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„Sean! Hast du die Schiffe gesehen? Die sind ja riesig!“
„Wie soll ich die übersehen?!“, antwortete Sean belustigt und schaute ehrfurchtsvoll an einem 60 Fuß19 hohen Mast hinauf.
„Sie sind wunderschön.“
Der Hafen bestand aus einem großen natürlichen Becken mit einem Kai für große Zwei- bis Drei-Mastschiffe und einer Menge Anlegestege für kleinere Einmaster und Fischerboote. Am Ende wurde die Durchfahrt zum offenen Meer durch einen Damm mit einem Leuchtturm darauf verengt.
An diesem Morgen ankerten sieben große Schiffe an der Kaimauer und warteten darauf, dass sie beladen wurden. Armdicke Seile waren kunstvoll an den Pollern befestigt. Über Rampen gelangten die Seeleute mit ihrer Fracht auf dem Rücken auf die Schiffe und unbeladen wieder hinunter. Sean erinnerte das alles an einen Ameisenhaufen, den er einmal im Wald gesehen hatte. Die Berge der Ladung an Land wurden immer kleiner. Die Fässer und Säcke verschwanden über die Rücken der Männer-Ameisen im Bauch des Schiffes.
Seans Blick wanderte von den Schiffen zum großen Platz vor dem Hafenbecken. Erst jetzt entdeckte Sean die riesige Ansammlung von Marktständen, die dort aufgebaut waren. Die Schiffe hatten so sehr nach seiner Aufmerksamkeit verlangt, dass er nichts anderes hatte wahrnehmen können. Auch seine Ohren waren bisher irgendwie taub gewesen. Doch jetzt prallte eine Flut aus lauten, aufdringlichen Geräuschen auf ihn ein.
„FIIISCH, FRIIIISCHER FIIIISCH!!“
„WUUUUNDERBARE MEERFOREEELLE!“
„ZAAARTER LAAACHS!“
Die Marktleute fuchtelten wild in der Gegend herum, einige sogar mit den Fischen in der Hand.
Und der Geruch! Eine Welle aus salzigem Fisch-Duft schwappte in seine Nase. Sean musste schlucken und die Luft anhalten, um sich langsam daran zu gewöhnen.
„Sean, der Markt ist viel größer als der in Stonehaven! Und hier gibt es nur Fisch! Ich habe in meinem Leben noch nie soo viel Fisch gesehen! Das Meer muss ja leer sein!“
Arthur kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ununterbrochen plapperte er und beschrieb er, was er alles sah.
„…Und die Menschen! Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen!…“
Sean hörte gar nicht hin. Er staunte schweigend. Obwohl er so viele Bücher gelesen und sich die aufregendsten Dinge vorgestellt hatte, war die Realität doch weitaus beeindruckender.
„Komm, wir setzen uns erst einmal, ich habe Hunger.“ Sean zog seinen Freund am Arm und sie gingen zu ein paar großen Steinen etwas abseits. Sie kauten ihren Proviant, beobachteten überwältigt das rege Treiben und bestaunten weiter die Schiffe. Beim Genießen der von zu Hause mitgebrachten Trockenwürste wurden sie innerlich etwas ruhiger.
„So, und was machen wir jetzt?“, wollte Arthur schließlich wissen.
„Na, wir suchen uns ein Schiff aus und fahren mit“, antwortete Sean.
„Aber das kostet doch Geld. Auch unser Essen wird irgendwann knapp. Hast du Geld dabei?“, wollte Arthur wissen.
Oje, daran hatte Sean nicht gedacht! So ein Mist! Was machen wir denn jetzt? Sollte ihr Abenteuer schon hier enden? Noch bevor sie überhaupt ein Schiff betreten hatten?
Doch Arthur hatte eine Idee.
„Es wird dir nicht gefallen, aber der einzige Weg ist wahrscheinlich, dass wir Vika verkaufen. Wir können sie sowieso nicht mit an Bord nehmen.“
Vika! Wie konnte Sean nur so nachlässig gewesen sein und bei seinem tollen Plan nicht daran denken, was mit seinem treuen Pferd passieren sollte! Ich dummer, dummer Junge!
