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„Heute nehme ich dich mit zur Jagd. Friseal ist schon ganz aufgeregt“, antwortete Alistair.
Friseal, deren Name Erdbeere bedeutete, war die Hündin der Familie und ein Schottischer Deerhound. Wie der Name dieser ältesten Hunderasse Schottlands verrät, wurden die Tiere für die Hirschjagd gezüchtet. Die Hunde konnten eine Schulterhöhe von bis zu 30 Zoll16 erreichen und rannten bei der Jagd vor dem Pferd her. Friseal war schon etwas älter, aber immer noch topfit. Alistair, der Tiere sehr mochte, hatte sie selbst zum Jagdhund ausgebildet. Wenn man sagen kann, dass der Laird von Dunnottar Castle Freunde hatte, dann war dieser Hund einer davon.
„Ich darf mit zur Jagd? Wie konntet Ihr Mutter dazu überreden?“, sprudelte es aus Sean heraus. Sean wurde sofort rot, weil er so frech gefragt hatte.
„Dein Vater und ich haben uns darauf geeinigt, dass es gut für dich ist, eine solche Erfahrung zu machen. Er versicherte mir, dass du inzwischen sehr gut im Sattel sitzt und es keinerlei Gefahr gibt“, antwortete Raelyn hochnäsig und etwas missmutig. Ihr war es alles andere als recht, dass ihr Sohn wie wild durch den Wald ritt und schon die Anwesenheit von Armbrüsten ließ sie erschauern. Aber sie wollte ihrem Gemahl dieses Vergnügen nicht verderben.
Nach dem reichhaltigen Frühstück ging es los. Jagden im Morgengrauen waren in Schottland nicht üblich. Sean hatte seine Reitkleidung angezogen und den von Kirstie vorbereiteten Proviant in seine Tasche gepackt.
Vika, die ihn schon gewittert hatte, schnaubte aufgeregt, als er mit seinem Vater und den anderen Jägern zu den Stallungen kam. Sie stand schon bereit in ihrer Box. Friseal bellte und hüpfte ebenfalls aufgeregt. Sie schnupperte neugierig an den anderen Hunden, die sie bereits kannte.
Alistairs Pferd Beira war ebenfalls bereits von Tevin gesattelt worden. Seans Vater hatte seine Stute nach der Riesin benannt, die in einer alten schottischen Sage Ben Nevis, den höchsten Berg des Landes, erschaffen hatte. Beira aus der Sage liebte Schnee und Eis und da passte der Name zu dem grau-weißen Fell des Pferdes sehr gut, fand Sean. Außerdem war die Stute ebenfalls sehr groß.
Sean sah die Waffen der Jäger: kostbare Jagdarmbrüste aus edlem Holz und poliertem Horn. Sein Vater hatte ihm einmal erklärt, wie diese funktionierten und Sean hatte aufmerksam gelauscht. Zuerst musste der Bogen gespannt und der Bolzen aufgelegt werden und dann löste der Stecher nach einem kleinen Fingerdruck den Bolzenschuss aus.
Alistair und seine Jagdkollegen benutzten keine Feuerwaffen. Sie fanden diese unritterlich und außerdem störte sie der laute Büchsenknall und der unangenehme Pulverdampf.
Die Armbrust war laut Alistair die ideale Jagdwaffe, weil sie nahezu geräuschlos schoss und so das Wild nicht vertrieb. Außerdem kam es durch die Bogenspannung zu einer hohen Durchschlagskraft und man konnte das Wild lange mit gespannter Armbrust verfolgen, ohne dass die Bogenspannung und damit die Schussweite nachließen.
Jeder Jäger hatte einen Köcher mit etwa zwölf Bolzen dabei. Diese Bolzen waren mit verschieden geschliffenen Eisenspitzen bestückt und die Schäfte wiesen unterschiedliche Befiederung auf. So gab es für jeden Zweck einen eigenen Bolzen. Man konnte die Tiere entweder nur betäuben oder unterschiedlich tief in deren Körper eindringen.
