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Harry grinste selbstgefällig und beobachtete Isabel während des Tanzes ganz genau. Doch kaum hatte ihr Tanz ein Ende gefunden, machte Isabel, dass sie fortkam. Entnervt verdrehte Anabel die Augen.
„Was ’n mit der?“, fragte auch sogleich Toni.
Anabel zuckte nur mit den Schultern und entschuldigte sich für das unmögliche Benehmen ihrer Freundin beim Prinzen.
Leicht geknickt nickte Harry, ehe auch er sich aus dem Staub machte. Doch sein Weg führte ihn nicht etwa zu sich nach Hause, sondern direkt zu der Wohnung von Isabel. Er musste unbedingt einmal mit ihr reden!
Leicht nervös klopfte Harry an ihre Haustür. Überraschenderweise wurde ihm sofort geöffnet. Doch statt Isabel stand ein Herr mit bereits ergrautem Haar vor ihm. „Sie wünschen?“, kam es knapp von dem stämmigen Mann mittleren Alters.
„Guten Abend, Mister Canningham?“, sagte Harry.
„Ja, der bin ich! Was wollen Sie, Euer Hoheit? Zu Isabel? Dies kann ich Ihnen leider nicht gewähren. Ich möchte Sie bitten, dass Sie meine Tochter in Ruhe lassen!“, erklärte Mister Canningham.
„Das kann ich leider nicht, denn ich müsste einmal mit ihr sprechen“, erwiderte Harry.
„Ich weiß nicht, ob Sie die simplen Worte eines einfachen Bürgers nicht verstehen, vielleicht überhören Sie sie aber auch einfach nur oder Sie bilden sich etwas auf Ihren schönen Titel ein? Doch, so oder so, sage ich es Ihnen jetzt noch einmal: Meine Tochter ist für Sie tabu!!!“
„Bitte verzeihen Sie, wenn ich diesen Eindruck auf Sie mache. Ich habe Sie schon verstanden. Doch auch ich darf mich wiederholen: Ich muss dringend einmal kurz mit Ihrer Tochter sprechen … Bitte!“, bat Harry erneut. Doch statt einer weiteren Antwort wurde ihm daraufhin einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen. Harry schloss die Augen und seufzte tief. Was sollte er nur machen? Er fühlte sich elend und völlig missverstanden. Doch ihm blieb keine andere Wahl als unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu fahren.
Als Harry im Buckingham Palast ankam, war es zwei Uhr. Doch er konnte nicht schlafen, ständig sah er Isabel geistig vor sich, wie ihre dunkelgrünen Katzenaugen ihn böse anfunkelten, und so begab er sich in die Bibliothek. Doch auch dort fand er keine Ruhe. Er war seiner Traumfrau begegnet und schon ging alles nur noch schief: Statt ihr Rosen schenken zu können rannte sie ständig vor ihm weg! Als er darüber nachsann, fing er an zu lachen. Hatte William nicht das Gleiche mit Jane damals durchgemacht? Und hatte er nicht einmal gesagt, dass er bei solch einem Terz nicht mitmachen würde? Tja, so konnten sich Meinungen ändern. Und schon machte sich Harry, mitten in der Nacht, auf den Weg zu seinem Bruder, der zurzeit in seiner Stadtwohnung in Kensington verweilte.
Völlig verschlafen öffnete William die Tür und war nicht sonderlich überrascht darüber, Harry davor stehen zu sehen. Harry hatte des Öfteren solche Anwandlungen, einfach aus Langeweile seinen Bruder mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen. Doch ein Blick in dessen Gesicht und William wusste, weswegen Harry hier war. „Du hast sie wieder einmal getroffen?“, waren auch sogleich seine Worte, ehe sich beide in die Wohnstube begaben. Harry nickte. „Und es verlief erneut anders als gewünscht?“ Abermals nickte Harry. „Geht es auch etwas genauer, denn es ist mitten in der Nacht und ich lag bereits friedlich schlafend in meinem Bett!“, beschwerte sich William.
„Entschuldige. Ja, ich habe Miss Canningham vorhin unverhofft wiedergesehen. Sie war im Club Five. Doch als ich ihr gegenübertrat, machte sie, dass sie wegkam.“
„Was hast Du denn zu ihr gesagt?“, fragte William noch nicht ganz wach.