Sean überlegte lange. Er sah die gutherzige Stute an und ihm wurde ganz flau im Magen. Vika schaute ausgerechnet jetzt besonders treuherzig drein, als ob sie wüsste, welche Gedanken ihr Herr hatte. Aber es nützte nichts: das war die einzige Möglichkeit.
Nach einer Weile fanden die zwei Jungen einen Mann, der die Stute kaufen wollte.
„Sie ist brav und äußerst zäh, außerdem noch ganz jung“, beteuerte ihm Sean.
„Ja ja, das sagen alle…“, antwortete der dürre Mann mittleren Alters mit den kantigen Gesichtszügen. „Gib sie schon her.“
Damit entriss er Sean die Zügel und zog Vika lieblos davon.
„Seid nett zu ihr!“, rief Sean ihm traurig nach.
Er hatte sich vorher stumm von seiner geliebten Vika verabschiedet. Sie wieherte leise und ging widerstrebend mit ihrem neuen Besitzer davon. Dieser hatte ihnen eine Menge Geld gegeben, dachten die beiden Jungen zumindest. Für den Mann jedoch war es das größte Geschäft seines Lebens gewesen.
Als sie weitergingen, drehte sich Sean nicht noch einmal um. Sein Herz schmerzte und das Geld klimperte schwer in seiner Hosentasche.
Sean und Arthur liefen zurück zum Kai. Bis dahin hatten sie sich noch keine Gedanken gemacht, wo sie eigentlich hinwollten.
„Und jetzt?“, fragte Sean, entmutigt aufgrund Vikas Verlust.
„Wir müssen uns durchfragen“, entgegnete Arthur enthusiastisch. „Mal sehen, wer uns mitnimmt für dein Geld.“ Und schon stapfte er los und ging zum vordersten Schiff.
„Entschuldigung, wohin fährt dieses Schiff?“, fragte er einen Mann, der gerade einen schweren Sack über der Schulter auf das Schiff tragen wollte.
„Nach….“, sagte dieser undeutlich und war schon wieder keuchend weitergegangen.
„Aber wie viel kostet…“, rief Arthur ihm hinterher.
Die Seeleute hatten so viel zu tun, dass sie die Jungen gar nicht bemerkten. Nun versuchten beide, Gehör zu finden. Sie liefen von Mann zu Mann und fragten. Sean zeigte auch ein paar Münzen, um zu beweisen, dass sie die Fahrt bezahlen konnten.
Nach einer halben Stunde wurden sie endlich fündig. Ein alter Matrose, der ziemlich wild aussah mit seinen langen Haaren, dem struppigen Bart und dem braunen, faltigen Gesicht, hatte anscheinend ein weiches Herz. Er ließ sich das gesamte Geld von Sean zeigen und nickte. Dann bewegte er seinen Kopf in Richtung des nächsten Schiffes und bedeutete ihnen somit, dass sie ihm folgen sollten.
Aufgeregt nahmen die Jungen ihre Bündel und liefen hinter ihm her. Als Sean den Fuß auf die Schiffsrampe setzte, durchfuhr ihn ein freudiger Schauer. Er dachte an die Pelican und an die Reiseerzählung des geheimnisvollen R.B.B., die in ihm diese nagende Sehnsucht nach Abenteuer geweckt hatte. Unwillkürlich tastete er in seinem Bündel nach dem dünnen Buch, das er nicht wieder in die Bibliothek zurückgebracht hatte. Sean hoffte, dass es ihm auf seiner Reise Glück bringen würde.
An Deck waren überall Seeleute am Werk. Sie verstauten Waren und Lebensmittel, prüften Taue und Knoten und riefen einander allerhand Befehle zu, die Sean und Arthur nicht verstanden.
Sean spürte ein Kribbeln im ganzen Körper. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt. Er spürte: Hier gehöre ich hin. Mit leuchtenden Augen sah er sich auf dem Schiff um, erblickte die zwei riesigen Masten mit den noch verschnürten Segeln und sah unzählige Seile, die in einer für ihn unverständlichen Ordnung kreuz und quer über das Schiff und die Masten liefen. Sah Fässer und Truhen, lief über die knarrenden Planken. Auch seine Nase fühlte sich hier wohl. Es roch nach Salz und Freiheit. Die Möwen kreischten aufgeregt über seinem Kopf, der Wind zerzauste ihm die Haare.
