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Seufzend dachte Fiona an diesen schweren Augenblick zurück und an die Angst, die sie verspürte - so allein mit all den fremden Menschen auf diesem riesigen Castle.
Die erste Zeit stellte für Fiona eine große Herausforderung dar. Sie war die Kammerzofe von Raelyn Isobel McCunham, der Gattin des Erben des Lairds: Alistair Afton. Die bisherige Zofe hatte der jungen Lady nicht mehr zugesagt und so suchte sie nach einer neuen. Lady Raelyn, eine eher zart besaitete Dame, war pedantisch und kompliziert und hatte an allem etwas auszusetzen. Doch Fiona ertrug dies geduldig und war stets fleißig und freundlich.
Fiona zermarterte sich immer wieder das Hirn, was sie falsch gemacht hatte und warum ihre Eltern sie nicht mehr wollten.
Erst viel später fand Fiona heraus, dass ihre Eltern Mühe hatten, einen Mann und somit eine Versorgung für sie zu finden. Mit ihren Brüdern war der Hof gut ausgelastet. Als Russel von seinem Bekannten Angus, dem Verwalter von Dunnottar Castle, hörte, dass auf der Burg eine Kammerzofe gesucht wurde, boten sie Fiona an, ohne diese zu fragen. Und so kam Fiona schließlich nach Dunnottar Castle und hatte zumindest einen Schlafplatz und etwas zu essen.
Doch das Leben wurde leichter. Nach und nach wusste Lady Raelyn die ruhige und besonnene Art ihrer neuen Zofe zu schätzen. Schließlich begann sie Fiona zu mögen und sogar in gewissem Maße zu respektieren. Fiona konnte sich auch immer mehr für Lady Raelyn erwärmen.
Mit den anderen Bediensteten hatte sie durch ihre angenehme Art keine Probleme. Und dann kam eins zum anderen. Fiona und Tevin sahen sich wieder, verliebten sich und durften im Jahr 1670 sogar heiraten.
Tevin war der Sohn des Stallmeisters Gavin Burton. Dieser starb leider zwei Jahre später im Alter von 53 Jahren. Und somit wurde Tevin, gerade 24 Jahre alt, Stallmeister des Lairds von Dunnottar Castle.
Fiona war damals das zweite Mal schwanger, mit Rory, ihrem zweiten Sohn. Jaimie ist im Jahr davor zur Welt gekommen.
Nun zogen Fiona und Tevin in das Schlafzimmer seiner Eltern und seine Mutter Deenah in ein kleineres Zimmer im unteren Stockwerk. Tevin musste sich ab diesem Tag allein um die Pferde kümmern und war die meiste Zeit im Stall.
Traurig erinnerte sich Fiona an das Jahr 1675, in dem sie ihre Tochter Moira zur Welt brachte. Doch diese starb bereits einige Tage nach der Geburt und Fiona brach es fast das Herz.
Zwei Jahre später, 1677, wurde Fiona erneut schwanger. Während der gesamten Schwangerschaft hatte sie Angst um das Kind und versuchte, sich so gut es ging zu schonen. Doch ihre Sorge blieb unbegründet. Sie gebar gleich zwei gesunde Kinder: Shona und Arthur.
Genau bei diesen Gedanken spürte sie einen Stich in der unteren Bauchgegend. Ihr Atem setzte vor Schmerz einen Augenblick aus. Ich muss mich setzen! Automatisch tastete ihre Hand nach einem Stuhl. Sie fand zum Glück einen und Fiona setzte sich umständlich.
Noch ein Stich. Diesmal stärker. Fiona wusste, was das bedeutete: das Kind kam!
Sieben
- 1690 -
„Darf ich wieder in die Küche gehen?“
Kirstie hatte alles sauber gemacht und musste dringend wieder an die Arbeit.
