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Leider konnten nicht alle Männer flüchten, einige waren gestorben oder zu verletzt, um transportiert zu werden. Zu meiner allergrößten Bestürzung betraf dies auch Aidans beide Brüder.
So kannst du dir sicher vorstellen, wie schlecht es mir ging, als ich kurze Zeit später nur mit deinem Großvater und deinem Urgroßvater unser derzeitiges Zuhause erreichte. Ich wagte kaum, in die erwartungsvollen Gesichter meiner Schwägerinnen zu blicken, und als ich tieftraurig den Kopf schüttelte, sah ich, wie diese beiden tapferen Frauen zusammenbrachen. So konnte ich mich nur bedingt über die Rückkehr deines Großvaters freuen.
Später, als er sich etwas erholt und gestärkt hatte, erzählte uns dein Großvater von den letzten acht Monaten. Hamish schlief noch, er war zu erschöpft. Ich kann das Grauen nicht beschreiben und die katastrophalen Zustände, die auf der Burg geherrscht hatten. Ich möchte mir nicht ausmalen, was diese Erfahrung mit den überlebenden Männern tief im Innern angestellt haben musste, als die Vorräte an Munition und Proviant abnahmen, Kameraden verletzt wurden oder starben, die Gebäude immer mehr auseinanderfielen, und dazu wenig Schlaf und der ständige Lärm. Daran muss jeder noch so starke und tapfere Mann zerbrechen. Die nächsten Jahre waren schwer für Aidan und mich, doch er konnte diese schlimmen Erinnerungen irgendwann aus seinem alltäglichen Leben verbannen. Er war ein starker Mann, dein Großvater.“
Kendra hielt ehrfürchtig inne, in Gedanken ganz bei ihrem Gatten.
Sean räusperte sich. „Wie konnten die Männer fliehen?“
„Dein Großvater dachte, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte. Aber im März fingen die Soldaten mit dem Dauerbeschuss an und es gab keine Verschnaufpausen mehr. Hamish wurde irgendwann klar, dass sie die Burg nicht länger halten konnten und gab schweren Herzens den Befehl zur Flucht. Sie hatten dem Dauerbeschuss immerhin zehn Tage getrotzt, doch nun war Schluss. Die Männer erlösten die Verletzten und Alten schweren Herzens, nahmen die letzten Boote und ruderten mit letzten Kräften ohne Hindernisse nach Stonehaven.
Und somit fiel im Mai 1652 nach achtmonatiger Belagerung die letzte Festung Schottlands an die Engländer. Wir erfuhren dann, dass Cromwell Lordprotektor geworden war, und Schottland stand ab diesem Tag unter englischer Militärbesetzung.“
„Heißt das, sie haben ihre eigenen Leute umgebracht?“, fragte Sean verständnislos und zutiefst bestürzt.
„Ja. Sie wollten nicht, dass sie den Engländern in die Hände fallen.“
„Das ist grauenhaft.“
„Ich weiß.“
Die beiden schwiegen eine Weile.
Dann fragte Sean:
„Was passierte dann mit Dunnottar Castle?“
„Englische Soldaten waren ab dann dort stationiert und wir dachten, dass unsere Burg für immer für die Familie McCunham verloren sein würde.“
Sean nickte traurig. Plötzlich klopfte es an der Tür und Kendra sagte:
„Herein!“
Die Tür öffnete sich und Kendras Zofe kam ins Zimmer.
„Was ist, Senga?“, fragte Kendra matt.
Senga machte einen Knicks. „Der junge Laird wird zum Abendessen erwartet, Mylady.“
Kendra nickte und bedeutete ihr, dass sie sich entfernen dürfe. Zu Sean sagte sie: „Gut, mein Junge. Wir sehen uns ein andermal. Bis bald.“ Sie winkte ihn zu sich und küsste ihn auf die Wange. Sean umarmte seine Großmutter benommen.
„Ich komme bald wieder, liebe Großmutter. Ich wünsche Euch einen guten Abend.“
Kendra nickte und rutschte erschöpft wieder tiefer in ihre Decken.