Sean hatte sich oft schon vorgestellt, einmal solche Waffen im Einsatz zu sehen. Obwohl er Tiere sehr mochte, empfand er es nicht als schlimm, diese zu töten. Nun war er also mit dabei und konnte auf die Pirsch gehen. Natürlich würde er keine Waffe in die Hand nehmen, das hatte er seiner Mutter versprochen, aber allein das Zuschauen würde bestimmt sehr aufregend werden.
Als alle Pferde gesattelt und die Jäger aufgestiegen waren, setzte sich die Jagdgesellschaft in Bewegung. Sean durfte mit seinem Vater an der Spitze reiten. Stolz hob er das Kinn und lenkte Vika den schmalen Pfad mit den vielen Stufen zum Festland entlang. Die Hunde rannten aufgeregt um die Gruppe herum. Es waren alles Deerhounds und ähnlich groß. Ihr langes braun-graues Fell glänzte im leichten Regen. Trotz des Regens war es noch erstaunlich warm und Sean kam schnell ins Schwitzen in seiner ledernen Reitkleidung, die mit Kaninchenfell gefüttert war. Er hatte schon wesentlich kältere Tage in dieser Jahreszeit erlebt.
Sean drehte sich um und betrachtete die Jagdgesellschaft. Er zählte zehn Männer unterschiedlichsten Alters und erinnerte sich, einige davon schon einmal gesehen zu haben. Sean hatte immer gern beobachtet, wenn sein Vater zur Jagd auszog. Und heute war er selbst dabei! Seans Vater hatte ihm erzählt, dass sie vorwiegend Rothirsche jagten. Zahlreiche Geweihe konnte man in der Eingangshalle von Dunnottar Castle bewundern.
Die Jagd war von jeher sehr beliebt bei den Männern höheren Standes. Und schon oft hatte Alistair stolz seinem Sohn die Trophäen gezeigt. Es befanden sich viele Sechs-, Acht- und Zehnender darunter. Doch der wahre König der Hirsche, ein sogenannter Kronenzwölfer, hing majestätisch in der Mitte. Seans Onkel Ennis hatte ihn vor fünf Jahren geschossen, als er ein paar Tage auf der Burg verweilte.
Eine ganze Weile ritt die Jagdgesellschaft auf dem Küstenweg entlang, der nach Stonehaven führte. Sean genoss die fabelhafte Aussicht auf das stürmische Meer. Es regnete jetzt stärker und kalter Wind pfiff ihm um die Ohren. Sean schaute zurück und sah, wie Dunnottar Castle immer kleiner wurde.
Plötzlich lenkte Alistair Beira nach links und sie kamen auf einen breiteren Weg, der ins Landesinnere führte. Die Gegend wurde zunehmend hügeliger und Sean fragte sich, ob dies schon die Ausläufer der Grampian Mountains wären. Von diesem weit ausgedehnten Gebirge aus Granit, Gneis, Marmor und anderen Gesteinen hatte ihm einmal Mr. Sutton erzählt. In dem Gebirge war auch Ben Nevis zu finden, der mit seinen 4413 Fuß17 als höchster Berg Schottlands über der Landschaft thront.
Eine Weile mussten sie leicht bergauf reiten, bis am Horizont ein Wald auftauchte. Scheinbar war dieser ihr Ziel.
Sean schaute angestrengt in Richtung Wald und erkannte beim Näherkommen schließlich, dass es sich größtenteils um Kiefern und Eiben handelte. Sein Vater erzählte ihm, dass es früher in der Gegend weit ausgedehnte Wälder gab, diese aber wegen zunehmendem Ackerbau und der Gewinnung von Weideland immer mehr abgeholzt wurden. Sean war nicht oft im Wald, aber er hatte die Abbildungen in den Büchern aus der Bibliothek studiert.
„Vater, was bedeutet eigentlich Clan?“, fragte Sean. Er hatte das Wort schon so oft gehört oder gelesen, aber bisher noch nicht näher darüber nachgedacht.