„Ja, hier ist alles in Ordnung. Vielen Dank für deine Hilfe.“
Tevin war sehr dankbar für den Beistand der Köchin und betrachtete glücklich seinen kleinen Sohn, der in seinem Arm lag, und seine schlafende Frau auf der Pritsche. Kirstie hatte bei den meisten Geburten der Bediensteten auf der Burg in den letzten 24 Jahren geholfen und viel Erfahrung auf diesem Gebiet gesammelt. Sie wusste, dass es dieses Mal sehr knapp gewesen war, für das Kind und für Fiona. Doch das sagte sie niemandem. Erleichtert und erschöpft ging Kirstie wieder an die Arbeit, obwohl sie nach den vielen anstrengenden Stunden dringend Schlaf gebraucht hätte.
Fiona erholte sich nur langsam und musste noch zwei Wochen im Bett bleiben. Zum Glück war Shona da und konnte sich um den Haushalt kümmern. Sie wickelte auch ihren Bruder und badete ihn, da ihre Mutter nicht aufstehen konnte.
Mit dem Stillen gab es einige Probleme und die Familie hatte Sorge, dass der Junge genug Nahrung bekam. Nach ein paar Tagen, in denen die Muttermilch nicht ausreichen wollte, musste der Kleine mit Rindermilch zugefüttert werden. Doch er war ein zäher kleiner Junge und entwickelte sich bald zu einem munteren, fröhlichen Säugling.
Nach der Taufe des kleinen Angus ging Sean zu seiner Großmutter, um ihr davon zu berichten. Er besuchte sie nach wie vor häufig, wobei ihr Zustand sich schnell ändern konnte. Es gab Zeiten, da war Kendra nicht fähig, sich mit ihrem Enkel zu unterhalten. Dann hörte sie nur zu, was er erzählte. Sean war das einzige Familienmitglied, welches sie häufig besuchte und ihre Hauptquelle, um Neues zu erfahren.
Kendra hatte gerade eine lange Phase hinter sich, in der es ihr nicht gut gegangen war und Sean erinnerte sich, dass es Mai gewesen war, als sie das letzte Mal etwas erzählt hatte.
Sie berichtete damals, dass nach der Belagerung acht Jahre vergangen waren, in denen die Burg von englischen Soldaten besetzt war. Doch im Jahre 1660 übernahm der schottische König Charles II. wieder den schottischen Thron und die Soldaten mussten abziehen. Seans Urgroßvater Hamish, der in seinem betagten Alter von 75 Jahren immer noch erstaunlich rüstig war, ging mit Aidan und ein paar Männern auf die zerstörte Burg zurück. Aidan war als Alleinerbe übriggeblieben. Der trostlose Zustand der Burg stellte eine große Herausforderung dar. Außer dem Tower House, Teilen des Palais` und einem Stück von der Kapelle waren fast alle Gebäude zerstört. Doch Hamish hatte immer noch seinen eisernen Willen und wies sofort Bauleute an, die Burg wieder aufzubauen. Er benutze dafür das Vermögen der Familie, was zum Glück gut versteckt und nicht von den Soldaten entdeckt worden war. Sie begannen mit dem Palais und nach einem Jahr war es soweit wieder hergerichtet, dass Aidan mit seiner Familie und ein paar der Bediensteten auf die Burg zurückziehen konnten. Die Witwen seiner Brüder blieben mit ihren Kindern in Stonehaven, wo sie schon Bekanntschaften gemacht hatten und ihrer Meinung nach ein besseres Leben haben würden.
Kendra hatte weitererzählt, dass Hamish noch ganze sechs Jahre nach der Wiedergewinnung von Dunnottar Castle lebte und erst mit 81 Jahren starb. Er war ein zäher, zielstrebiger Mann gewesen.
So wurde im Jahre 1666 Aidan der neue Laird von Dunnottar Castle und widmete sich genauso engagiert und hartnäckig dem Wiederaufbau der Burg wie sein Vater. Hamish und Aidan war es zu verdanken, dass die Burg in relativ kurzer Zeit nahezu ihren alten Zustand wiedererlangte.
Als Sean an diesem Tag nun, am Tag der Taufe, zu seiner Großmutter kam, überraschte sie ihn erneut mit erstaunlich guter Verfassung. Nachdem sie gespannt seinem Bericht über die Feier gelauscht hatte, wollte Kendra auch etwas erzählen. Seans Augen leuchteten vor Freude, er nahm ihre Hand und nickte der alten Dame aufmunternd zu.