Sechs
- 1690 -
Sean hatte in der nächsten Nacht nicht gut schlafen können. Er wurde in wilden Träumen von bösen englischen Soldaten geplagt. Unruhig wälzte er sich dabei hin und her. Sein Urgroßvater erstach gerade seine Urgroßmutter, als Sean schweißgebadet aufwachte.
Benommen blickte er sich um und erkannte, dass alles in Ordnung war. Dann fiel ihm Jaimie wieder ein und er zog sich rasch an. Sean schlang schnell sein Frühstück hinunter, was seine Eltern ausnahmsweise sogar billigten. Sie hatten von dem Heimkehrer gehört, das jüngste Ereignis im Haus des Stallmeisters war allgemeines Burggespräch. Seans Eltern verstanden seine Neugier und ließen ihn ziehen.
Als Sean aus dem Palais trat, wartete Arthur bereits auf ihn.
„He Sean, tut mir leid, dass ich mich gestern nicht von dir verabschiedet habe. Es war alles etwas durcheinander. Dafür erzähle ich dir jetzt alles ganz genau.“ Arthur lächelte entwaffnend.
„Komm, wir gehen zum Stall“, sagte Sean versöhnlich.
Lachend rannten sie zu Vika und den anderen Pferden. Im Stroh machten es sich die Freunde bequem und Arthur begann zu erzählen.
„Also, Jaimie hat sich vor vier Jahren nachts nach Stonehaven durchgeschlagen und einer Gruppe fahrender Musiker angeschlossen. Sie nahmen ihn mit, weil er so gut singen kann. Die Gruppe ist dann mit ihrem Wagen quer durchs Land gezogen und hat auf Märkten und Castles Musik gemacht.“
„Wieso ist er überhaupt gegangen? Und das, ohne sich zu verabschieden?“, wollte Sean wissen.
„Er hatte einfach genug von seinem eintönigen Leben. Jaimie wollte Abenteuer erleben und wenn er sich verabschiedet hätte, wäre er sicher nicht gegangen, sagt er. Mein Bruder hatte die ganzen Jahre über ein schlechtes Gewissen, besonders unserer Mutter gegenüber. Aber er musste weg. So sind jedenfalls seine Worte.“
„Aber war das nicht gefährlich? So ganz allein sich fremden Leuten anzuvertrauen? Sie hätten ihn ausrauben oder sogar töten können!“
„Jaimie war fünfzehn und dachte, er wäre unbesiegbar, hat er mir erzählt. Und zum Glück sind die schlimmen Sachen, die du erwähnt hast, nicht eingetreten. Er hat zahlreiche Leute kennengelernt und für viele adlige Damen gesungen. Jaimie lernte in den Jahren sogar Dudelsack spielen.“
„Jaimie kann Dudelsack spielen? Das ist doch sehr schwer, habe ich gehört“, hatte Sean einzuwenden.
„Ja, er kann es recht gut. Wenn du ihn fragst, zeigt er dir seinen und erklärt dir, wie er funktioniert. Jaimie hat lange für einen eigenen Dudelsack gespart und ist sehr stolz auf ihn. Mein Bruder ist sehr musikalisch. Er hat uns gestern Abend noch etwas vorgespielt“, sagte Arthur stolz.
Sean war sehr überrascht. Schon seit er sich erinnern konnte, hatte er Dudelsackmusik geliebt und lauschte entzückt, wenn ein Piper14 auf das Castle kam. Er nahm sich fest vor, Jaimie danach zu fragen.
„Jaimie muss doch in den Jahren eine Menge erlebt haben!“, dachte Sean laut vor sich hin.
„Ja! Er erzählte mir zum Beispiel, dass sie eines Nachts überfallen wurden. Aber das hat er nur mir und Rory verraten, die anderen sollen so etwas nicht erfahren“, sagte Arthur verschwörerisch.
„Wie ist denn das passiert?“, fragte Sean neugierig.