„Nichts. Ich habe ihr nur gratuliert und ihr einen Gutschein überreicht.“ Verwirrt sah William Harry an. „Sie hat mit einer Freundin den Freestyle-Wettbewerb gewonnen. Sonst wäre sie mir im Club wahrscheinlich auch überhaupt nicht aufgefallen“, erklärte Harry sachlich.
Noch immer fragend sah William seinen Bruder an. „Und Du hast wirklich nichts weiter zu ihr gesagt?“
„Nein! Das sagte ich doch bereits! Aber nachdem sie gegangen war, bin ich ihr gefolgt.“
„Oha! Und was ist dann passiert?“ Jetzt war William hellwach.
„Nicht viel. Sie war nach Hause gegangen. Doch statt mit ihr sprechen zu können erklärte mir ihr Vater, dass ich mich zum Teufel scheren soll.“ Erneut sah William seinen Bruder irritiert an.
Harry seufzte. „Ich habe wohl keinen guten Eindruck bei Miss Canninghams Eltern hinterlassen?!“
„Aber sie kennen Dich doch gar nicht!“, erklärte William verärgert.
„Ich denke, Miss Canningham wird ihren Teil dazu beigetragen haben.“
„Na, toll!“
„Wills!“, ermahnte Harry seinen Bruder.
„Was? So wie mir scheint, hat die junge Dame es selbst faustdick hinter den Ohren. Das kommt fast einer Beleidigung nahe!“, stellte William klar.
„Was kommt einer Beleidigung nahe?“, kam es plötzlich von der Wohnzimmertür. Es war Jane, die ebenfalls noch recht verschlafen den Raum betrat. Harry seufzte.
„Oh, wir haben mal wieder nächtlichen Besuch!“, begrüßte Jane ihren Schwager.
„Hallo, Jane. Bitte verzeih, dass ich Eure Nachtruhe störe.“
„Ach, das geht schon in Ordnung; wäre ja nicht das erste Mal …“, sagte Jane leicht süffisant.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich wieder gehe“, stammelte Harry.
„Nein, Du bleibst!“, bestimmte William.
Überrascht sah Jane ihren Mann an. Wenn William Harry seinen Willen aufzwang, dann hatte das schon etwas zu bedeuten. „Was ist los?“, fragte sie daher auch sogleich.
„Es geht um Miss Canningham“, erklärte William knapp.
Jane nickte und setzte sich auf die Sessellehne zu ihrem Mann. Sie sah dabei jedoch weiterhin fragend zu Harry. Harry musste unweigerlich schmunzeln. „Ich habe sie heute wiedergetroffen und es verlief nicht ganz so, wie es hätte sein können.“
„Hast Du sie wieder einmal in die Enge getrieben?“, fragte Jane ernst.
„Jane!“, rief William entsetzt. Harry sah überrascht in die Runde.
Nun war es William, der tief und lang anhaltend seufzte. „Nein, Harry hat diesmal gar nichts gemacht, er wurde gleich an der Tür abserviert.“
„Oh … Ich würde sagen, da wollte Dich jemand nicht sehen“, stellte Jane leichtfertig fest.
„Danke, Darling, aber so weit waren wir auch schon.“
„Hach Gott! Ist ja schon gut, ich lass die Herren der Schöpfung wieder allein! Ich dachte nur, ich könnte vielleicht aus der Sicht einer Frau etwas dazu beitragen. – Falls Du Dich, mein lieber Mann, eventuell daran erinnern möchtest, dass es auch bei uns einmal eine Zeit gab, wo ich vor Dir davongerannt bin und Dich am liebsten zum Teufel gejagt hätte?! Gut möglich, dass es der jungen Lady ähnlich ergeht? Oder wie fändest Du es, erst eine ganze Woche von jemandem Dir völlig unbekannten verfolgt zu werden. Und kaum bist Du ihn los, taucht er anscheinend an jeder Straßenecke doch wieder auf!“, warf Jane schnippisch in den Raum, ehe sie sich erhob, um zu gehen.
