eichengetäfelten Wohnzimmer oder in dem holländischen Garten seine Pfeife rauchte und Ringwood in dem Städtchen herumlungerte, oder in der Wirthsstube des Schwarzen Bären seine Zeit zubrachte. Aus diese Weise erschien das Leben ruhig und angenehm genug, bis ein Ereigniß die ganze Sachlage veränderte.
Darrell und Ringwood Markham hatten einen heftigen Streit, bei dem auf beiden Seiten harte Worte gesprochen und Schläge ausgetauscht wurden — einen Streit, der Darrells Aufenthalt zu Compton Halt plötzlich ein Ende machte.
Wir haben gesagt, daß Ringwood Markham ein Feigling und ein Müßiggänger war. Es gab aber Leute in Compton, die ihm noch schlimmere Namen beilegten, die ihn einen herzlosen Feigling und einen Lügner nannten, und der Tag kam, wo Darrell selbst dem angebeteten Sohn des Squires diese Namen in’s Gesicht schleuderte.
Er hatte ein Liebesverhältniß zwischen Ringwood und einem siebenzehnjährigen Mädchen, der Tochter eines kleinen Farmers entdeckt, und ihm darüber Vorstellungen gemacht.
Ringwood nahm dies sehr übel auf. Es entstand ein Wortwechsel zwischen ihnen, der damit endigte, daß der junge Mann, vor Zorn seiner nicht mehr mächtig, seinem Cousin wie eine Katze an den Hals sprang und ihn zu drosseln versuchte, als ein Schlag von Darrells kräftiger Faust ihn zu Boden streckte. Dies geschah, am Hause des erwähnten Farmers, in Gegenwart von mehreren Zeugen.
Darrell kehrte nach der Halle zurück, wo er einige Kleider in seinen Sattelranzen packte und zwei Briefe schrieb, einen an seinen Onkel, worin er ihm offen genug sagte, daß er Ringwood niedergeschlagen habe, weil er die Entdeckung gemacht, daß derselbe wie ein Schurke handle, und daß er es für besser halte, wenn sie sich, da jetzt böses Blut zwischen ihnen herrsche, von einander trennten. Sein zweiter Brief war an Millicent gerichtet und fast ebenso kurz als der erste. Er setzte sie blos von dem stattgehabten Streit in Kenntniß, indem er beifügte, daß er nach London gehe, um sein Glück zu machen, und daß er seiner Zeit zurückkehren werde, um ihre Hand zu verlangen.
Er ließ die Briefe in seinem Zimmer auf dem Tisch zurück und ging hinunter in den Stall, wo er sein eigenes Pferd Balmerino fand, es bestieg und das Haus verließ, in welchem er seine ganze Jugendzeit zugebracht hatte.