„Jaimie und seine Truppe hatten am Rand eines Waldes am Fluss gelagert und ausgerechnet bei seiner Wache hörte er es in der Ferne im Wald knacken. Es konnte kein Tier sein, dafür waren die Geräusche zu weitläufig. Also weckte Jaimie leise die anderen und sie haben sich in ihrem Wagen verbarrikadiert, um zu schauen, was da näherkam. Das Pferd blieb nachts immer locker eingespannt, damit es schnell parat sein konnte. Acht Leute kamen aus dem Wald gesprungen und sahen ziemlich gefährlich aus. Sie waren zerlumpt und abgemagert und scheinbar zu allem bereit. Jaimie und seine Freunde sind schnell losgefahren, doch einer ist von hinten auf ihren Wagen gesprungen.“
„Oje, was haben sie da gemacht?“
„Es gab einen Kampf, während sie schon gefahren sind, doch sie konnten den Halunken zum Glück aus dem Wagen werfen und davonfahren. Von da an waren die Musiker noch mehr auf der Hut.“
„Na Gott sei Dank! Ich habe von solchen Banden gelesen. Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass diese broken men bei der Landverteilung leer ausgegangen waren oder wegen Schulden von den Farmen vertrieben wurden. Sie müssen sich Banden von Gesetzlosen anschließen, damit sie durch Raub und Entführung ihren Lebensunterhalt verdienen. Banditi-Groups nennt man sie“, belehrte Sean seinen Freund.
„Aha.“ Arthur nickte kurz. Er mochte es überhaupt nicht, wenn sich Sean als Oberlehrer präsentierte.
„Will Jaimie jetzt hierbleiben?“, fragte Sean.
„Er weiß es noch nicht“, entgegnete Arthur.
„Ich bin jedenfalls schon gespannt, wie es mit Jaimie weitergeht. Was hat er noch so erlebt?“
Arthur erzählte eine Weile von Jaimies Erlebnissen, dann erhob sich Sean, da es langsam Mittag wurde. Er klopfte sich das Stroh von der Kleidung und verabschiedete sich von Vika. Arthur stand ebenfalls auf und begleitete ihn zurück.
***
Vier Monate später war Fiona gerade mit dem Aufräumen des Geschirrs ihrer kleinen Geburtstagsfeier fertig. Ich bin jetzt 38 Jahre alt, dachte sie bei sich. Wie immer hatten ihr ihre Eltern an ihrem Geburtstag am meisten gefehlt. Obwohl sie nie besonders liebevoll ihr gegenüber waren, hatte sie sie doch lieb und vermisste sie ab und zu. Fiona fragte sich immer wieder, warum ihre Eltern sie nicht besuchten, und traute sich selbst nicht, zu ihrem Elternhaus zu fahren.
Fiona erinnerte sich seufzend an ihre Kindheit. Sie wuchs auf einem kleinen Hof etwas außerhalb von Stonehaven auf und das Leben der Familie Bothain gestaltete sich sehr hart und beschwerlich. In der Gegend gab es nur wenige Bauern, weil nur ein geringer Teil des Bodens halbwegs fruchtbar war. Ihr Vater Russel war einer von ihnen. Die dünne Schicht Muttererde auf dem dunklen Schieferstein war nur schwer zu bewirtschaften.
Die meisten Leute verdienten sich deshalb ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei, und man sah zahlreiche kleinere und größere Fischerboote auf dem Meer vor der Küste von Stonehaven.
Russels kleiner Hof war seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Bothain, was so viel wie Haus aus Stein bedeutete. Das winzige Bauernhaus bestand tatsächlich aus Stein, genauer gesagt, aus dem dunklen porösen Schiefer der Region. Durch die wenigen kleinen Fenster schien nur selten Sonnenlicht herein und so war es in dem einzigen Wohn- und Schlafraum meistens halbdunkel.
Russel hatte neben dem Haus und dem Boden auch einen alten, schweren Holzpflug geerbt. Dieses große, traditionelle, schottische Landwirtschaftsgerät musste von sechs bis acht Gespannochsen gezogen werden. Doch niemand in der Umgebung hatte so viele dieser wertvollen Zugtiere, also mussten sich von jeher die Bauern zusammentun und sich gegenseitig ihre Ochsen leihen. Russels Familie war schon ewig mit den McNeills oben auf dem Hügel befreundet und die beiden Familien kümmerten sich gemeinsam um die Bestellung ihrer Felder. Fiona, ihre Mutter Jenna und die älteren ihrer Geschwister mussten auch mithelfen, wenn es mit Pflug, Sichel und Krummspaten ans Werk ging.
