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„Ich kann Ihnen auch sagen, warum meine Tochter Ihren Brief sofort wegwarf: Sie war, oder besser gesagt ist immer noch wütend.“ Fragend hob Harry eine Augenbraue. „Sie ist wütend auf Sie, wütend auf sich selbst und sie ist wütend auf die ganze restliche Welt. Denn bislang hat in ihrem Leben noch nicht alles so geklappt, wie sie es sich gern vorgestellt hat und ihr Vater ist nicht gerade jemand, der sie tröstet oder unterstützt. Eher haut er noch einmal ordentlich kräftig oben drauf!“ Verwirrt starrte nun Harry die Dame vor sich an.
Unweigerlich fing Misses Canningham erneut an zu schmunzeln. „Verzeihen Sie, Euer Hoheit, ich glaube, ich sollte von vorn und nicht mittendrin anfangen zu erzählen …“
Harry nickte.
„Nachdem Isabel ihren Abschluss gemacht hat, wollte sie Friseurin werden. Doch ihr Vater war von Anfang an dagegen. – Mein Mann ist ein sehr strenger Mensch, wenn es um das Wohl seines Fleisch und Blutes geht, müssen Sie wissen. Und als Isabel eines Tages mit kurzen, wasserstoffblondgefärbten Haaren ankam, gab es erst einmal mächtigen Zoff. Als sich dann auch noch herausstellte, dass Isabel den Beruf einer Friseurin gar nicht erlernen konnte, da sie eine Allergie gegen bestimmte chemische Färbungsmittel hat, knallte es erneut heftig zu Hause.“
Misses Canningham machte eine kurze Pause. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Prinz ihr noch immer aufmerksam zuhörte, erzählte sie weiter: „Als Nächstes hatte Isa den fixen Gedanken ein Medizinstudium zu beginnen. – Was sie dazu verleitet hat, ist mir bis heute nicht ganz schlüssig! – Aber wie sollte es auch anders sein: Nach einem halben Jahr brach Isabel das Studium wieder ab, da sie laut eigener Aussage mit den Anforderungen nicht zurechtkam.“
„Lassen Sie mich raten, und erneut gab es Streit mit ihrem Vater?!“, warf Harry ein.
Misses Canningham schmunzelte. „Ja, leider. Aber nun dachte ich, es wird doch noch am Ende alles gut, als sie sich von heute auf morgen als Kinderbetreuerin selbstständig machte. Natürlich gab es auch hier erst einmal wieder eine heftige Auseinandersetzung; diesmal ging es jedoch vielmehr um den ganzen finanziellen Kram. Denn zwischenzeitlich hatten sich Vater und Tochter wieder eingekriegt und meine Tochter schien glücklich mit ihrem Beruf. Leider kam nun unverhofft eine Situation, mit der wohl keiner von uns gerechnet hatte. Denn ihr wurden von heute auf morgen die Räumlichkeiten der Kindertagesstätte gekündigt! Und sie gibt Ihnen – verzeihen Sie –, Euer Hoheit, daran die Schuld. Denn es war genau die Zeit, nachdem sie Sie kennen und zu beschimpfen gelernt hat“, erklärte Misses Canningham sachlich.
„Und was, bitte schön, habe ich mit der Kündigung zu tun?“, fragte Harry, der nur Bahnhof verstand.
„Der Vermieter des Hauses ist die Majestäts-Wohnungsbaugesellschaft. Kennen Sie die rein zufällig?“, fragte Isabels Mutter.
„Nicht persönlich, einer meiner Onkel steckt da irgendwie mit drin. Aber jetzt kann ich eins und eins zusammenzählen.“
„Genau, Isabel ist der festen Überzeugung, dass Sie für die Kündigung verantwortlich sind.“
Seufzend schüttelte Harry den Kopf.
„Ich habe mir schon gedacht, dass Sie nichts damit zu tun haben. Aber nachdem, was zwischen Ihnen und meiner Tochter vorgefallen zu sein scheint, kann ich Isabels Reaktion nur verstehen. Ich hätte den Brief auch ungelesen weggeworfen!“ Unsicher blickte Harry zu Misses Canningham. „Wie schon erwähnt, hat meine Tochter zwischenzeitlich Ihren Brief gelesen. Allerdings ist sie derzeit nicht gewillt, Sie wiederzusehen. Es tut mir leid.“
Harry schluckte, nickte aber. „Darf ich Sie trotzdem nach Hause bringen, oder werden Sie abgeholt?“, fragte Harry daraufhin.