„Das ist so etwas wie eine große Familie. Es gibt überall Clans in den Highlands. Ich habe einmal gehört, dass es fast 200 Clans sein sollen. Sie gehen auf die alte keltische Stammeszugehörigkeit zurück.“
„Ja“, nickte Sean. „Von den Kelten habe ich schon einmal gelesen. Sie besiedelten vor vielen Jahrhunderten unser Land.“
Alistair nickte.
„An der Spitze jedes Clans gibt es den Clanchief. Er ist dem König direkt unterstellt, muss ihm militärisch dienen und sowohl einen Teil der Ernte als auch des Viehs an ihn abgeben. Er hat außerdem mehrere Lehnsmänner unter sich, die ihm auch etwas abgeben müssen. Das Land und der Titel des Clanchiefs wird an seine Söhne weitervererbt.“
„Und was sind Lehnsmänner?“
„Die Tacksmen bewirtschaften gemeinsam ihr Lehen, ihr Stück Land, das sie sich vom Clanchief ausgeliehen haben.“
„Seid Ihr denn der Clanchief vom McCunham-Clan, Vater?“
„Ja. Unser legendärer Ahne Cináed Afton hat vor mehreren Jahrhunderten unser Land erworben und den Clan gegründet. Er entwarf unser Wappen und beeinflusste das Tartan-Muster.“
„Von ihm hat mir Großmutter erzählt“, sagte Sean.
Ihm war das Wappen mit dem Seehund und den drei Wellen sehr bekannt. Man konnte es an vielen Stellen im Dunnottar Castle finden. Sean hatte schon oft die darauf dargestellten Tiere an der Küste der Old Hall Bay im Süden des Castles beobachtet. Und ebenso kannte er den leuchtenden Stoff aus dunkelblauen und orangen Karos des Tartans. Unter anderem war seine warme Weste daraus gemacht.
„Du wirst eines Tages auch das Oberhaupt vom McCunham-Clan sein, mein Sohn“, sagte Alistair stolz.
Sean wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Nachdenklich ritt er weiter.
Die Jäger tauchten in die stille, fast märchenhafte Atmosphäre des Waldes ein. Der Regen kam nicht mehr bis zum Boden, der mit Heidekraut bewachsen war. Es roch feucht und erdig. Sean liebte diesen Geruch. Er war gespannt, was nun passieren würde.
Sie ritten tiefer in den Wald hinein. Bald bogen sie vom Weg ab, gerieten an den Rand einer Lichtung und hielten an. Die Jäger spannten ihre Armbrüste und legten den ersten Bolzen auf. Es war sehr still. Die Pferde und Hunde schienen darauf trainiert zu sein, ruhig zu bleiben. Nur einzelne Vögel konnte man hier und da hören. Sean kam es vor wie eine Ewigkeit, es passierte nichts.
„Wie lange müssen wir noch warten?“, fragte er seinen Vater ungeduldig.
„Pst! Sei leise!“, antwortete dieser nur knapp.
Beleidigt streichelte Sean seine Stute. Irgendwie hatte er sich eine Jagd anders vorgestellt, auf jeden Fall spannender und aufregender.
Plötzlich wurden die Hunde unruhig. Sean lauschte und sperrte seine Augen auf. Auch Vika schien etwas zu spüren. Er hielt die Zügel straffer.
Auf einmal rannten Friseal und die anderen Hunde los, die Pferde hinterher. Sean wäre fast von Vikas Rücken gefallen und konnte sich gerade noch am Zügel festhalten. Es ging nun alles sehr schnell. Sean hatte gar kein Tier gesehen, das sie jagen konnten. Gefährlich und rasant ging es durch das Dickicht. Sean hatte keine Kontrolle mehr über sein Pferd. Er wurde ordentlich durchgerüttelt und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Nach einem wilden, für ihn unendlich scheinenden Ritt wurde Vika langsamer. Sean konnte wieder Atem holen. Er bemerkte, dass sich seine Finger so verkrampft am Zügel festhielten, dass es wehtat. Sean schaute sich um und konnte niemanden sehen, doch die Hunde bellten. Er lenkte seine Stute in diese Richtung und sah dann zum Glück seinen Vater und die anderen Jäger. Sie bildeten einen Kreis und Sean konnte nicht sehen, was in dessen Mitte lag. Die Hunde bellten und hüpften wie verrückt.