Prompt zog William sie wieder auf seinen Schoß. „Entschuldige, Darling. – Ja, Du könntest Recht haben, was Miss Canningham betrifft“, überlegte William.
Harry fuhr sich verzweifelt mit den Händen durchs Haar. „Und was mache ich jetzt? Oder was kann ich machen, damit Miss Canningham, oder besser gesagt Isabel – so lautet nämlich ihr schöner Vorname – mich doch noch anhört?“
„Hmmm? Wie wäre es, wenn Du ihr einen Brief schreibst?“, schlug Jane vor. Fragend sahen beide Männer sie an. Jane schmunzelte. „Was? Es wäre eine Möglichkeit, Isabel – ohne dass sie mit Harry persönlich sprechen muss – mitzuteilen, warum, wieso, weshalb er wie gehandelt hat und eben, was ihm daran liegt, noch einmal mit ihr persönlich zu sprechen.“
„Und was ist, wenn ihr Vater den Brief abfängt?“, fragte Harry ängstlich.
„Wenn Du den Brief über einen Boten übergeben lässt, der ihn nur ihr persönlich aushändigen darf, denke ich, wird sie ihn auch bekommen. Was sie dann aber damit macht, steht in den Sternen. Doch vielleicht wirft sie ihn ja nicht gleich ungelesen in den Müll und antwortet Dir stattdessen bestenfalls“, erklärte Jane weiter. „Und wenn Du ganz viel Glück hast, schreit Dir als Antwort auch nicht gleich ein großes fettes ‚Nein‘ entgegen.“
„Wenn doch, dann weißt Du auf jeden Fall, woran Du bist. Und auch, wenn es noch so schmerzlich ist, wirst Du sie dann wohl oder übel vergessen müssen“, setzte William Janes Gedanken fort.
Harry seufzte, was sich jedoch in ein Gähnen verwandelte.
„Okay, ich denke, mehr gibt es vorerst dazu nicht zu sagen, und Du, Harry, machst jetzt, dass Du ins Bett kommst! Das Gästezimmer erwartet Dich bereits.“ Damit schloss Jane das nächtliche Gespräch.
„Jane?“
„Ja?“
„Danke“, waren Harrys einfache Worte darauf.
„Hey, schon gut. Als Gegenleistung erwarte ich jedoch, dass Du übernächsten Samstag Deine Nichte zum Kinderrummel begleitest!“
William fing prompt an zu lachen, während Harry – sich ergebend – Kopf und Schultern sinken ließ und nickte. Jane strahlte und hauchte ihrem Lieblingsschwager einen Kuss auf die Wange.
Als Jane am nächsten Morgen von der Toilette kam, es war gerade erst halb sechs, hörte sie ein seltsames Rascheln aus dem Gästezimmer. Vorsichtig öffnete sie die Tür und war überrascht, Harry völlig bekleidet am Sekretär sitzen zu sehen. „Guten Morgen, Harry. Darf ich fragen, was Du da machst?“
Um Harry herum lagen auf dem Boden und auf dem Schreibtisch jede Menge Papierknäuel. Harry seufzte und warf den Stift auf den Tisch. „Ich versuche einen Brief zu schreiben.“
„An Miss Canningham?”
Harry nickte.
„Und seit wann sitzt Du da schon?“, fragte Jane bereits erahnend.
„Seit ich den Raum betreten habe.“
„Aja! Und wie sieht es mit etwas Schlaf aus?“
Harry musste daraufhin sogleich gähnen.
„Kaffee?“
„Hast Du schon welchen fertig?“, fragte Harry überrascht und sah auf seine Armbanduhr.
Jane lachte. „Nein, aber ich setze welchen auf. Kommst Du mit in die Küche?“ Harry folgte ihr.
Während der Kaffee durch die Maschine lief, setzte sich Harry auf die Eckbank am Giebelfenster und unterhielt sich leise mit Jane.