„Nein, werde ich nicht. Danke, ich nehme Ihr Angebot gerne an. Ich habe gleich gewusst, dass Sie nicht der Wüstling sind, den meine Tochter gern zu beschreiben meint!“ Unweigerlich musste Harry grinsen und auch Misses Canningham lächelte zuversichtlich.
Bevor Harry Isabels Mutter bis zu ihrer Haustür brachte, saßen beide noch eine ganze Weile im Auto und unterhielten sich über das Problem mit der Raumkündigung. Harry hatte die Idee, Isabel für die gleichen Konditionen neue Räumlichkeiten zu besorgen, ohne dass sie davon erfuhr, wer der Initiator war. Im Gegenzug wollte Misses Canningham versuchen, die Eltern der fünf Kinder dazu zu bringen, Isabel ihre Kinder wieder anzuvertrauen. Beide hatten die Hoffnung, dass sich Isabel dann eventuell wieder beruhigen würde und Harry eine Chance gab, sich ihr noch einmal in einem ungestörten Gespräch mitzuteilen.
„Misses Canningham, ich danke Ihnen für die aufschlussreiche Unterhaltung und wünsche Ihnen und Ihrer Familie bereits jetzt besinnliche Weihnachtsfeiertage. Sie melden sich bei mir?“, sagte Harry. Misses Canningham nickte und bedankte sich ebenfalls für die Heimfahrt.
Kaum war Harry wieder in seinen eigenen vier Wänden, als er sich auch schon mit seinem Onkel, Prinz Edward, in Verbindung setzte und abklärte, warum das Haus in der Jonesstreet abgerissen werden sollte und ob dieser ein paar gute Adressen für eine Kindestagesstätte hätte. Prinz Edward war zwar mehr als überrascht über die Anwandlungen seines Neffen, aber er half ihm gern. Und gemeinsam fanden Harry und Prinz Edward eine Immobilie, die Harry als sehr geeignet für eine Tagesmutter hielt. Er konnte es kaum mehr erwarten, dass sich Misses Canningham bei ihm meldete.
Leider zögerte sich der Anruf noch fast eine ganze Woche hinaus. Als dann Harrys Telefon klingelte, konnte er mit der Nummer, die angezeigt wurde, überhaupt nichts anfangen und ließ daher seinen Sicherheitsbeauftragten das Gespräch entgegennehmen. „Guten Tag, mein Name ist Lindsay Canningham, ich hätte gern Seine Hoheit, Prinz Harry, gesprochen. Wir haben einen Telefontermin.“
Als Harry hörte, wer ihn sprechen wollte, hellte sich sein Gesicht sofort auf. „Hallo Misses Canningham, es freut mich, dass Sie es doch noch geschafft haben, mich zu erreichen.“
„Verzeihen Sie, Euer Hoheit, dass mein Anruf später als erwartet kommt. Aber erst einmal musste ich ein leeres Haus haben, um mit Ihnen ungestört reden zu können. Mein Mann ist für zwei Tage auswärts unterwegs und Anabel hat es nun doch noch geschafft, meine Tochter zu einem Aquariumbesuch zu überreden. Wir sind jetzt also ungestört. Konnten Sie etwas erreichen?“, fragte Misses Canningham sodann.
„Ja, das konnte ich! Ich habe ein nettes Haus unweit der Jonesstreet gefunden, in dem man eine Kindertagesstätte einrichten könnte. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich vielleicht die Räumlichkeiten einmal anschauen wollen?“, überfiel Harry die Mutter von Isabel auch sogleich.
„Oh, so schnell? Gern sehe ich mir die Räumlichkeiten einmal an. Ich kenne den Eigensinn meiner Tochter ganz gut und kann somit abschätzen, ob sie damit einverstanden wäre. Wann soll ich denn dort hinkommen?“, fragte Misses Canningham.
„Wenn es Ihnen zeitlich passen würde, am besten sofort! Ich würde Sie auch abholen lassen; wenn Sie möchten?“, erklärte Harry.