„Sean, komm her!“, rief sein Vater. „Schau, ich habe einen Hirsch erlegt!“
Benommen stieg Sean ab und lief zum Kreis. Da erblickte er einen frisch geschossenen, relativ großen Rothirsch. Sean zählte zehn Geweihenden. Es war ein wunderschönes Tier. Die anderen Jäger nickten anerkennend.
„Das wird eine schöne Trophäe. Ich zeige dir, wie wir ihn zerlegen und ausnehmen“, sagte Alistair stolz.
Sean war enttäuscht. Er hatte überhaupt nichts mitbekommen! Halbherzig schaute er zu, wie die Jäger das Fell abzogen, das Geweih abtrennten, die Innereien im Wald vergruben und den Körper zerteilten. Sie verstauten alles auf verschiedenen Pferden.
Für Sean, der dachte, dass die Jagd nun zu Ende wäre, wurde es ein langer Tag. Der Jagdhunger war noch nicht gesättigt und die Männer ritten noch bis zum Abend im Wald herum, lauerten und erlegten einige weitere Tiere. Zum Schluss waren die Pferde schwer mit drei Rothirschen, einem Reh, zwei Kaninchen und fünf Birkhühnern beladen. Die Jäger ritten erschöpft und zufrieden nach Hause.
Einer war nicht zufrieden. Sean fand die Jagd alles andere als spannend und wollte auf keinen Fall noch einmal mitkommen. Aber er freute sich auf die leckeren Wildbraten, die es in den nächsten Tagen geben würde.
Neun
- 1692 -
Aufgeregt rannte Sean den Gang entlang zum großen Salon. Sein alter Freund Angus hatte ihm gesagt, dass seine Eltern ihn unbedingt sprechen wollten. Sean dachte freudig, dass es um seinen morgigen 13. Geburtstag ginge und er beeilte sich sehr.
Als er den Salon erreichte, traf er seine Eltern zusammengesunken vor dem Kamin an, in dem das Feuer ungerührt prasselte. Seans Herz setzte zwei Schläge aus. Was ist denn passiert?, fragte er sich.
Alistair bemerkte Sean und erhob sich mühsam. Er nahm die beiden Hände seines Sohnes und schaute ihm lange und traurig in die Augen. Dann räusperte er sich und sagte mit belegter Stimme:
„Sean, mein Lieber. Deine Großmutter ist heute Nacht von uns gegangen.“
Sean trat entsetzt einen Schritt zurück. Er rang nach Luft, seine Augen waren weit aufgerissen. Tränen schossen seine Wangen hinab. Dann drehte Sean sich um und rannte aus dem Salon.
„Sean!“, rief sein Vater und lief ihm schnellen Schrittes hinterher. Ohne zu klopfen trat er in das Gemach seines Sohnes und fand seinen Jungen schluchzend auf dem Bett liegen. Alistair setzte sich betrübt neben ihn und streichelte sanft seinen Rücken. So saß er, bis sich Sean etwas beruhigt hatte und sich seinem Vater zuwandte.
„Warum?“, fragte Sean nur und blickte Alistair aus traurigen, geröteten Augen an. Er sah, dass auch sein Vater geweint hatte. Eine Welle tiefer Liebe durchströmte Sean und er umarmte seinen nach außen meist so gefühlskalten Vater lange. Er fragte sich verzweifelt, wer das tiefe Loch stopfen könnte, das der Tod seiner liebevollen Großmutter in sein Herz gerissen hatte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte bei dieser Umarmung auf, Sean fühlte sich bei seinem Vater geborgen.
Seans Geburtstag am nächsten Tag war trostlos, weil seine Großmutter fehlte. Alles fühlte sich so sinnlos an, auch die Anwesenheit seines besten Freundes konnte Sean nicht aufmuntern.