„Schon was auf Papier gebracht oder alles nur Entwürfe?“
Harry grinste müde. „Mehr oder weniger. Ich schreibe was und verwerfe es dann aber doch gleich wieder. Ich weiß irgendwie nicht, wie und wo ich anfangen soll. Geschweige denn wie ich das, was mir durch den Kopf geht, in Worte fassen soll. Es klingt alles irgendwie so aufgesetzt.“
„Wie wäre es denn auch erst einmal mit einer Mütze Schlaf, ausgeruht sind Deine Gedanken garantiert geordneter. Falls nicht, schreib doch erst einmal alles nur runter, ohne Punkt und Komma. Erst einmal alles nur heraus aus dem Kopf. Danach kannst Du immer noch sortieren und überlegen, was von dem, was Dir so durch Kopf ging, Du ihr mitteilen willst“, schlug Jane vor.
„Eigentlich ist mein Problem ja gar nicht das, was ich Isabel schreiben will, sondern immer die Überlegung, was sie auf das ein oder andere erwidern würde“, gestand Harry kleinlaut.
„Oh, Harry, Dich hat es ganz schön erwischt, was?! Doch nichtsdestotrotz kannst Du nicht beeinflussen, wie Isabel auf Deine Zeilen reagieren wird. Daher sei einfach nur Du selbst: Sei ehrlich zu ihr und vor allem auch zu Dir! Du wirst sehen, wenn sie den Brief liest und Dich verstehen will, wird sie sich schon irgendwie bemerkbar machen.“
Harry seufzte. Jane schob ihm daraufhin einen großen Pott Kaffee vor die Nase und reichte ihm Briefpapier und Füller. Danach ließ sie Harry allein in der Küche zurück. Harry nahm einen Schluck von dem Kaffee und atmete noch einmal tief durch, ehe er erneut zu Stift und Papier griff und seine Gedanken einfach niederschrieb.
Drei Stunden später betrat William die Küche und war überrascht, seinen Bruder schlafend am Küchentisch vorzufinden. Vor ihm lagen mehrere beschriebene Blatt Papier. William nahm sich die Freiheit heraus und griff nach den Zetteln und las einen nach dem anderen durch. Nun endlich schien er zu begreifen, was Harry bewegte.
Die letzten drei Blatt Papier waren dann auch der Brief an Miss Canningham:
Isabel,
ich weiß nicht, ob Du bereits nach dem dritten Wort wieder aufgehört hast zu lesen oder ob meine Worte überhaupt bei Dir Gehör finden.
Ich weiß auch nicht, ob der Brief nicht schon längst durch den Reißwolf gewandert ist oder nur in irgendeiner Ecke zerknüllt herumliegt.
Ich hoffe, nichts von dem ist der Fall. Stattdessen hoffe ich, dass Du Dir die Zeit nimmst und meine Zeilen liest. Es sind Gedanken, die mir auf der Seele brennen und vielleicht kannst Du sie auch ein wenig verstehen … Denn dieser Brief scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, mich Dir mitzuteilen, nachdem Dein Vater mich letzte Nacht recht forsch der Tür verwiesen hat. Ich kann es sogar nachvollziehen, denn bislang verlief irgendwie so ziemlich alles anders als erwartet; falls man das überhaupt so bezeichnen kann?
Isabel. – Ein wirklich schöner Name …
Es tut mir übrigens leid. Es tut mir leid, dass bei unserem ersten Aufeinandertreffen Deine Spieluhr zu Bruch gegangen ist. Ich weiß, ich kann dies unmöglich wieder gut machen und noch weniger kann ich die Zeit zurückstellen, was ich am liebsten täte.
Ich denke, für uns beide war dies kein guter Tag. Ich war in Eile und Du schienst auch schon vor meinem Rempler gereizt. Ich war dann nur noch das I-Tüpfelchen des Ganzen.
Ich möchte mich diesbezüglich auch noch einmal in aller Form bei Dir entschuldigen.
Und auch, wenn Du mich für einen arroganten Pinsel hältst, muss ich dazu sagen, dass ich Dir nur deshalb nicht geholfen habe, weil ich so perplex über Deine Ausdrucksweise und Deine Schimpftiraden war: So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen – nicht einmal meine Großmutter! Du hast mich einfach so verwirrt, dass ich nur wie ein kleiner dummer Junge daneben stehen und Dich anstarren konnte.