Kendra räusperte sich.
„Habe ich dir schon einmal von deinen Vorfahren berichtet, mein Junge?“
Einiges kannte Sean, aber er wurde nicht müde, von seiner Großmutter etwas erzählt zu bekommen. Also flunkerte er: „Ich kann mich nicht erinnern, Großmutter.“
„Gut, dann hör gut zu. Ganz am Anfang des McCunham-Clans stand Cinàed Afton. Leider weiß ich nicht viel über ihn. Nur, dass er auf mysteriöse Weise auftauchte und dieses Castle hier erwarb. Wie er es schaffte, sogar einen eigenen Clan zu gründen, ist mir ein Rätsel. Man sagt, er war ein Mann mit vielen Geheimnissen.“
Sean nickte und fragte: „Wisst Ihr, wann er gelebt hat?“
„Ich glaube, irgendwann im 13. Jahrhundert. Dann habe ich erst wieder Aufzeichnungen über deinen Ururgroßvater Cailan Afton gefunden. Von ihm sind ja die meisten Bücher der Bibliothek gesammelt worden, wie du weißt.“
Bei diesen Worten bekam Sean einen Schreck und ihm wurde ganz flau im Magen. Er hatte sich noch nie die Frage gestellt, was mit der Bibliothek passiert war, als die Engländer kamen.
„Großmutter? Was ist mit den Büchern geschehen, als die Burg belagert wurde?“
„Das ist eine gute Frage und ein Rätsel ist die Antwort. Kurz nachdem dein Großvater der neue Laird geworden war, kamen eines Tages drei seiner Männer zu ihm. Sie erzählten aufgeregt von einem besonderen Fund, den sie gemacht hatten, als sie die Höhle am Meer genauer erkundeten. Sie prahlten damit, dass noch niemand so weit in die Höhle eingedrungen wäre wie sie.
Aidan war neugierig mit ihnen gegangen und staunte sehr, als sie ihm in der Höhle ganz weit oben versteckt eine kleine, weitere Höhle zeigten. Er kroch hinein und sah, dass sie immer größer wurde und bis zu einem riesigen Hohlraum anschwoll. Und in diesem Hohlraum befanden sich viele Kisten, in denen die Bücher der Bibliothek versteckt waren.“
„Jemand hat die Bücher versteckt?“ Sean staunte mit großen Augen.
„Ja. Ist das nicht großartig? Dein Großvater und seine Männer holten sie behutsam hervor und richteten bald die Bibliothek wieder ein. Die meisten Bücher waren sogar in einem akzeptablen Zustand.“
Kendra erinnerte sich, dass auch sie eine Handvoll Bücher dieser neu errichteten Bibliothek beigesteuert hatte, welche sie aus dem Barclay-Haus in Stonehaven mitnehmen durfte.
„Aber wer hat die ganzen Kisten versteckt und warum wurde das damals nicht bemerkt?“, wollte Sean wissen.
„Ich kann es mir auch nicht erklären, niemand kann das. Diejenigen müssen bei der Belagerung gestorben sein und ihre bemerkenswerte Tat verheimlicht haben. Es ist ein Wunder.“
Ehrfürchtig dachte Sean an seine geliebten Bücher und an die Männer, denen er es zu verdanken hatte, dass er sie überhaupt lesen konnte. Dann fragte er: „Gibt es noch etwas über meinen Ururgroßvater zu erzählen?“
„Wie er als Mensch war, weiß ich nicht, aber er hat viel für seine Nachkommen erreicht. Nicht nur durch das Anlegen dieser umfangreichen und wertvollen Bibliothek, er hat auch das Castle umgebaut und unter anderem genau dieses Gebäude hier bauen lassen, in dem wir uns befinden. Damals war er erst 27 Jahre alt und gerade Laird geworden, weil sein Vater so früh gestorben war.“
„Wie viele Kinder hatte er?“, fragte Sean.