Die Felder waren in ungefähr dreizehn Meter langen und sieben Meter breiten S-förmigen Streifen, den sogenannten Rigs, angelegt. Fionas Vater meinte, dass das immer schon so gewesen war und dass die Seiten als Kanäle dienten, damit das Regenwasser ablaufen konnte. Das gestaltete sich bei dem sehr feuchten Boden als Vorteil. Jedoch erschwerte diese Form das Pflügen stark.
Das Unkraut wurde außerdem wachsen gelassen, da die Leute in ihrem Glauben dachten, dass es durch Gottes Gnaden seine Daseinsberechtigung hatte. Am Ende des Jahres konnten die Bauern aufgrund des kargen Bodens, des feuchten, kalten Klimas und der ineffizienten Anbaumethoden nur einen geringen Teil des angebauten Getreides (meistens Hafer und Gerste) in ihre Scheunen bringen. Als Gemüse wurden nur Rüben angebaut, etwas anderes wuchs in der Region nicht gut.
Nicht gerade ertragreicher gestaltete sich damals die Viehzucht. Wie die meisten Bauern in den südöstlichen Highlands hatte Fionas Vater Schafe, Ziegen und eine kleine Herde des zähen einheimischen Schwarzrindes.
Im Sommer war es üblich, mit dem Vieh in die Berge zu gehen und erst im Herbst zurückzukehren. Danach konnte man den kargen Ertrag der Felder ernten und ihn gemeinsam mit ungefähr einem Fünftel der Ziegen, Schafe und Rinder auf dem Markt von Stonehaven verkaufen.
Die Familie Bothain hatte in den Bergen eine kleine Hütte, in der sie den Sommer über hauste. Für Fiona war das eine öde Zeit. Der ständige Nebel und die kühlen Temperaturen machten das Leben nicht gerade angenehm. Sie hasste es, früh aufstehen zu müssen, um die Ziegen zu suchen und zu melken.
Außerdem gab es keinen Brunnen und so mussten sie sämtliches Wasser aus dem Fluss holen. Das Brennholzsuchen war besonders anstrengend. Es gab tagein tagaus Porridge, den geschmacklosen gekochten Haferbrei. Zum Glück konnte sich Fiona die Arbeit mit ihren Geschwistern einteilen.
Fiona freute sich immer schon auf den Herbst, wenn sie wieder in ihrem knarrenden Bett schlafen konnte. In der Hütte gab es keine Betten, sondern nur den harten mit Stroh bedeckten Boden. Im Herbst wuchsen außerdem Heidelbeeren, die auf den Hügeln und in den Mooren zu finden waren. Fiona pflückte sie gern, da sie den gewürzlosen Haferbrei etwas schmackhafter machten. Bloß blieb bei so vielen Mäulern nie viel für sie übrig.
Aber der Winter war weitaus schlimmer als der Sommer in den Bergen. Dann gab es nur noch Brei aus Gerstenmehl und Wasser, nicht einmal mehr Ziegenmilch. Die Bauern hatten kein Heu für die Tiere und somit verhungerte jeden Winter ungefähr ein Fünftel des Viehs.
Die überlebenden Tiere mussten im Frühjahr auf die Weiden getragen werden, weil sie so schwach waren. Dieses sogenannte highland lifting gestaltete sich jedes Mal als sehr anstrengend. Leider wurde der Viehbestand der Bauern nicht nur durch das fehlende Heu dezimiert. Es waren auch immer wieder Viehdiebe unterwegs, die die schwachen Tiere von den Weiden stahlen.
So sah das Leben von Fiona aus, als sie Kind und Jugendliche war. Die einzige Abwechslung in dieser Eintönigkeit waren die Markttage. Fiona musste beim Verkaufen der Ernte und des Viehs helfen und konnte so das rege Treiben auf dem für den kleinen Ort recht großen Marktplatz genießen. Stonehaven war ein Fischerdorf an der Küste und deshalb wurde hauptsächlich frischer Fisch verkauft. Fiona liebte es, die vielen Menschen zu beobachten, da die Familie Bothain sehr zurückgezogen auf ihrem Hof lebte.