„Nein, ich habe nichts dagegen, schließlich werde ich selten mit einer Limousine durch die Gegend kutschiert! Geben Sie mir eine halbe Stunde?“, fragte Misses Canningham hörbar amüsiert.
„Sehr gerne; in gut dreißig Minuten holt Sie sodann mein Fahrer ab und bringt Sie in die Middleroad.“
Gesagt, getan. Eine knappe Stunde später fanden sich Lindsay Canningham und Prinz Harry in dem Erdgeschoss des Hauses in der Middleroad ein. Isabels Mutter war von den Räumlichkeiten begeistert. Es gab sogar einen großen gartenähnlichen Innenhof mit Spielwiese und einem Kinderspielplatz. Ideal für die fünf kleinen Kinder von Isabel. Des Weiteren war das Haus gerade frisch saniert worden und hatte einen nagelneuen hellen Anstrich erhalten.
Misses Canningham standen vor Freude die Tränen in den Augen. „Und meine Tochter kann hier wirklich für die gleichen Konditionen wie in dem alten Haus einziehen?“, fragte sie daraufhin ungläubig.
„Ja, versprochen ist versprochen! Mein Onkel lässt übrigens ausrichten, dass das Haus in der Jonesstreet tatsächlich abgerissen werden muss, auch wenn es von der Struktur noch völlig intakt ist. Es steht jedoch auf feuchtem Untergrund und kann somit jederzeit wegsacken. Es ist einfach zu gefährlich! Hätte er gewusst, dass dort eine Kindertagesstätte ihre Räumlichkeiten innehat, hätte er sich sogleich persönlich darum bemüht gleichwertigen Ersatz zu finden.“
Misses Canningham lächelte abermals. „Die Wohnungsbaugesellschaft hat meiner Tochter gleichartige Räume angeboten, jedoch zu Mietpreisen, die sich meine Tochter leider nicht leisten kann.“
Prompt wurde Harry knallrot und räusperte sich. „Konnten Sie die Eltern der fünf Kinder zwischenzeitlich schon umstimmen, dass sie ihre Kinder Isabel wieder anvertrauen?“, fragte Harry anschließend, um das Gespräch wieder ein wenig umzulenken.
Misses Canningham schmunzelte. „Nicht nur das, ich habe sogar noch ein weiteres Kind hinzuziehen können! Meine Tochter wird also in zwei Wochen nicht nur fünf, sondern ganze sechs Kinder zu betreuen haben. Ich denke, wenn ich ihr diese Botschaft heute Abend überbringe, wird Isabel wieder lächeln. Und wenn Sie ihr dann noch ein wenig Zeit geben, wird sich sicherlich auch bald Ihrer beider Problem wieder in Luft auflösen.“
Harry nickte hoffnungsvoll. Danach drückte Harry Misses Canningham den bereits von der Majestäts-Wohnungsbaugesellschaft unterzeichneten Mietvertrag in die Hand und begleitete sie noch bis zum Wagen, der sie wieder sicher nach Hause brachte.
„Hallo Mum, na, wie war Dein Tag?“, begrüßte Isabel am Abend ihre Mutter.
„Hallo, mein Kind. Danke, ich kann mich nicht beklagen. Ich hatte eine Menge zu tun!“
Verwundert blickte Isabel ihrer Mutter ins Gesicht. Unweigerlich fing Lindsay an zu schmunzeln.
„Setz Dich, nimm Dir einen Kaffee und hör mir zu. Ich habe eine Überraschung für Dich!“
Noch immer irritiert setzte sich Isabel mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch und sah ihre Mutter erwartungsvoll an. Lindsay schob ihrer Tochter mehrere Bögen Papier über den Tisch herüber. Fragend nahm Isabel die Blätter in die Hand und fing an zu lesen: Mietvertrag zwischen der Majestäts-Wohnungsbaugesellschaft und Miss Isabel Canningham für die gewerbliche Nutzung des Erdgeschosses in der Middleroad No. 24.
Verdutzt blickte Isabel auf. „Was ist das?“
„Na, das steht doch da: Ein Mietvertrag!“
„Aber ich habe doch gar nicht …“
„Isa, das ist Dein neuer Mietvertrag für Deine Kindertagesstätte“, erklärte Lindsay ihrer Tochter.