Das mit Deiner Spieluhr habe ich auch erst viel später mitbekommen, als ich über ihre Reste gestolpert bin. Es befinden sich noch immer der Holzsockel und das Spieluhrmagazin in meinem Besitz. Ich würde sie Dir gerne persönlich wiedergeben.
Beim letzten Mal wurden wir ja leider dabei unterbrochen.
Apropos letztes Mal:
Es muss Dir wirklich schon sehr merkwürdig vorkommen, dass egal, wo Du hingehst oder hinschaust, ich ständig Deinen Weg kreuze …
Eines sei Dir aber versichert, es ist alles nur reiner Zufall; keine Angst, ich verfolge Dich nicht und lasse Dich auch nicht mehr beschatten! Das gestern im Club war auch nur ein Zufall.
Ich bin recht oft dort, da ich den Besitzer zu meinem Freundeskreis zählen darf. Er war auch derjenige, der vorgeschlagen hat, dass ich den Hauptpreis überreichen soll. Ich muss gestehen, als ich erfuhr, wer gewonnen hat, konnte ich dem auch nicht widerstehen.
Bitte verzeih!
Und falls ich Dich etwas zu grob angefasst haben sollte, tut es mir leid. Aber Du hattest keinen Grund davonzulaufen! Ich wollte Dir wirklich nur Deinen Preis übergeben und Dir gratulieren.
Übrigens, ich kann mich nur wiederholen: Du tanzt gut. Es hat mir sehr gefallen, was Du und Deine Freundin vorgeführt habt. Ich hoffe, Du lässt den Gutschein nicht verfallen. Denn nicht ich habe ihn gesponsert, sondern der Club! Ich war dort gestern auch nur ein Gast.
Aber das nur nebenbei.
Solltest Du tatsächlich bis hier gelesen haben, möchte ich Dir noch eines mitteilen: Falls Du nämlich der Meinung sein solltest, dass ich diesen Brief nur deshalb geschrieben habe, um so mein Gewissen zu beruhigen und an Deines zu appellieren, dass Du Dich nicht doch noch an die Presse wendest, sei Dir gesagt, dass ich es a) eh nicht verhindern könnte, wenn Du dieses wolltest und b) es mir nun auch egal wäre. Doch ich vertraue Dir.
Warum, weiß ich selbst nicht so genau; aber ich weiß, dass es so ist!
… und so bleibt nur noch eine Frage offen:
Bist Du gewillt, mir noch einmal gegenüberzutreten, damit ich Dir die Reste der Spieluhr übergeben kann? Ich weiß, ich könnte Sie Dir auch per Post schicken, oder gar über den Boten, der Dir diesen Brief überbracht hat, zukommen lassen. Doch um ehrlich zu sein, habe ich Angst, dass sie so noch gänzlich verschüttgehen. (Auch wenn das im Grunde völliger Blödsinn ist.) Der eigentliche Grund ist der, dass ich gerne noch einmal ein paar Worte mit Dir würde wechseln wollen …
Wie auch immer Deine Antwort ausfallen sollte. Es wäre nett, wenn Du sie mir in irgendeiner Form zukommen lassen könntest.
Danke, Harry.
Kapitel 4
„Onkel Harry, Onkel Harry! Zum Karussell! Ich will zum Karussell!“, schrie Klein Marie und zog energisch an dem Arm von Prinz Harry, der Marybeth wie versprochen zum Kinderrummel eine Woche vor Weihnachten begleitete.
Nachdem Marybeth bereits zum vierten Mal mit ein und demselben Kinderkarussell gefahren war, rannte sie nun herüber zu den Ponys. „Ich auch! Bitte, Onkel Harry! Mami, darf ich?!“, bettelte Marie. Prinzessin Jane lachte und ließ Harry mit seiner Nichte allein.
Während Harry darauf acht gab, dass Marybeth nicht vom Pferd fiel, wanderte Jane durch die aufgestellten Pavillons und machte eine Entdeckung: Um zwei Uhr gab es im großen Zelt eine kleine Zirkusvorstellung, gefolgt von einer Märchenstunde, die eine gewisse Lindsay Canningham durchführte. Canningham? So hieß doch auch Isabel mit Familiennamen! Jane lächelte verschmitzt, denn sie hatte so eine Vorahnung und lief zu ihrer Tochter und Harry herüber. „Marie, dort drüben kommen gleich die Clowns, die magst Du doch so gerne. Wollen wir hinübergehen?“
„Au ja!“, erwiderte Marybeth begeistert.