Bei einem großen Mann mit Hut sollten sie stehenbleiben.
„Das ist Mr. Cook, unser Kapitän. Mr. Cook, ich habe noch zwei Passagiere gefunden. Sie zahlen gut. Sagt dem Kapitän, wie ihr heißt.“
Der Matrose blickte auffordernd zu Sean und Arthur. Etwas überrumpelt nannten sie ihre Namen.
„Einverstanden! Ihr könnt mitfahren“, sagte der Kapitän, nachdem er Sean freudig die Münzen abgenommen hatte.
„Es ist zwar keine Koje mehr frei, aber ihr könnt in der Kammer auf dem Boden schlafen. So, jetzt habe ich aber zu tun!“
Er ging zu zwei seiner Männer und redete energisch auf sie ein.
Sean und Arthur waren so überwältigt von den vielen neuen Eindrücken, dass sie glatt vergessen hatten, zu fragen wo die Reise überhaupt hinging.
„Hahaha! Ihr habt für die Fahrt bezahlt und wisst nicht einmal, wohin es geht?“
Ein etwas dickerer Matrose mit Glatzkopf hielt sich den Bauch vor Lachen. Dann klopfte er sich auf die kräftigen Oberschenkel und beugte sich lachend nach vorn. Sean und Arthur schauten sich betreten an.
„Nach Amsterdam, wir fahren nach Amsterdam“, brachte der Matrose dann keuchend hervor und ging kopfschüttelnd wieder seiner Wege.
„Ah! Amsterdam!“, sagte Sean wichtigtuerisch.
„Kennst du es?“, fragte ihn Arthur.
„Ja… nein. Noch nie davon gehört. Aber es klingt großartig! Auf nach Amsterdam!“
Sean sah auf die Hafenbucht hinaus und konnte hinter dem Damm das offene Meer erkennen. Er legte die Hand wie ein Dach über seine Augen und ließ die Gedanken schweifen. Die Sonne stand schräg am Himmel, es war fast Mittag. Ein herrlicher Tag.
Arthur bekam bei dem Gedanken weiche Knie, bald auf das endlose, weite Meer zu fahren. Wie froh war er, dass Sean bei ihm war!
Nach einer ganzen Weile, als alles verstaut und die Matrosen an Bord waren, hörte Sean endlich:
„Leinen los, Ankertrosse hieven!“
Die Fahrt ging los.
Elf
- 1692 -
Helle Sonnenstrahlen spiegelten sich im Wasser und die flachen Wellen brachen sich glitzernd an der Bordwand. Das Schiff schaukelte leicht auf der dunkelblauen Nordsee. Sean stand an der Reling und blinzelte in die Sonne. Das wunderschöne Wetter brachte leider mit sich, dass es wenig bis keinen Wind gab. Und somit kamen sie nur sehr langsam vorwärts. Doch Sean ließ sich von den griesgrämigen Matrosen nicht die gute Laune verderben.
Er schaute zu den Segeln, die schlaff an den Masten hingen. Schon elf Tage waren sie unterwegs und er fand es herrlich! Zuerst wehte viel Wind und sie kamen flott voran. Sean liebte es, wenn sich die Segel blähten und das Schiff Fahrt aufnahm. Das flatternde Geräusch des Segeltuchs und das Knarren des Schiffes erzeugten in ihm ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
Arthur hatte mit dem Geschaukel hingegen große Mühe. Er konnte seinen Mageninhalt nicht lange bei sich behalten. Jedes Mal, wenn er sich über die Reling gebeugt und widerwillig sein Erbrochenes den Wellen überlassen hatte, dachte er, es wird besser. Aber dann kam die nächste große Welle und er hing wieder über der Reling, die ihn als Einzige vor dem Meer schützte.