„Ich verstehe nur Bahnhof. Wie kommst Du auf diese Adresse und vor allem, was soll der ganze Spaß denn kosten? Ich kann mir doch die Miete bestimmt nicht leisten. Das Haus in der Middleroad ist doch gerade erst ganz neu gemacht worden!“, jammerte Isabel auch sogleich los.
„Isabel! Bleibe doch mal ganz ruhig und lies Dir den Mietvertrag richtig durch. Du wirst feststellen, dass Du die gleiche Miete zahlen wirst wie zuvor“, erklärte Lindsay ruhig weiter.
„Wie hast Du denn das wieder hingekriegt? Mir hat die Wohnungsbaugesellschaft doch auch Objekte angeboten, doch zu viel höheren Mietpreisen!“
Lindsay grinste. „Ich habe halt meine Kontakte …“ Fragend sah Isabel ihre Mutter an. Doch Lindsay schwieg beharrlich.
Irritiert las sich Isabel nun den Mietvertrag ganz in Ruhe durch.
„Mum, ich weiß zwar nicht, wie Du das gemacht hast, aber ich habe trotzdem noch ein kleines Problem: Denn ich habe ja noch nicht einmal mehr Kinder, die ich betreuen kann“, begann Isabel von Neuem herum zu jammern.
„Nein? Also ich zähle ganze sechs, die am Montag in zwei Wochen auf der Matte stehen werden.“
„Sechs? Mama, tut mir leid, aber Du irrst Dich! Ich hatte doch nur fünf unter Vertrag“, berichtigte Isabel ihre Mutter.
Lindsay grinste erneut breit über das Gesicht. „Meine liebe Tochter, lass Dich belehren: Es sind ab heute sechs. Und nun guck nicht so dumm aus der Wäsche, sondern freue Dich; schließlich ist Weihnachten!“, beschwerte sich Lindsay nunmehr.
Mit Tränen in den Augen warf sich Isabel überglücklich ihrer Mutter an den Hals. „Danke Mum. Ich weiß zwar nicht, wie Du das immer wieder anstellst, aber ich danke Dir für alles!“
„Schon gut, mein Kind, das habe ich doch gerne getan. Aber bitte sage Deinem Vater vorerst noch nichts davon. Ich werde ihm das auf meine Art schonend beibringen. Und nun geh und erzähle Anabel die neusten Nachrichten!“
Natürlich standen Isabel, Anabel und deren Bruder Alexander sofort am nächsten Tag vor dem Haus 24 in der Middleroad und strichen die weißen Wände bunt an. Nachdem die Wände trocken waren, räumten sie mit gemeinsamen Kräften die Möbel und Spielutensilien in die gemieteten Räume im Erdgeschoss ein. Nachdem alles lag, stand und hing, wo es sollte, saßen die drei am Abend geschafft auf einer der Gummiturnmatten und stießen auf die berufliche Zukunft von Isabel an. Just in dem Moment betrat Prinz Edward die Räumlichkeiten. Prompt verschluckte sich Isabel an ihrem Sekt.
„Oh, Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich wollte mich nur erkundigen, ob alles zu Ihrer Zufriedenheit ist“, begrüßte Prinz Edward die drei jungen Leute. „Aber wie ich sehe, haben Sie sogar schon alles kindgerecht hergerichtet!“
„Die wird man wohl nie los“, kam es im Flüsterton von Isabel.
„Wie auch, schließlich sind sie die Vermieter“, erwiderte Alexander amüsiert.
„Guten Tag, Euer Hoheit. Ja, danke, es ist alles bestens“, rettete Anabel die Situation.
Prinz Edward lächelte zufrieden und sah sich im Raum um. „Und wer von Ihnen ist die Erzieherin?“
„Sie!“, haute sofort Alexander laut heraus und zeigte mit dem Finger auf Isabel. Freundlich reichte Prinz Edward Isabel die Hand.