Harry seufzte. „Oh weh, was tust Du mir nur an, Jane?!“
„Was hast Du denn? Lachen ist gesund! Im Übrigen könntest Du auch mal wieder ein paar Glückshormone ganz gut gebrauchen. Und ich denke, Marie ist die beste Ablenkung für Dich!“, erklärte Jane simpel.
„Danke, das ist zu gütig von Dir! – Ich wäre ja schon froh, wenn ich wüsste, ob Isabel meinen Brief wenigstens gelesen oder gleich zerrissen hat …“
„Harry, sei nicht so ungeduldig! Lass ihr Zeit. Wenn Du sie bedrängst, bewirkst Du doch nur das Gegenteil von dem, was Du eigentlich willst.“
Bevor Harry erneut etwas darauf erwidern konnte, rief Marybeth bereits wieder nach ihnen: „Onkel Harry, Mami … die Clowns!!!“
Gemeinsam betraten sie das Festzelt.
Während sich Marie in die erste Reihe zu den anderen Kindern setzte, machten es sich Jane und Harry im hinteren Bereich auf einer der Bänke bequem. Zu Janes Freude amüsierte sich Harry genauso köstlich wie ihre Tochter über die zwei Kasper in der Mitte der Manege. Doch plötzlich wurde es dunkel im Zelt und man konnte an der Decke goldene Sterne tanzen sehen. Es war Zeit für die Märchenstunde.
Eine Dame mittleren Alters, mit goldenem, langem Haar, einem spitzen Hut mit Schleicher, sowie einem seidigen Kleid wurde von zwei Pagen in die Manege getragen. In einer Hand hielt sie einen Feen-Zauberstab und in der anderen ein dickes Märchenbuch. Harry lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Endlich saß Marybeth einmal völlig ruhig und gespannt auf dem Boden und sah erwartungsvoll wie alle anderen Kinder die Märchenfee an. Doch abrupt öffnete Harry die Augen wieder, als er die Stimme der Märchenfee hörte. Irritiert sah er der Frau in der Mitte des Zeltes ins Gesicht. Harry sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.
Während die Märchenfee den kleinen Kindern das Märchen vom Nussknacker erzählte, beobachtete Jane Harry ganz genau. „Was ist los?“, flüsterte sie.
„Die Frau da vorne spricht genauso wie Isabel, und sie sieht, einmal abgesehen von den Haaren, auch fast aus wie sie; nur halt älter“, sagte Harry zu Jane.
„Bist Du Dir da ganz sicher?“
„Ich denke schon …“
Während Harry weiter darüber grübelte, ob es sich bei der Frau um eine Verwandte von Isabel handeln könnte, schaute die Märchenfee parallel ebenfalls in regelmäßigen Abständen zu Harry herüber.
Nachdem das Märchen vorbei war, wurde das Zelt wieder hell erleuchtet und die Kinder strömten schnell wieder nach draußen. Außer Marybeth, sie saß noch immer gebannt vor der Frau in der Manege. „Bist Du wirklich eine Fee?“, fragte Klein Marie auch sogleich die Geschichtenerzählerin.
Die Dame lächelte: „Schon möglich. Hast Du denn einen Wunsch, der erfüllt werden soll?“
„Ja, ich möchte, dass mein Onkel wieder lacht und fröhlich ist und ganz viel Quatsch mit mir macht!“, offenbarte Marie. Jane und Harry, die sich zu Marie begeben hatten, blieben abrupt stehen und starrten entsetzt zu der Frau herüber.
„Oh! Das ist aber ein sehr großer Wunsch. Hast Du denn Deinen Onkel schon einmal gefragt, warum er mit Dir nicht mehr so viel herumalbert?“
„Papi sagt immer, Onkel Harry hat keine Zeit. Und Mami hat mir verraten, dass Onkel Harry traurig ist.“
„Marybeth!“, kam es von Jane völlig fassungslos. Ihre Tochter war doch erst vier! Die Märchenfrau lächelte freundlich die Hoheiten an und winkte Harry wie Jane zu sich herüber.