Sean machte der Seegang nichts aus. Er stand fröhlich an der Reling, schaute aufs Meer und fühlte den Wind und die Gischt in seinem Gesicht. Er hatte zu seiner Freude schon Delfine beobachten können. Ihn faszinierte, wie anmutig diese Tiere durch die Wellen glitten.
Da er sonst nichts zu tun hatte, dachte Sean viel nach. Vor allem darüber, was er zurückgelassen hatte. Oder besser: die er zurückgelassen hatte. Keine Sekunde bereute er die Entscheidung, fortzugehen. Hier auf dem Schiff fühlte er sich frei und zum ersten Mal er selbst. Aber doch fehlten ihm die Bewohner von Dunnottar Castle. Verärgert schüttelte er den Kopf. Es bringt nichts, darüber nachzudenken. Da sah er ein paar Seehunde auf einem Felsen im Meer und schon fiel ihm wieder das Wappen seiner Familie ein. Und die Sage, die ihm seine liebe Großmutter so oft erzählt hatte:
„Hoch oben im Norden und im Osten, seit Anbeginn der Zeit und unbekannt den Sterblichen, liegt das Reich der Meerelfen. Sie leben in Höhlen unter den Wellen und gräulich-silbern schimmert ihre Haut. Von Ferne gesehen denkt man, es seien Robben.
Nachts lauschen sie dem Singen der Meerjungfrauen auf den Steinen und tags schwimmen sie mit silbernen Lachsen durch die Wellen. An Land können die Meerelfen menschliche Gestalt annehmen. Sie reiten dann auf mächtigen schwarzen Rössern, die sie aus der Brandung geformt haben.
Vor langer Zeit nun lebte ein Fischer an der Nordostspitze Schottlands. Anfangs fing er Lachs und Kabeljau, dann aber verdiente er sein Geld mit dem Robbenfang und machte ein gutes Geschäft mit dem Anfertigen von Winterkleidung aus ihren Fellen.
Eines Abends kam ein Fremder auf einem schwarzen Ross zu seiner Hütte. Dieser wollte, dass er mit zu dessen Herrn nach Osten käme. Kurz darauf ritten beide auf dem Pferd des Fremden nach Osten. Bei einer Klippe sagte der Fremde, dass sie fast bei seinem Herrn angekommen wären. Der Fischer konnte aber kein Haus erkennen. Der Fremde nahm plötzlich den Fischer in die Arme und sprang mit ihm von der Klippe.
Sie sanken in die Tiefe, wo es dunkler als die tiefste Nacht war. Da bemerkte der Fischer, dass sie die Gestalt von Robben angenommen hatten. Dann wurde es wieder heller und sie kamen in das Meerelfenreich. Sie schwammen zum weißen Palast des Königs. Dieser war eine alte graue Robbe, blutverschmiert und mit einem Messer neben sich.
Der Fischer erkannte darin sein Messer. Er hatte kurz zuvor eine Robbe verletzt und es war in ihrem Rücken stecken geblieben. Da erschrak der Fischer. Er bat den König um Vergebung und Gnade. Der Fremde, der der Sohn des Königs war, meinte, es könnte ihm keiner seiner Heiler helfen. Er bat den Fischer, seine Hand auf die Wunde zu legen. Dieser tat es und sie heilte schnell wie von Zauberhand.
Alle Robben kamen und jubelten. Sie bereiteten sofort ein Fest für ihren gesundeten König vor. Der Fischer musste einen Schwur leisten, dass er nie mehr Robben jagte. Sonst würde er sterben, sagte ihm der Sohn des Königs. Wenn er jedoch den Schwur hielt, bekäme er immer fette Beute in sein Netz.
Der Fischer schwamm wieder an die Küste und bekam von dem Königssohn einen Beutel voll Perlen. Daraus machte er eine Kette für seine Frau und die beiden mussten nie wieder Hunger leiden.“
Sean erinnerte sich traurig daran, wie seine Großmutter ihn sacht zugedeckt und ihm einen Kuss gegeben hatte. Er hatte sich bei ihr geborgen gefühlt, und das vermisste er.
„So ein Quatsch! Ich bin doch kein kleiner Junge mehr!“, sagte Sean laut, was er eigentlich nur denken wollte.