An solch einem Markttag vor achtzehn Jahren lernte Fiona schließlich Tevin kennen. Sie hatte diesen jungen Mann auf Anhieb interessant gefunden. Er wollte gerade ein Pferd verkaufen, als sie auf ihn aufmerksam geworden war. Tevins Pferd, ein wunderschöner schlanker Schimmel, bewegte sich wild und riss sich fast vom Zügel los. Da griff Fiona beherzt zu und verhinderte so, dass das Pferd dem jungen Mann davonlief.
„Vielen Dank!“, sagte Tevin keuchend, als er den Zügel des Hengstes an einen Balken gebunden hatte. „Ihr habt mich gerettet! Wie kann ich Euch danken?“
Der junge Mann verbeugte sich galant. Dabei fiel ihm sein dichtes braunes Haar ins Gesicht. Mit Schwung richtete er sich auf und blickte direkt in Fionas blaue Augen.
Die junge Frau errötete und stammelte schüchtern: „Äh… das war doch selbstverständlich…“
„Aber nein, ich möchte mich erkenntlich zeigen. Kann ich Euch einmal in den Pub einladen?“, sprach Tevin.
Er dachte, dass die hübsche, blonde Frau bedeutend älter war als ihre sechzehn Jahre. Fionas Mutter hatte alles beobachtet und wirkte aufgrund dieser Szene gar nicht glücklich.
Bevor ihre Tochter etwas erwidern konnte, zog Jenna sie schroff zum Karren und machte sich daran, den Rest der Einkäufe aufzuladen. Fiona wusste nicht, wie ihr geschah und blickte sich verwundert zu dem charmanten jungen Mann um. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, sich einander vorzustellen. Dann fuhren sie los.
„Auf Wieders…“, hörte sie ihn von Ferne rufen und sie winkte ihm schüchtern zu. Als sie an diesem Abend im Bett lag, musste Fiona verwirrt aber glücklich an diese Begegnung denken.
Hier hätte die Geschichte der Familie Burton enden können und Arthur und seine Geschwister wären nie geboren. Doch es sollte anders kommen.
Ungefähr einen Monat danach bemerkte Fiona, dass ihr Vater den Ochsenkarren anspannte.
„Wohin fahrt Ihr, Vater?“, fragte sie, als sie zu ihm trat.
„Nicht nur ich allein fahre, du kommst mit“, entgegnete er ihr schroff.
Erstaunt sprach sie: „Wohin fahren wir?“
Es geschah selten, dass die Familie Bothain den Ochsenkarren verwendete, außer, um auf den Markt zu fahren. Russel grunzte nur undeutlich und Fiona traute sich nicht weiter nachzufragen. Sie war sehr verwirrt und aufgeregt.
Da trat ihre Mutter aus dem Haus und ging zu Fiona und Russel. „Fiona, hol dein Tuch!“, sagte Jenna. Sie sah noch griesgrämiger aus als sonst und Fiona wusste, dass auch ihre Mutter nichts Weiteres verraten würde.
Fionas zwei kleine Geschwister Kelvin und Brenda rannten gerade aus dem Haus, als Fiona ihr Tuch geholt hatte. Ihre älteste Schwester Hailey rempelte sie an, als sie keuchend hinter den Kleinen herlief und versuchte, sie einzuholen.
Fiona ging mit einem seltsamen Gefühl zu ihren Eltern.
„Was trödelst du denn so? Setzt dich!“, rief Russel grob vom Kutschbock herunter.
Fiona schaute verwirrt zu ihrer Mutter. „Kommt Ihr nicht mit?“
„Nein“, entgegnete Jenna kurz. „Los, steig schon auf.“
Fiona schaute fragend zu Hailey, die die Jagd auf ihre Geschwister aufgegeben hatte. Als diese nur mit den Schultern zuckte, stieg Fiona auf den Kutschbock. Nur selten durfte sie dort sitzen, meist musste Fiona auf der dreckigen Ladefläche Platz nehmen, wo sonst die Rüben und das Getreide zum Markt gebracht wurden.