Isabel musste sich zusammenreißen, um dem Drang, diese zu verweigern, nicht nachzukommen. „Angenehm.“
„Ich wünsche Ihnen viel Spaß in Ihren neuen Räumen. Und sollte einmal ein Wasserhahn tropfen oder die Rutsche kaputt sein, dann rufen Sie einfach den Hausmeisterservice. Er kümmert sich dann umgehend darum – auf unsere Kosten, natürlich; versteht sich!“, erklärte Prinz Edward sachlich. Völlig ungläubig starrte Isabel Prinz Edward an. Doch er lächelte nur zuversichtlich und verabschiedete sich dann auch schon wieder mit den Worten „Ein Frohes Fest und einen guten Start ins neue Jahr, wünsche ich.“
Nachdem der Prinz gegangen war, fragte Isabel: „Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen?“
Anabel lachte. „Wer weiß, vielleicht hat er erst jetzt erfahren, wen er da aus der Jonesstreet geworfen hat. Und soweit ich weiß, liebt er seine Kinder abgöttisch. Ich denke, es war sein Gewissen, welches ihn da geplagt hat.“
„Vielleicht hat aber auch Deine Mutter ihren Teil dazu beigetragen“, überlegte Alexander.
Isabel hob die Schultern und grinste. „Tja, wozu meine Mutter doch alles gut sein kann: Selbst die Königsfamilie kuscht vor ihr!“
„Heißt das, wenn Dir Prinz Harry wieder einmal über den Weg läuft, dass Du dann nicht mehr vor ihm davon rennst?“, fragte Anabel lapidar. Prompt sank Isabels Euphorie wieder in den Keller. „Wusste ich es doch! Isa, was ist zwischen Dir und dem Prinzen vorgefallen?“, hakte Anabel auch sofort nach.
„Nichts!“, kam es todernst von Isabel.
„Und warum bist Du dann so schlecht auf ihn zu sprechen?“, fragte nun auch Alexander interessiert.
„Ich kann ihn einfach nur nicht leiden! Der Mensch kennt keine Skrupel und benimmt sich in der Öffentlichkeit nicht gerade wie ein Prinz. Eher wie ein wildes Tier“, erklärte Isabel wütend.
Fragend sahen sich die Geschwister Baxtor an.
„Und Du bist Dir sicher, dass da nicht doch noch etwas anderes ist? Ich meine, ich mag auch den ein oder anderen nicht, deshalb nehme ich aber nicht gleich panisch Reißaus, wenn mir die Person irgendwo begegnet“, sagte Anabel.
Doch Isabel hatte keine Lust, sich jetzt damit auseinanderzusetzen. Sie wollte jetzt viel lieber nach Hause und ein heißes Bad nehmen. Demnächst würde sie wieder alle Hände voll zu tun haben, mit ihren fünf; nein, sie korrigierte sich: Sechs kleinen Quälgeistern. Und darauf freute sie sich jetzt schon!
Kapitel 5
Es war der 31. Dezember 2010 und Isabel und Anabel verbrachten wie jedes Jahr – seit ihrem 21. Geburtstag – den Silvesterabend in einer Diskothek; diesmal ging es in den Club Five. Es war das erste Mal wieder nach dem Sieg im Freestyle-Tanzen. Isabel betrat mit gemischten Gefühlen den Club. Denn hatte nicht Prinz Harry in seinem Brief an sie erwähnt, dass er recht oft hier war, weil er den Inhaber kannte? Und heute war auch noch Jahreswechsel … Isabel hoffe inständig, dass sie dem Prinzen heute nicht über den Weg laufen würde, denn so langsam, aber sicher wirkte es schon fast kindisch, dass sie immer wieder vor ihm davonrannte; zumal auch Anabel ihr nicht mehr wirklich abkaufte, dass sie den Prinzen einfach nur unsympathisch fand. Leider machte ihr das Schicksal – mal wieder – einen Strich durch die Rechnung. Denn zwei Stunden später war nicht nur Prinz Harry anwesend, sondern auch Prinzessin Jane und ihr Mann, Prinz William.