„Was hast du gesagt?“, fragte ihn ein langer Kerl mit Backenbart und schaute ihn gereizt an.
„Ich, äh… nichts“, erwiderte Sean schüchtern. Er hatte großen Respekt vor den Seeleuten, die eher rau waren und nicht so vornehm wie seine Eltern.
„Dann halt den Mund, wenn du nichts zu sagen hast!“
Die Stimmung unter den Matrosen war seit der Flaute sehr angespannt, sie wollten endlich vorankommen.
Da gesellte sich Arthur zu Sean, der beste Laune hatte, weil das Schiff nicht schaukelte. Arthur stellte sich neben seinen Freund und spielte gedankenversunken mit dem Band um seinen Hals und dem daran befindlichen Stein. Plötzlich sagte er:
„Es war ein Geschenk von meinem Onkel Aidan, dem toten Bruder meines Vaters.“
Sean blickte überrascht zu ihm. Er hatte ihren Streit von damals nicht vergessen.
„Wie ist er gestorben?“, fragte er vorsichtig.
„Vor sechs Jahren bekamen wir die Nachricht, dass er ertrunken ist.“
Sean nickte traurig. „Weißt du mehr über deinen Onkel?“
„Meine Großmutter hat mir ein paar Mal von ihm erzählt als ich klein war, aber ich erinnere mich nicht so gut daran. Aidan war schon weggegangen, bevor ich auf die Welt kam. Ich glaube, er wollte Priester werden. Mir ist es schleierhaft, wie man so etwas überhaupt freiwillig tun kann. Mann, bin ich froh, dass sich dieses Thema für mich erledigt hat.“
Er lächelte Sean an und erzählte weiter: „Soweit ich weiß, hat er uns danach nie mehr besucht. Nur einmal, da war ich acht oder so, habe ich einen Mann beim hinteren Burgtor getroffen, der behauptete, der Bruder von Tevin Burton zu sein. Seltsam, als ich mich vorstellte wurde er rührselig und erzählte mir eine Menge Zeug. Dass er verfolgt würde und fliehen müsse und so etwas. Ich war völlig überrumpelt. Mir war die ganze Situation nicht geheuer und ich wollte mich dringend verabschieden, da zog er auf einmal dieses Lederband mit dem Stein aus der Tasche und gab es mir. Dann ist er Hals über Kopf durch das Tor gehuscht und war verschwunden. Ich stand da mit dem Stein und wusste nicht, was ich tun sollte.“
„Hast du es deinen Eltern erzählt?“, wollte Sean wissen.
„Erst wollte ich, aber dann dachte ich, ich müsste den Stein abgeben und habe ihn erst einmal eine Weile versteckt. Als ich später danach gefragt wurde, log ich, dass ich ihn gefunden hätte.“
„Warum hast du mir nichts erzählt?“, fragte Sean vorsichtig und schaute Arthur mitfühlend an.
„Keine Ahnung. Irgendwie war das immer mein kleines Geheimnis. Jedes Mal, wenn ich den Stein anschaue, muss ich an diesen verstörten Mann denken, der gesagt hat, dass er mein Onkel sei. Ich frage mich häufig, warum er ihn gerade mir gegeben hat. Seit die Todesnachricht kam, habe ich ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil ich meinen Eltern nichts von der Begegnung erzählt habe. Der Stein ist wie ein Fluch für mich geworden, aber ich kann mich nicht überwinden, ihn fortzuwerfen. Eine seltsame Sache.“
Sean nickte. „Darf ich ihn mir mal anschauen?“
Zögernd entfernte Arthur das Band von seinem Hals und legte den Stein behutsam in Seans ausgestreckte Hand. Sean lächelte dankbar und beschaute sich den Stein. Er war tropfenförmig, etwas größer als sein Daumennagel und hatte eine ungewöhnliche feuerrote Farbe. Sean hielt den Stein ins Licht und bemerkte erstaunt, dass das Material durchscheinend war und etwas schimmerte. Mit Bewunderung im Blick gab er ihn Arthur zurück.