Kendras Beerdigung fand erst eine Woche nach ihrem Tod, am 6. Februar, statt, da noch Alistairs Geschwistern Bescheid gegeben werden musste. Der Gottesdienst und die Beisetzung wurden auf Dunnottar Castle abgehalten. Es war ein sonniger Mittwoch und das Wetter passte überhaupt nicht zu der bedrückten Stimmung auf der Burg. Obwohl sie sehr eigensinnig war, hatten die meisten Burgbewohner die alte Lady gemocht, so dass die Kapelle voll war. Es wurde eine ergreifende, würdevolle Zeremonie.
Einen Tag vor der Beisetzung war doch tatsächlich Seans Tante Allison angekommen, um ihrer Mutter die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatte ihren Mann James MacGregor, einen netten älteren Herren, und ihr Baby Geillis, Seans Cousine, mitgebracht. Allison war sehr freundlich zu Sean und schien sich genauso zu freuen, ihn endlich kennenzulernen, wie er. Sean mochte die Familie auf Anhieb und war sofort in die kleine Geillis vernarrt.
Natürlich bemerkte Sean die Spannungen zwischen Allison und seiner Mutter und er hatte das Gefühl, dass es für beide schwer war, im selben Raum sein zu müssen. Zu gern hätte Sean gewusst, was die Frauen auseinandergetrieben hatte, aber wen sollte er fragen?
Seans Onkel Ennis war auch gekommen, aber würdigte ihn wie immer kaum eines Blickes, was Sean durchaus schmerzte. Sean betrachtete Ennis ehrfürchtig, da er ein Professor war, und somit ein wirklich kluger Mann sein musste. Sean hätte sich gern einmal mit ihm unterhalten, aber die unnahbare Art seines Onkels hielt ihn davon ab.
Als dann der helle, mit schönen Schnitzereien verzierte und mit wunderschönen Blumen bedeckte Sarg seiner geliebten Großmutter auf dem Kirchhof in die Erde gelassen wurde, konnte Sean seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Benommen spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er dachte erst, sie wäre von Arthur, doch als er hinüberblickte, nahm er wahr, dass sie Shona gehörte. Er schaute in ihr hübsches Gesicht und sah ihren mitfühlenden Blick. Sean nickte ihr dankbar zu und lächelte zum ersten Mal wieder seit dem Tod seiner Großmutter.
***
Als Sean ein paar Tage nach der Beerdigung von den vielen Tränen erschöpft und mit hängenden Schultern zu Arthur ging, fand er seinen Freund niedergeschlagen auf dem Bett sitzen.
„Was ist denn los?“
Sean hatte eigentlich nicht die Kraft, seinen Freund aufzumuntern und setzte sich mutlos neben Arthur.
„Ich hasse meine Eltern!“, sagte da Arthur aufgebracht. Sean überraschte die Aussage sehr. So etwas hatte er noch nie von Arthur gehört. Arthurs Eltern waren die besten, die Sean sich vorstellen konnte.
„Ach, sag doch so etwas nicht! Es handelt sich bestimmt nur um ein Missverständnis.“
Sean tätschelte Arthurs Hand und musste dabei an seine Großmutter denken. Er spürte, wie neue Tränen sich ans Licht kämpften, konnte sie aber hinunterschlucken.
„Sie wollen, dass ich Priester werde! In Kinneff18!“, sagte Arthur abfällig. „ICH in einer Kirche! Das ist doch absurd!“ In Arthurs Augen schimmerten Tränen. Er hatte sich sein Leben anders vorgestellt. Er wusste zwar nicht wie, aber SO nicht!
„Was haben sich deine Eltern dabei gedacht?“, wollte Sean wissen.
„Ich weiß es doch auch nicht. Sie sagen, meine Zukunft wäre gesichert, aber sie haben mich überhaupt nicht gefragt. Ich soll ab nächstem Monat bei dem Priester dort leben und alles von ihm lernen. Er wäre sehr erfreut, dass ich lesen kann und nimmt mich gerne in seinen Dienst, hat meine Mutter gesagt. Aber ich will nicht!“
Jetzt schluchzte Arthur laut. Sean nahm ihn stumm in die Arme. Ich muss mir etwas überlegen!