„Oh, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er der Vater von Hamish war, deinem Urgroßvater. Ein aufregendes Stück seines Lebens haben wir ja bereits besprochen.“
„Ihr kanntet Hamish, wie war er so?“
„Weißt du, er hat in seinem Leben viel erreicht, aber er war ein äußerst eigenartiger, eher griesgrämiger und herrischer Mann. Ich musste ihn viele Jahre ertragen, was nicht leicht war. Hamish kam auch nicht so gut mit seiner Frau aus, deiner Urgroßmutter Ivera. Dein Großvater hat nicht viel von seiner Kindheit erzählt, nur, dass er es mit seinem Elternhaus sehr schwer gehabt hat.“
„Das tut mir leid“, sagte Sean traurig. „Hat mein Großvater noch gelebt, als ich geboren wurde?“
„Ja, mein Kind. Aber als du zwei Jahre alt warst, ist mein lieber Gatte leider verstorben. Aidan war damals ganz vernarrt in dich kleines Wesen. Er fehlt mir immer noch sehr. Wir waren wirklich glücklich miteinander, auch nach der schrecklichen Belagerung.“
„Wie seid Ihr eigentlich auf die Burg gekommen?“, wollte Sean wissen.
Kendras Gesicht begann zu leuchten.
„Ach, mein Aidan. Ich weiß es noch wie gestern. Wir haben uns im Jahre 1634 bei einem Fest kennengelernt. Ich hatte mich sofort in diesen attraktiven, humorvollen und wortgewandten Mann verliebt. Ich war erst fünfzehn Jahre alt, musst du wissen, und er neunzehn. In den nächsten zwei Jahren drehten sich all meine Gedanken nur um diesen Mann, ich war wie besessen von ihm. Naja, das ist eine lange Geschichte. Auf jeden Fall haben wir dann kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag 1636 hier auf Dunnottar Castle geheiratet.“
Kendras sonst so blasse Wangen hatten bei der Erzählung sogar etwas Farbe bekommen. Sean hätte gern gehört, wie es seiner Großmutter gelungen war, seinen Großvater für sich zu gewinnen, aber ließ sie weiterreden.
„Es war schwer hier unter dem Regime meines Schwiegervaters zu leben. Wie ich schon berichtete, wurde er stolze 81 Jahre alt und somit bekam dein Großvater erst mit 52 Jahren den Titel und die Pflichten des Lairds übertragen. Aidan und ich versuchten natürlich, so schnell wie möglich Nachwuchs zu bekommen, aber es hatte am Anfang einfach nicht geklappt. Wir wurden immer verzweifelter. Umso weniger konnten wir unser Glück fassen, als nach vier Jahren dein Vater Alistair auf die Welt gekommen war. Drei Jahre später, im Jahr 1643, ergänzte zu unserer großen Freude dein Onkel Ennis unsere Familie.“
„Er ist doch Professor für Medizin in Edinburgh, oder?“, redete Sean ihr dazwischen.
„Genau. Leider ist es so weit bis Edinburgh, dass er sehr selten zu Besuch kommt“, entgegnete Kendra traurig.
Sean hatte seinen Onkel ein paar Mal gesehen, aber dieser schien sich nicht besonders für seinen Neffen zu interessieren.
„Danach jedoch kamen für uns schwere Zeiten. Und damit meine ich nicht einmal die politische Lage und die Auswirkungen der Belagerung. Ich hatte mehrere Fehlgeburten und es war unerträglich. Zuerst die Hoffnung, dann die Angst, ob alles gut geht und schließlich der unendliche Schmerz des Verlustes. Ich habe diesen Prozess so oft durchgemacht, dass ich am Ende ganz zermürbt und verzweifelt war.“
Kendra schaute bedrückt auf ihre gefalteten Hände, die auf ihrer Bettdecke ruhten. Sean wusste, dass seine Mutter auch vor ihm mehrere Kinder im Mutterleib verloren hatte.
Plötzlich fingen Kendras Augen wieder an zu leuchten.