Kaum hatte sich Fiona neben ihren Vater gesetzt, schnalzte dieser mit der Zunge und die beiden Ochsen bewegten sich vorwärts.
„Leb wohl!“, klangen ihr die befremdlichen Worte ihrer Mutter ins Ohr. Fiona blickte zurück und sah drei ihrer fünf älteren Brüder, die neugierig aus den Fenstern schauten. Hailey winkte, ihre Mutter suchte nun scheinbar die Kleinen.
Was ist hier los? Mit einem Kloß im Hals versuchte Fiona sich auf den Weg zu konzentrieren und ihre Besorgnis zu unterdrücken. Von ihrem Vater aus erwartete sie kein Gespräch, er sprach allgemein eher selten, besonders wenig mit seinen Kindern.
Es war eine längere Fahrt als nach Stonehaven. Irgendwann sah Fiona von Weitem eine Burg an der Küste näherkommen. Es schien so, als ob diese ihr geheimnisvolles Ziel wäre. Je näher sie kamen, desto beeindruckender erschien ihr das Castle. Es lag direkt an den Klippen, auf einer kleinen Landzunge. Noch näher herangekommen bemerkte sie, dass einige Gebäude zerstört waren und sich im Aufbau befanden.
Als sie schließlich über einen schmalen Pfad in Richtung Torhaus fuhren, bekam Fiona Angst, dass der ganze Karren ins Meer stürzen würde. Sie mussten aussteigen, den Karren stehen lassen und zu Fuß gehen, weil es nur noch Stufen gab. Keuchend kamen sie nach der langen Fahrt, dem anstrengenden Anstieg und der Passage des Torwächters im Burghof an.
Fiona war zerzaust und ihre Beine zitterten. Sie strich ihre Schürze so gut es ging glatt und band ihr schönes geblümtes Tuch (Fionas wertvollster Besitz) neu um die Schultern. Dann flocht sie sich flink einen frischen Zopf aus ihren langen blonden Haaren.
Sie befand sich vor dem größten Gebäude, das sie je gesehen hatte. Es bestand aus vier Flügeln, hatte eine Galerie und unzählige verzierte Fenster. Fiona staunte bei diesem Anblick, denn trotz einiger zerstörter Stellen sah es immer noch beeindruckend aus.
Auf den Stufen stand ein älterer Herr und sagte freundlich: „Hallo Russel, wie war die Fahrt?“
„Danke gut, Angus“, antwortete Fionas Vater. Fiona war erstaunt, dass sich die beiden Männer kannten.
„Das ist sie also, Eure Tochter“, sagte dieser Angus.
„Ja das ist sie. Sag Guten Tag, Fiona!“ Russel stieß seine Tochter in die Seite.
Fiona machte verlegen einen Knicks und stammelte: „Guten Tag!“ Sie wurde ganz rot im Gesicht, denn sie wusste nicht, was das alles bedeuten sollte.
„Wollt Ihr noch mit hineinkommen und Euch für die Heimreise stärken?“, fragte Angus Fionas Vater.
Russel wehrte ab: „Das ist nicht nötig, ich muss wieder aufs Feld.“
„Gut, dann übernehme ich das Mädchen jetzt.“
Russel schaute zu Fiona. „Geh mit ihm, Kind.“
Fiona starrte ihren Vater verdutzt an, sie verstand ihn einfach nicht. „Vater, was soll das bedeuten?“
Doch Russel verabschiedete sich bereits von Angus, nickte Fiona kurz zu und ging in Richtung Torhaus.
Fiona wollte ihm folgen, doch Angus hielt sie am Arm zurück. „Haben sie dir nichts gesagt?“, fragte er ungläubig.
Fiona schüttelte den Kopf, Tränen traten in ihre Augen.
Angus schaute sie freundlich an. „Hab keine Angst. Hier wird dich niemand fressen. Komm, ich stelle dich deiner neuen Herrin vor.“
Damit öffnete er die große mächtige Eichentür. Nach einem verwirrten Zögern trat Fiona ein und staunte. Sie sah eine große, hohe Eingangshalle mit einigen Hirschgeweihen. Dann gingen sie einen Gang entlang und Angus klopfte an eine zweiflügelige Tür. Nach einem Ruf von innen öffnete er die Tür.