Und das tat er auch. Die nächsten Tage verbrachte Sean damit, verschiedenste Lösungen zu suchen und abzuwägen. Er konnte kaum schlafen, die Gedanken an einen Ausweg kreisten wie wild in seinem Kopf herum und eine Idee war absurder als die andere. Was konnten sie nur tun? Dass Arthur weggehen würde, war keine Option. Ihn wollte Sean nicht auch noch verlieren. Er hatte den Verlust seiner Großmutter noch nicht ansatzweise verarbeitet, und jetzt würde ihm sein bester Freund genommen werden? Das durfte er nicht zulassen. Schließlich blieb nur eine Möglichkeit übrig, Sean hatte einen Entschluss gefasst.
Beschwingt ging er zu Arthurs Haus und klopfte. Arthurs Mutter öffnete, Angus kam neugierig herbei. Er hatte vor Kurzem Laufen gelernt.
„Sean, komm rein! Wie geht es dir?“
Sean nuschelte „Gut!“ und sah zu Arthur, der gerade trübsinnig am Küchentisch saß und etwas aß. Sonst war niemand im Raum. Überrascht sprang Arthur auf.
„Sean! Schön, dass du da bist!“
„Wollen wir ins Zimmer gehen?“, fragte Sean bedeutungsvoll. Arthur verstand, räumte den Tisch ab und die beiden gingen nach oben. Fiona schaute ihnen irritiert nach und machte sich dann an den Abwasch. Still litt auch sie unter der Entscheidung, doch sie und Tevin sahen keinen anderen Weg, ihrem Sohn eine gesicherte Zukunft zu ermöglichen. Angus erkundete indessen weiter fröhlich quietschend die Küche.
„Ich habs!“, flüsterte Sean verschwörerisch.
„Was hast du?“
„Die Lösung natürlich! Für unser Problem! Wir müssen weggehen, gemeinsam“, sagte Sean stolz.
„Abhauen meinst du?“
Arthur schaute seinen Freund verdutzt und ungläubig an. „Du willst weg von Dunnottar Castle? Aber deine Eltern. Und du bist doch irgendwann der Laird. Das verstehe ich nicht.“ Das war zu viel für Arthur.
„Hör mal zu. Ich will kein Laird sein. Und auf der Burg ist es sowieso so langweilig. Wir hatten doch gesagt, dass wir zusammen die Meere befahren wollen. Warum also nicht jetzt?“
„Hm, das wäre natürlich fantastisch! Wobei, meine Eltern und Geschwister werden schon sehr traurig sein. Aber wir können doch auch wieder zurückkommen, oder?“, wandte Arthur ein.
„Natürlich! Wir sind noch so jung. Wer weiß, was das Leben noch mit uns vorhat. Machst du mit?“, fragte Sean herausfordernd.
„Ja, du rettest mich damit! Du bist der Beste!“, stürmisch umarmte Arthur seinen Freund. Er hatte wieder Hoffnung geschöpft.
Sofort machten sich die beiden Jungen daran, ihre Flucht zu planen. Das Schwierigste war der Weg zum Festland. Wenn sie den geschafft hatten, mussten sie bloß noch nach Stonehaven kommen und dann wollten sie weiter schauen.
***
Zwei Tage später schlichen des nachts zwei Gestalten mit Kapuzen über den Burghof zu den Stallungen. Kurz darauf führten sie ein Pferd mit großen Satteltaschen in Richtung Torhaus. Alles ging leise und schnell vonstatten, auch das Pferd machte keinen Laut. Beim Torhaus angekommen, blieb eine Gestalt beim Pferd und die andere huschte mit einem langen Gegenstand in der Hand in das Gebäude. Es dauerte eine Weile, dann öffnete sich das Tor, die Gestalt kam wieder heraus und winkte der anderen zu. Diese setzte sich mit dem Pferd am Zügel in Bewegung und gemeinsam verließen sie die Burg. Flink stiegen sie die Stufen hinab und folgten dem schmalen Pfad bis zum Festland. Erst dort blieben sie stehen und blickten zurück.