„Doch dann, in Stonehaven, ich war inzwischen 39 Jahre alt, kam unsere Allison Ailis zur Welt.“
„Ich habe eine Tante?“, fragte Sean überrascht. „Warum hat noch niemand von ihr erzählt?“
„Leider ist das nicht so eine schöne Geschichte. Es gab einen großen Streit zwischen ihr und deiner Mutter, noch bevor du geboren wurdest, und seitdem war Allison nie wieder auf der Burg. Sie wohnt in Aberdeen und hat einen Arzt geheiratet. Wir haben sie ein paar Mal besucht.“
Sean wollte fragen, was vorgefallen war, doch seine Großmutter sah so traurig aus, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
Kendra schüttelte leicht den Kopf und schaute Sean in die Augen.
„Aber zum Glück bist du auf die Welt gekommen und ein gesunder, schlauer Junge geworden.“
Sie drückte seine Hand und lächelte matt.
„Für deine Eltern war es schwer. Sie wollten unbedingt Kinder, und so viele Male ist es schief gegangen. Ich glaube deswegen ist deine Mutter so…“, sie suchte nach den richtigen Worten „…kompliziert.“
Sean nickte.
„Ich habe Raelyn als nette, kreative junge Frau kennengelernt. Naja, man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen.“
Sean konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mutter einmal anders gewesen sein sollte, als er sie kannte.
Kendra gähnte lange. „Doch nun, mein Junge, muss ich mich ausruhen. Komme bald wieder zu deiner alten Großmutter, ja?“
Sie tätschelte liebevoll Seans Wange. Sean nickte, küsste sie auf die Stirn und ging in Gedanken versunken davon.
Acht
- 1691 -
Inzwischen war ein neues Jahr angebrochen und Sean hatte seinen zwölften Geburtstag gefeiert. Der letzte Tag im Januar war in diesem Jahr ein verregneter Mittwoch gewesen und Sean durfte zum ersten Mal Arthur zum Fest mit einladen. Sean freute sich sehr, dass ein Kind (besonders sein bester Freund) dabei war, aber Arthur saß schüchtern auf seinem Stuhl an dem langen Esstisch und kaute stumm seine Torte. Er hatte zwar noch nie Torte gegessen, aber das große Haus und Seans Eltern schüchterten ihn doch stark ein.
Seans Großmutter konnte leider nicht mitfeiern, sie war wieder schwächer geworden. Die letzten Besuche bei ihr bedrückten Sean sehr, obwohl er sie schon oft schwach erlebt hatte. Sie wirkte noch teilnahmsloser als je zuvor.
Um sich von dem traurigen Besuch bei seiner Großmutter aufzumuntern, wollte Sean zu Jaimie gehen, was er sich schon so lange vorgenommen hatte. Jaimie hatte mit seinen Eltern die Übereinkunft getroffen, dass er noch ein paar Jahre mit seinen Musikerfreunden umherziehen durfte, bis er ganz auf der Burg bleiben würde, um sich seinem künftigen Beruf, der Stallmeisterei, zu widmen.
Bis dahin sollte er sich immer wieder auf der Burg einfinden. Von Arthur wusste Sean, dass Jaimie gerade eine Weile zu Hause war und so wollte Sean die Chance nutzen. Er stapfte durch den frischen, feuchten Schnee zum Burton-Haus. Als er klopfte, öffnete Fiona die Tür mit dem kleinen Angus auf dem Arm. Er entwickelte sich prächtig.
„Hallo Sean. Komm rein, Arthur ist oben“, begrüßte sie ihn freundlich.
„Guten Tag, Mrs. Burton, ist Jaimie da? Ich wollte schon lange einmal seinen Dudelsack sehen.“
Dabei zog er seinen Mantel und seine Stiefel aus.
Etwas überrascht antwortete Fiona: „Ja, Jaimie ist auch oben. Geht es dir gut?“
Liebevoll blickte sie dabei auf Angus, der vor sich hin gluckste und sie mit seinen großen blauen Augen ansah.
„Ja, danke“, sagte Sean freundlich und ging die schmale Treppe hinauf.
Kurze Zeit später, im größeren Kinderzimmer, war Jaimie voll in seinem Element und Sean lauschte gespannt.