„Du kannst froh sein, dass du ihn nicht weggeworfen hast. Der Stein ist bestimmt sehr wertvoll.“
Arthurs Blick erhellte sich. „Denkst du wirklich?“
Sean nickte.
„Aber was hat das zu bedeuten? Denkst du, dass ich jemals hinter sein Geheimnis komme?“
Sean seufzte. „Das kann ich dir wirklich nicht sagen, tut mir leid. Aber jetzt ist es nicht mehr nur dein Geheimnis. Ich werde meine Augen offenhalten, versprochen.“
Er blickte aufmunternd zu Arthur und dieser lächelte dankbar.
Zwölf
- 1697 -
Die Zeeland glitt geschmeidig mit geblähten Segeln durch das graublaue Meer. Angenehmer herbstlicher Wind spielte mit dem braunen, halb langen Haar des schlanken Seemanns. Seine verdiente Pause nach der letzten Wache genoss er am liebsten an der Reling. Sean, nun achtzehn Jahre alt, war ein Mann geworden. Und er hatte die letzten fünf Jahre fast ausschließlich auf dem Meer verbracht.
Mit Arthur in Amsterdam angekommen, heuerten sie auf einem Schiff Richtung Mittelmeer als Schiffsjungen an. Die erste Zeit war aufregend, aber auch sehr anstrengend gewesen. Sie mussten fast die ganze Zeit das Deck schrubben, in der Kombüse Zwiebeln und Ähnliches schneiden, Wasser abpumpen und andere anstrengende Arbeiten verrichten. Doch wenigstens hatten sie diesmal eine Hängematte zum Schlafen.
Es war eine weite Fahrt gewesen bis zum Mittelmeer und Sean und Arthur mussten viele Häfen anfahren. Die Venedigs Glanz, eine Italienische Cocca, tat dabei einen hervorragenden Dienst. Sie war der klassische, mediterrane, bauchige Schiffstyp mit drei Masten. Mit diesen drei Masten wurde die Last besser verteilt und die kleineren Segel ließen sich besser kontrollieren als die großen bei den Zweimastern.
Das Leben an Bord war hart. Durch das karge Essen und das ständige Klettern in den Wanten hatte Sean seine schlanke Figur behalten, aber harte Muskeln schmückten nun seine Arme, den Oberkörper und seine Oberschenkel. Die größte Herausforderung für ihn war jedoch der Drill gewesen, der an Bord herrschte. Die kleinste Befehlsverweigerung wurde mit harten Strafen geahndet. Trotzdem gefiel Sean das Leben auf dem Schiff, das Vorwärtskommen, das fortwährende Abenteuer.
Nach der Reise ins Mittelmeer waren Sean und Arthur weiter auf diversen Schiffen innerhalb Europas unterwegs gewesen und vertieften ihre nautischen Fertigkeiten. Sie hatten viel erlebt und wussten für ihre jungen Jahre bereits eine Menge über die Seefahrt. Sean war nicht nur geschickt im Segelhissen und -einholen, er entwickelte sich auch zum Meister der verschiedensten nautischen Knoten und konnte die meisten davon blind und in hoher Geschwindigkeit schlagen. Auch für Navigation interessierte sich Sean sehr und er durfte manchmal dem Kapitän über die Schulter schauen, wenn er über den Seekarten brütete und mit Kompass und Jakobsstab die Routen berechnete.
Amsterdam war inzwischen so etwas wie ihr Heimathafen geworden und Sean hatte sich in diese Stadt verliebt. Ihre Lage und Architektur beeindruckten ihn. Am meisten faszinierte ihn der Ring von künstlichen Kanälen durch die Stadt, der sogenannte Grachtengürtel. Er diente zur Entwässerung des feuchten Bodens und zur Reinigung der Stadt. Dazu wurden täglich die Schleusen geöffnet und das alte Wasser ins Ijsselmeer gespült. Die meisten Häuser waren aus Backstein gebaut und auch viele der unzähligen Brücken. Ein Einwohner erzählte Sean, dass die Häuser Amsterdams auf Millionen Holzpfählen standen, die zur Stabilität in den festen Sandboden unter dem Morast getrieben waren. Amsterdam war lange eine wichtige und reiche Handelsstadt gewesen und vertrieb vor allem Nelken, Zimt, Seide, Kaffee und Porzellan in viele Länder. Doch England, Frankreich und andere Seemächte drängten sich im Welthandel immer mehr in den Vordergrund. Somit spezialisierten sich die Niederländer auf den Geldmarkt und Amsterdam war nun das finanzielle Zentrum der Welt und der Gulden fast überall anerkannt. Es hatten sich viele Juden mit guten Fähigkeiten auf diesem Gebiet angesiedelt, was die Existenz des Judenviertels mit Synagoge erklärte.