Fiona erschrak, als sie den prunkvollen Salon sah. Wertvolle Möbel, Portraits in teuren Rahmen, ein langer polierter Tisch in der Mitte. Erst im nächsten Augenblick nahm sie die vier Personen auf einer edlen gepolsterten Sitzgruppe an der Seite wahr. Auf dem niedrigen Tisch in deren Mitte standen Teegeschirr und eine Schale mit Gebäck.
„Dürfen wir eintreten?“, fragte Angus und deutete eine Verbeugung an.
„Komm herein, Angus“, hörte Fiona eine dunkle Stimme.
Angus setzte sich in Bewegung und zog Fiona sanft mit sich. Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen und vermied den Blickkontakt mit diesen vornehmen Herrschaften. Sie schämte sich ihrer einfachen Kleidung und fühlte sich so einsam wie noch nie. Da spürte Fiona die Wärme des großen Kamins zu ihr herüberflammen und sie versuchte verzweifelt, die Kälte in ihrem Herzen daran zu wärmen.
Ein Herr ungefähr in ihres Vaters Alter stand auf. Er trug ein kostbares Plaid15 aus orange-dunkelblauem Tartan. „Was ist so wichtig, Angus?“
Angus nahm Haltung an. „Die neue Kammerzofe für die junge Lady ist da, Mylaird. Ihr Vater hat mir versichert, dass sie wohlerzogen, zuverlässig, äußerst fleißig und zutiefst gläubig ist.“
Der Laird nickte zufrieden, doch Fiona traute ihren Ohren kaum. Hatte sie richtig gehört? Sie sollte Kammerzofe auf diesem Castle werden? Aber warum? Wie?
Angus schaute sie an und sprach: „Fiona, das ist Mr. Aidan Afton McCunham, der Laird dieser Burg.“
Überwältigt machte Fiona einen Knicks. Dann hörte sie eine angenehme weibliche Stimme: „Ah, die neue Zofe. Sehr gut. Lady Raelyn, ich hoffe, sie gefällt Euch.“
Fiona entdeckte die Quelle dieser Worte: eine Dame mittleren Alters in einem edlen dunkelgrünen Kleid unterhielt sich mit einer um einige Jahre jüngeren Dame in ebenso edlem dunkelrotem Gewand. Das wird die Lady der Burg sein, dachte Fiona ehrfürchtig. Die Edelsteine der beiden Damen funkelten.
Die Angesprochene drehte nun ihr blasses, zartes Gesicht in Richtung Fiona. „Wir werden sehen.“ Mehr Worte schien sie nicht für nötig zu halten.
„Meine Sonne, gib dem Mädchen eine Chance“, beschwichtigte sie der jüngere Herr, der in ähnlichem Gewand wie der Laird gekleidet war.
„Gut Angus, ihr könnt gehen“, sagte der Laird nun knapp.
„Sehr wohl, Mylaird.“ Angus verbeugte sich kurz und nahm Fiona mit hinaus, die ganz vergaß, einen Knicks zu machen.
Vor der Tür stand nun eine Frau in Magdkleidung.
„Das ist Colina“, sagte Angus. „Sie kümmert sich um dich und zeigt dir deine Kammer. Ich muss wieder an die Arbeit.“ Damit verließ Angus sie, der einzige Mensch in diesem großen Castle, bei dem sie sich halbwegs sicher fühlte.
Fiona wurde übel. Sie wusste, dass das kein Spiel war, sondern tiefster Ernst. Sie musste auf dieser Burg bleiben. Ihr Herz wurde schwer. Lieben meine Eltern mich denn überhaupt nicht?
An diesem Tag hatte Fiona ihre Eltern das letzte Mal gesehen. Auch ihre Geschwister Hailey, Alick, Finley, Torin, Sloan, Callum, Kelvin und Brenda waren mit einem Mal aus ihrem Leben verschwunden. Ihre Zukunft lag auf dieser Burg und die Erinnerung an ihre Familie würde mit der Zeit immer mehr verblassen.