„Mami, warum ist Onkel Harry traurig? Hat er mich nicht mehr lieb?“
„Oh Marie, nicht doch! Natürlich habe ich Dich ganz doll lieb! Du bist doch meine kleine Prinzessin!“, antwortete Harry für Jane und hob seine Nichte auf den Arm. „Weißt Du, Marybeth, Erwachsene sind manchmal einfach nur so traurig, weil sie allein sind und keinen zum … zum Spielen haben.“
„Aber Du kannst doch mit mir spielen!“, protestierte Marie.
Harry lächelte. „Ja, das ist richtig. Aber Du bist ja nicht immer in meiner Nähe und zudem möchten Deine Eltern doch auch mit Dir spielen. Und immer dann … ehm …“
„Marybeth, Du bist doch Onkel Harrys kleine Prinzessin, nicht wahr?“, unterbrach Jane Harrys Erklärungsfindungen. Marybeth nickte begeistert. „Doch Dein Onkel hätte auch gerne eine große Prinzessin bei sich.“
„So wie Du?“, fragte Marie traurig.
Jane nickte. „Ja, so wie ich.“
„Liebe Fee, kannst Du eine große Prinzessin für meinen Onkel herbeizaubern? Damit er wieder lacht?“, fragte Marybeth hoffnungsvoll.
Die Märchenfee lächelte und meinte dann: „Na, mal schauen, was ich machen kann. Doch ich kann Dir nicht versprechen, dass Dein Wunsch von heute auf morgen in Erfüllung geht. Aber vielleicht kann ich Deinen Onkel überreden, nicht mehr ganz so traurig zu sein?!“
„Au ja!“, schrie Marybeth. Prompt wurde Harry knallrot.
„So, komm, meine kleine Maus. Wir gehen jetzt wieder nach draußen zu den Ponys und lassen Onkel Harry und die Märchenfee einmal allein“, sagte Jane und nahm ihre Tochter an die Hand.
Kaum waren Jane und Marybeth aus dem Zelt, kamen erneut die zwei Pagen und trugen die Geschichtenerzählerin auf ihrer Sänfte in den hinteren Teil des Zeltes. „Würden Sie mich begleiten, Euer Hoheit?“, fragte die Dame währenddessen freundlich. Leicht unsicher folgte Harry den zwei Pagen, die die Märchenfee kurzerhand in einen Rollstuhl setzten. Harry starrte die Frau im Rollstuhl irritiert an. „Euer Hoheit?!“
„Verzeihung, Miss …“
„Misses … Canningham. – Ja, ich bin Isabels Mutter.“
Harry schwirrte der Kopf, er musste sich erst einmal setzen. Da nichts anderes greifbar war, nahm er die Sänfte. „Euer Hoheit, was geht Ihnen gerade durch den Kopf?“, fragte Misses Canningham daraufhin.
„Ich weiß nicht so genau, irgendwie überschlägt sich gerade alles“, gestand Harry.
„Weil ich im Rollstuhl sitze oder weil ich Isabels Mutter bin?“
„Ähh, beides irgendwie …“
„Dass ich im Rollstuhl sitze, muss Sie nicht belasten. Das tue ich bereits seit mehr als neun Jahren.“ Harry schluckte. „Ich habe mich damit abgefunden und lebe mein Leben so, wie es nun einmal ist. Also grübeln Sie nicht länger darüber nach. Ich denke, es würde Sie wahrscheinlich auch viel mehr interessieren, ob meine Tochter Ihren Brief gelesen hat und wie ihre Reaktion darauf war?!“ Harry hielt hörbar die Luft an. Misses Canningham fing unweigerlich an zu schmunzeln. „Um es kurz zu machen: Bevor meine Tochter Ihren Brief las, habe ich ihn gelesen. Denn Isabel hat nichts anderes getan als ihn nach Empfang sofort in den Papierkorb zu werfen.“ Harry schluckte erneut und kämpfte mit den Tränen, die ihm unweigerlich in die Augen traten, was ihm mehr als peinlich war.