„Und das hier ist die Spielpfeife. Mit ihren Grifflöchern kann man die Melodie spielen. Manche Dudelsäcke haben auch zwei Spielpfeifen, aber das war mir zu teuer.“
Er zeigte und erklärte Sean mit leuchtenden Augen und großen Gesten die Funktionsweise seines Dudelsacks. Staunend betrachtete Sean die Pfeife, die an einem Sack aus Ziegenleder befestigt war. Windsack hieß dieser, hatte Jaimie ihm erklärt.
„Und das hier sind die beiden Bordunpfeifen. Damit werden die gleichbleibenden Grundtöne erzeugt.“
Jaimie klemmte sich den Sack unter seinen linken Arm, pustete Luft hinein und presste sie in die Pfeifen. Er spielte eine schöne Melodie und Sean war begeistert.
„Das klingt ja wunderbar!“, staunte Sean.
„Die Pfeifen sind aus Hartholz und die Schmuckringe aus Tierhorn. Welche aus Silber oder Elfenbein konnte ich mir nicht leisten.“
„Ich finde sie trotzdem wunderschön“, ermutigte ihn Sean. „Es kommt doch auf den Klang an, und der ist wirklich erstklassig.“
Hocherfreut spielte Jaimie noch eine Weile und Sean ließ sich in die Musik fallen. Er bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Arthur, der sich nicht einmischen wollte, las ein Buch.
„Willst du es auch mal probieren?“, fragte Jaimie plötzlich. Sean reagierte erst gar nicht, er war mit seinen Gedanken ganz woanders.
„Wie bitte? Was hast du gesagt?“
„He, du Träumer! Ob du auch mal spielen willst, hat er gefragt!“
Das war Arthur, den es insgeheim etwas störte, dass Sean seine Aufmerksamkeit einem anderen schenkte.
„Äh ja, gern“, stammelte Sean.
Umständlich nahm er den Dudelsack in die Hand und wusste erst gar nicht, wie er ihn halten sollte. Nach einer Weile schaffte Sean es irgendwie, sich den Windsack zu Jaimies Zufriedenheit unter den Arm zu klemmen. Aber pusten, pressen und spielen war einfach zu viel für ihn. Sean gab auf.
„Wie hast du das nur gelernt, Jaimie?“, fragte Sean ehrfurchtsvoll.
„Am Anfang habe ich mich genauso wie du angestellt. Aber ich hatte zum Glück einen geduldigen Lehrer und da ging es dann irgendwann. Man muss natürlich sehr viel üben“, antwortete Jaimie stolz.
Nach einer Weile fragte Sean:
„Hast du Lust, mir von deinen Abenteuern zu erzählen?“
Das interessierte ihn brennend.
„Natürlich! Hm, mal überlegen. Ich habe so viel erlebt…. Aha. Mir fällt etwas ein. Also: Einmal haben wir in Edinburgh gespielt.“
„Edinburgh? Da wohnt mein Onkel Ennis. Er ist Professor“, sagte Sean stolz. Arthur verdrehte die Augen, Jamie nickte und erzählte weiter.
„Ich fand es sehr beeindruckend und hatte vorher noch nie so eine große Stadt gesehen. Sie ist ja die Hauptstadt von Schottland.“
Sean nickte eifrig.
„Schon von Weitem konnten wir den Burgberg sehen. Von drei Seiten fallen die Felsen fast senkrecht herab, nur von der Ostseite ist er erreichbar. Auf diesem gigantischen Bergplateau ragt das Edinburgh Castle in die Höhe. Es bildete den Ausgangspunkt der Besiedlung von Edinburgh. Wir wollten es uns anschauen, aber leider ist die Burg seit Anfang dieses Jahrhunderts unbewohnt, da der König nun in London lebt.“
„Das ist ja schade“, sagte Sean bedauernd.
„Aber wir konnten etwas anderes Interessantes erleben. Als wir auf der High Street Richtung St. Giles Cathedral mit unserem Wagen fuhren, strömte eine Masse Menschen in Richtung des Kirchplatzes. Dort muss irgendetwas passieren, dachten wir uns. Je näher wir zu dem Platz kamen, desto schwerer war das Durchkommen. Also stellten wir unseren Wagen in eine Gasse und zählten aus, wer von uns dortbleiben musste, um unsere wertvollen Instrumente, unser Pferd, unseren Wagen und unsere anderen Habseligkeiten zu bewachen. Ich war es zum Glück nicht, den es getroffen hatte.