„Wir haben es geschafft!“ Sean zupfte seine Kapuze zurecht. „Gut gemacht, Vika!“ Liebevoll streichelte Sean den Hals seiner treuen Stute. „Wie hast du das mit der Wache gemacht?“
Sie hatten sich geeinigt, dass Arthur diesen Teil übernahm, da er größer und stärker war als Sean.
„Es war Brendan. Er saß auf seinem Stuhl und döste. Da habe ich mich von hinten angeschlichen und ihm mit dem Knüppel auf den Hinterkopf gehauen, aber nicht so stark natürlich. Er ist einfach vom Stuhl gekippt und bewusstlos liegen geblieben. Schnell habe ich ihn geknebelt und gefesselt und das Tor geöffnet. Es war schon ein komisches Gefühl, jemanden zu überfallen und dann noch von hinten“, erwiderte Arthur verwirrt.
„Brendan wird schon wieder. Du hast das gut gemacht, Arthur.“
Mit diesen Worten stieg Sean auf und half Arthur, sich hinter ihn zu setzen. Mühelos trabte Vika trotz des Gewichtes los, die Stute war zäher, als sie aussah. Schweigend ritten sie den Küstenweg entlang und vermieden, sich umzublicken. Ganz so einfach, wie sie sich gegenseitig versicherten, war es doch nicht, ihr Zuhause und ihre Lieben zu verlassen.
Würden sie sie je wiedersehen?
II
Auf zu neuen Ufern
Wenn du den Mut aufbringst
Auf den Meeren des Lebens zu segeln
Entdeckst du nicht nur neue Welten
Sondern auch dich selbst
R.B.B.
Zehn
- 1692 -
„Das muss Aberdeen sein!“, rief Sean freudig und spornte seine Stute an.
Erschöpft von dem anstrengenden, fünfstündigen Ritt durch weichen Schneematsch sehnten sich seine Glieder nach Erholung. Auch Arthur konnte sich kaum noch auf dem Pferd halten.
Sean hatte vor ihrer Flucht heimlich die Landkarte seines Vaters studiert und zum Glück war der Weg nach Aberdeen nicht schwer zu finden, denn er ging immer an der Küste entlang. Der silberne Mond hatte ihnen treu geleuchtet und wurde nun langsam von seiner goldenen Schwester, der Sonne, abgelöst.
Als die Jungen der Stadt näherkamen, bemerkten sie die eigenartige Farbe der Häuser. Die Gebäude bestanden alle aus einem silbergrauen Stein, der in der aufgehenden Sonne glitzerte. Einige sahen ziemlich beeindruckend aus, mit Türmchen und anderen Verzierungen. An der Kirche hielten sie an. Sie war aus dem gleichen Gestein gebaut und sah sehr alt aus.
Hier also wohnt meine Tante, dachte Sean. Er hätte sie gern besucht, aber es war keine Zeit und außerdem bestand die Gefahr, dass sie seiner Familie von seinem Besuch berichtete.
„Wo ist der Hafen? Ich sehe hier nur Häuser, Häuser, Häuser“, bemerkte Arthur schmollend.
„Ich muss den Weg zum Meer verpasst haben. Am besten fragen wir jemanden.“
Sean stieg ab und wandte sich an eine ältere Frau, die gerade mit einem Korb zu einem der Häuser ging.
„Ihr müsst diesen Weg dort in die Richtung reiten. Bald könnt ihr dann den Hafen sehen.“
Zur Unterstützung stellte sie den schweren Korb kurz ab und zeigte mit ihrer linken Hand in die von ihr beschriebene Richtung. Sean bedankte sich und kam wieder zu Arthur und Vika.
Sie mussten länger reiten als sie dachten, der Hafen war ein ganzes Stück vom Ortskern entfernt. Doch dann konnten sie die ersten Segelmasten aufragen sehen.
„Da, da sind Schiffe!“, rief Arthur aufgeregt. „Da müssen wir hin!“
Sean beschleunigte sein Pferd, auch er konnte es kaum erwarten, endlich am Hafen zu sein. Die Bucht mit den Schiffen wurde größer und größer, so auch die Begeisterung der beiden Jungen. Am Hafen angekommen, bot sich ihnen ein überwältigender Anblick.