Anabel hatte noch vor Isabel die Prinzessin und die Prinzen entdeckt. Sie versuchte alles Mögliche, um Isabels Aufmerksamkeit von der Königsfamilie abzulenken. Doch als diese plötzlich anfingen Karaoke zu singen, wurde auch dem letzten Gast bewusst, wer sich unter das illustre Volk gemischt hatte. Zu Anabels Überraschung blieb Isabel und amüsierte sich sogar köstlich über die Nicht-Gesangskünste eines gewissen Prinzen. Natürlich blieb Isabel auch nicht lange vor Harry unerkannt. An der Bar kam es dann zum Aufeinandertreffen: Harry hatte gerade drei Gläser mit bunten Cocktails in der Hand und wollte sich von der Bar entfernen, als just in dem Moment Isabel vor ihm stand. Isabels Puls schlug heftig und sie hatte das Gefühl, jeden Moment umzukippen. Doch Harry lächelte sie nur an und sagte: „Hallo. Viel Spaß!“, und ging danach sogleich weiter an ihr vorbei. Völlig irritiert blickte sie ihm hinterher. Sie vergaß dabei sogar, dass sie Getränke für sich und Anabel besorgen wollte.
„Hey, was ’n los? Hast Du einen Geist gesehen? Oder war es doch nur die Erscheinung von Prinz Harry?“, fragte kurz darauf Anabel spitz, der die Getränkebesorgung zu lange dauerte. Isabel wurde prompt rot. Anabel grinste nur zufrieden, denn so ganz uninteressant schien Isabel den Prinzen wohl nun doch nicht zu finden. Und so kam es dann auch rein zufällig, dass sie sich alle auf der Tanzfläche wiederfanden. Erneut hatte Isabel heftiges Herzrasen, als Harry mit Prinzessin Jane direkt neben ihnen tanzte.
Isabel hörte sogar kurzzeitig damit auf, als sie sah, wie Prinz Harry mit Prinzessin Jane tanzte. Ziemlich gewagt. Sie glaubte kaum, ihren Augen zu trauen. Da ihr der Aussetzer peinlich war, machte Isabel, dass sie von der Tanzfläche kam. Anabel lief ihr kopfschüttelnd hinterher. „Was war das denn gerade?“
„Frag mich bitte nicht, ich habe keine Ahnung!“
„Du hast den Prinzen ja regelrecht angestarrt!“, piesackte Anabel ihre Freundin weiter. Sie hoffte so, ihren Verdacht bestätigt zu bekommen.
„Annie!“, rief Isabel verstört. Doch Anabel lachte nur auf und nippte gelassen an ihrem Cocktailglas.
Für Isabel dagegen war der Abend gelaufen, sie konnte einfach nicht mehr auf die Tanzfläche zurück. Anabel ließ sich davon jedoch nicht beirren und so kam es, dass sie auf einmal sogar selbst mit dem Prinzen tanzte. Anabel war begeistert und schaute immer wieder zu ihrer Freundin herüber. Isabel stand da und starrte die beiden an. Sie schien regelrecht in Trance. War Isabel etwa eifersüchtig, fragte sich Anabel nach einer Weile. Doch sie konnte sich darauf keinen wirklichen Reim machen. Sie bedankte sich stattdessen freudestrahlend bei Prinz Harry für den Tanz und ging dann zurück zu ihrer Freundin. Doch Isabel war nicht gut und sie wollte nur noch nach Hause, kaum dass es Mitternacht – Neujahr – war. Anabel seufzte, begleitete sie aber.
„Sag mal, Isa, hast Du nicht Lust, nächsten Dienstag mit mir mitzukommen? Ich will in die Tanzschule und meinen Gutschein einlösen. Machst Du mit?“, fragte Anabel auf dem Heimweg.
„Ich weiß noch nicht so recht“, gab Isabel betrübt von sich.
„Überleg es Dir einfach. Ich meine, es wäre doch schade, wenn er verfallen würde“, sagte Anabel, ehe sie sich von ihrer Freundin verabschiedete.
„Hey Nick, was gibt’s?“, fragte Harry und begrüßte den Inhaber der Tanzschule Nicks Dance Store.
„Hallo Harry, schön, dass Du kommen konntest, ich habe da ein kleines Problem und wollte Dich fragen, ob Du mir vielleicht helfen könntest, das Problem zu beseitigen?“
Harry zuckte mit den Schultern. „Klar, mach ich gern, wenn Du mir vielleicht vorher aber bitte noch sagen könntest, um was für ein Problem es sich dabei handelt?!“
„Ja, natürlich“, sagte Nick, doch weiter kam er nicht, denn sein Handy klingelte. „Entschuldige mich kurz“, sagte er zu Harry. „Ich komme gleich wieder.“ Anschließend ging er in sein Büro.