Amsterdam war für Sean und Arthur der Ausgangspunkt für viele Reisen gewesen. Sie fuhren auf Handelsschiffen zu den großen Häfen Europas. Die Schiffe aus den verschiedensten Ländern waren so unterschiedlich wie die Waren, welche sie beförderten. Das Be- und Entladen der Schiffe stellte immer eine enorme Anstrengung dar und kostete viel Zeit und Kraft.
Auf ihren Reisen konnten Sean und Arthur abwechslungsreiche und faszinierende Landschaften bewundern. Die kalte und feuchte Fjordküste Norwegens bot dabei einen beeindruckenden Kontrast zu den kargen und trockenen Gebieten Südspaniens.
Doch auch einige Städte verdienten sich Seans Bewunderung. So hatte es ihm im Mittelmeer neben Marseille und Genua besonders Venedig angetan. Es erinnerte ihn sehr an Amsterdam. Die Stadt auf den vielen Inseln im Golf von Venedig20 war im 14. Jahrhundert eine große Seemacht gewesen. Sean spürte ein berauschendes Gefühl, als sie mit dem Schiff in die Lagune einfuhren. Von Weitem sah er den Markusdom mit seinem hohen Turm, den Dogenpalast und andere bemerkenswerte Bauwerke.
Als Sean dann etwas Zeit hatte und mit Arthur durch die Stadt schlenderte, bemerkte er, dass die einzelnen Inseln ihre eigenen Funktionen ausübten.
Er erinnerte sich an die etwas furchteinflößende Friedhofsinsel und an die interessante Insel der Glasbläser, welche die für Venedig so typischen bunten Kunstwerke anfertigten. Er erlebte die vielen Tauben am Markusplatz und durchstreifte das beengte Judenviertel. Sean staunte über die Präsenz des Wassers, es war überall. Zusätzlich zu den natürlichen Wasserarmen zwischen den Inseln gab es auch ein ausgedehntes System von künstlichen Kanälen, die als Wasserstraßen vor allem für den Transport von Waren genutzt wurden. Das erinnerte Sean besonders an Amsterdam, auch die vielen Steinbrücken.
Viele interessante Menschen hatte Sean auf seinen bisherigen Reisen kennengelernt und er könnte von einigen aufregende Geschichten erzählen. Die verschiedenen Herkunftsländer und die damit verbundene kulturelle Vielfalt versetzten Sean immer wieder ins Staunen.
Einen Matrosen aus Hamburg nannte man zum Beispiel „Wiesel“, und das nicht etwa, weil er so schnell war. Nein. Der kräftig gebaute und eher schwerfällige Mann hatte stets ein Wiesel bei sich, das ihm nicht von der Seite wich. Dieses lang gestreckte braune Tier mit den kurzen Beinen und dem kurzen Schwanz saß entweder auf seiner Schulter oder rollte sich in seiner Kapuze zusammen. Zu seinem Herrn war es stets freundlich, aber kam dem Matrosen jemand zu nahe, dann biss es sofort schmerzhaft zu.
Ein anderer Seemann aus einem afrikanischen Land, dessen Name Sean jedoch vergessen hatte, behauptete felsenfest, dass er daheim vier Ehefrauen und 23 Kinder hätte. Er prahlte damit vor den anderen Matrosen und pries lauthals seine Männlichkeit. Sean war von ihm beeindruckt gewesen, aber er wusste nicht, ob er seine Geschichte glauben konnte. Schließlich hatte er selbst noch keinerlei Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht gemacht.