Als wir bei der Kathedrale ankamen, in der früher die Könige von Schottland gekrönt wurden, war der Platz voll. Man konnte das hohe Stadtkreuz aus den Menschenmassen herausragen sehen. Aber noch eindrucksvoller war ein großer Apparat aus Holz, der auf einer Bühne stand. Wir fragten uns, für was er da sein könnte. Zwei große Balken standen senkrecht in die Höhe und wurden von einem dritten waagerechten gestützt. Zwischen den senkrechten Balken befand sich eine dünne Platte, die man hinauf und hinunter ziehen konnte. Doch weiter konnte ich den Apparat nicht betrachten, da etwas anderes meine Aufmerksamkeit verlangte. Ein Mann mit einem Sack über dem Kopf wurde unter lautem Rufen der Menge auf die Bühne gestoßen. Wir verstanden erst nicht, was die Leute riefen, aber dann hörten wir eindeutig die schaurigen Worte: Tötet ihn, tötet ihn! Wir waren doch tatsächlich bei einer Hinrichtung dabei!“
Sean lief ein kalter Schauer über den Rücken. Auch Arthur zeigte jetzt seine Aufmerksamkeit. Diese Geschichte kannte er von seinem Bruder noch nicht.
„Und wie ging es weiter?“, fragte Sean gespannt.
„Ein Mann rief ein paar Sätze über die Vergehen des Gefangenen, dann wurde der Verbrecher gezwungen, sich vor einen Holzblock unten am Apparat hinzuknien. Die Menge jubelte immer lauter, aber mir war entsetzlich übel geworden. Doch ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Schließlich ging alles ganz schnell. Der Kniende schrie verzweifelt irgendetwas Unverständliches und dann sauste die Platte, die eigentlich ein dünnes Beil war, herab und schon kullerte der Kopf des Verbrechers blutig über die Bühne. Sein Körper sackte zusammen und aus seinem Hals spritzte das Blut in Fontänen. Nie wieder habe ich so etwas Schreckliches beobachtet.“
Sean schwieg betreten, die Bilder des geköpften Mannes vor Augen. Auch Arthur blieben die Worte im Halse stecken.
„Später habe ich erfahren, dass diese Tötungsmaschine Scottish Maiden - schottische Jungfrau heißt. Furchtbar, was sich Menschen alles ausdenken!“
Sean konnte immer noch nichts sagen.
Jaimie, unsicher, ob es richtig war, den Jungen so etwas zu erzählen, fragte: „Soll ich dir noch etwas erzählen, Sean?“
„Ähm, erst einmal nicht. Das muss ich erst verdauen.“
Er hatte vorerst genug von Jaimies Abenteuern.
„Aber wenn du magst, kannst du mir noch etwas vorspielen“, sprach er diplomatisch. Jaimie setzte begeistert den Dudelsack in Gang.
Nach einer Weile, als es bereits dunkelte, wurde Sean unruhig. „Ich muss nach Hause. Vielen Dank, Jaimie! Deine Musik ist traumhaft schön.“
Jaimie, dankbar für das Kompliment, winkte fröhlich zum Abschied. „Danke, bis bald!“
Arthur bot Sean an, ihn nach Hause zu begleiten, was Sean dankend annahm. Auf dem Weg erholten sie sich von ihrem Schreck und unterhielten sich wortreich über die gehörten Grausamkeiten.
***
Mitte September sprach eines Tages Alistair McCunham zu seinem Sohn, als die Familie gerade am Frühstückstisch saß: „Sean, ich habe eine Überraschung für dich.“
Dieser verschluckte sich fast an seinem Bissen Brot und fragte neugierig: „Was ist es, Vater?“ Er schaute zu seiner Mutter, die etwas säuerlich lächelte. Irritiert blickte Sean wieder zu seinem Vater. Was freut meinen Vater so sehr und verärgert gleichzeitig meine Mutter?