Harry, der ein wenig unglücklich nun allein auf der Balustrade mit Blick auf die Tanzfläche der Sporthalle, stand, lehnte sich bequem an dem Geländer an und beobachtete eine Tänzerin, die dort unten in schwarzen Trainingshosen und einem dunkelblauen Kapuzenshirt mit geschlossenen Augen und MP3-Player in den Ohren vor sich hin tanzte. Das, was Harry sah, beeindruckte ihn gewaltig und obwohl er keine Musik hörte, wippte er unbewusst mit dem Fuß im Takt. Alles war stimmig bei der Frau. Jeder Schritt schien perfekt gesetzt und grazil war jede ihrer Drehungen.
Während Harry völlig gebannt der jungen Dame beim Tanzen zusah, bemerkte er nicht, dass Nick sich wieder zu ihm gesellt hatte und nun Harry beim Beobachten ganz genau betrachtete. Nach einer Weile stieß Nick Harry an und sagte: „Hey Alter, was ’n los mit Dir? Gefällt Dir, was sie dort tanzt?“
„Ehm, entschuldige … Ja, es ist sehr beeindruckend. Wer ist das?“
„Das ist eine unserer Neuen. Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass sie tausendmal besser ist als unser Stammteam. – Übrigens, um dieses geht es auch bei meinem Problem“, erklärte Nick.
Fragend hob Harry eine Augenbraue und sah Nick wohlwissend an. „Na los, was soll ich machen, um Dich zu retten?“, war auch sogleich daraufhin seine direkte Frage.
„Nun ja, eine unserer Tänzerinnen ist krank geworden und kann nicht bei der Tripple-Meisterschaft übernächste Woche mitmachen. Ich wollte Dich daher fragen, ob Du einspringen könntest …“
Erneut hob Harry fragend eine Augenbraue. „Du willst mich jetzt aber nicht zum Mädchen machen, oder?“
Nick lachte laut auf. „Nein, natürlich nicht! Eigentlich muss die Stammformation aus drei Männern und zwei Frauen bestehen. Leider fehlt uns ein Mann, so dass wir halt eine Frau mehr im Team haben, was sich jedoch auf die Punktrichter negativ auswirken kann.“
„Und wie kommst Du gerade auf mich? Ich meine, ich tanze zwar für mein Leben gern, aber in einer Gruppe?“
„Toni kam auf die Idee, Dich einfach einmal zu fragen. Denn auch nach dem dritten Freestyle-Wettbewerb im Club Five konnte ich keinen geeigneten Tänzer finden. Toni meinte, dass Du wohl schon das ein oder andere Mal mit Deiner Schwägerin in Choreographie dort getanzt hättest … Und das wohl sehr professionell?!“
„Ja, schon, aber nur so zum Spaß und mehr spontan, also nichts fest Einstudiertes.“
„Hey Mann, mach Dich doch nicht schlechter als Du bist! Ich weiß, dass Du tanzen kannst! Harry, bitte, Du bist mein einziger Trumpf! Ohne Dich brauchen wir erst gar nicht bei dem Wettbewerb mitmachen: Als Vier-Mann-Ensemble lassen sie uns erst gar nicht antreten! Probier es doch wenigstens einmal, ja?!“
„Na schön, ich lass mich mal von Dir breitschlagen. Ich hoffe nur, ich muss mich nicht so verrenkten wie die junge Dame dort unten“, meinte Harry lapidar. Nick schmunzelte. „Nick?!“
„Nein, natürlich nicht! Sie tanzt mit Samuel den Solopart im Freestyle und im Standard. Du sollst wirklich nur Cindy, Kathreen, Michael und Ralph unterstützen.“
„Cindy und Kathreen? Das sind aber nicht rein zufällig die zwei aus Wills Clique, oder?“
„Mensch, stimmt, ihr kennt Euch ja bereits! Doch, genau die zwei sind das.“
„Na, das kann ja dann noch lustig werden …“, überlegte Harry. „Und wann soll das Training anfangen?“