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Erst kürzlich sah Sean bei einem Besuch in einer Amsterdamer Werft einen riesengroßen Mann, der meinte, ein Gesandter aus dem weit entfernten Zarenreich zu sein. Seine Größe, sein russischer Akzent und sein erhabenes Verhalten beeindruckten Sean sehr. Was er nicht wusste, war, dass es sich bei diesem Mann um Peter den Großen persönlich handelte, der inkognito einige Länder in Europa bereiste, welche die neuesten Verfahren im Schiffbau beherrschten. Er wollte sich diese Erkenntnisse aneignen und machte sogar in einer niederländischen Werft eine Zimmermannslehre. Später hat er sein Wissen und Können dafür eingesetzt, sich eine moderne russische Flotte bauen zu lassen. Er soll ungefähr sieben Fuß21 groß gewesen sein.
An all das und noch viel mehr erinnerte sich Sean, wenn er seine Zeit an der Reling verbrachte und auf seinen zweitbesten Freund blickte: das Meer.
Das dünne Buch begleitete Sean überall hin. Es erinnerte ihn daran, dass die Sehnsucht nach Neuem und Unbekanntem sein Antrieb und eine Art Lebenssinn für ihn geworden war, besonders in Situationen, in denen Sean Mut und Kraft verlassen wollten. Er hatte versucht, mehr über Francis Drake zu erfahren und suchte in seinen Nachforschungen besonders nach Überlieferungen von einem Freund mit den Initialen R.B.B. Doch Sean konnte nichts über den geheimnisvollen Autor des dünnen Buches erfahren. Über Francis Drake, der zufällig im gleichen Lebensjahr wie Sean zur See gegangen war, fand Sean mehr heraus, als ihm lieb war. Immerhin stimmte die Erzählung von der Weltumseglung, aber in seinem erbitterten Kampf gegen die Spanier war Drake scheinbar jedes Mittel recht gewesen. Er hatte getötet, gefoltert, geplündert, zerstört und gebrandschatzt. Sean fragte sich, ob das alles erst nach der Weltumseglung passierte, oder ob der geheimnisvolle Autor nur alles beschönigte. Und dennoch faszinierte Sean der Entdecker Drake, der sich in nahezu unbekannte Welten aufmachte und so zielstrebig eine Mission verfolgte, die so unsicher und enorm gefährlich war.
Die letzten fünf Jahre hatten Sean erwachsen gemacht. Als Seemann verfügte er nun über einen großen Erfahrungsschatz, er war reifer und unerschrockener geworden. Der treue Arthur, der sich doch noch an den Seegang gewöhnt hatte, wich ihm die ganze Zeit nicht von der Seite. Selten verspürte Sean noch so etwas wie Angst.
Doch dieses Abenteuer jetzt verlangte seinen ganzen Respekt. Sean hatte Arthur überreden können, seinen lang gehegten Traum in Erfüllung gehen zu lassen: sie segelten wie Drake und der geheimnisvolle Autor über den Atlantischen Ozean! Dazu hatten sie sich in Amsterdam bei der Niederländischen Westindien-Kompanie eingeschifft. Diese entsendete vorwiegend Schiffe nach Westafrika, seltener auch nach Amerika. Ihr älteres Pendant, die Niederländische Ostindien-Kompanie, hingegen schickte ihre Schiffe weiterhin nach Ostasien und Indien. Doch dorthin zog es Sean im Moment nicht.
Das dünne Buch begleitete ihn überall hin und Sean hatte auch Gefallen am zweiten Teil gefunden. R.B.B. entpuppte sich für ihn als ein weiser Mann und Sean las sich häufig dessen Gedanken durch.
Nun befand sich Sean mitten auf dem Atlantik. Dieser war der König der Ozeane und am schwersten zu befahren, weil er so wenige Inseln aufzuweisen hatte. Und somit gab es wenige Möglichkeiten, sich unterwegs mit Lebensmitteln und dem so lebenswichtigen Trinkwasser zu versorgen. Die Inseln des Atlantiks befanden sich eher am Rand. Der viel größere Pazifik hingegen verfügte über eine ganze Menge verteilter Inseln.
Sean liebte die Herausforderung. Und er hatte einen abenteuerlustigen Kapitän gefunden, der diese Liebe mit ihm teilte. Wilhelm lebte seine Rolle als Kapitän und konnte sich nichts anderes vorstellen, als auf dem Meer zu segeln und seine Mannschaft zu befehligen. Die jahrzehntelange Ausübung dieser Tätigkeit hatte ihn wortwörtlich mit allen Wassern gewaschen, ihm konnte niemand mehr etwas vormachen. Sein Markenzeichen war sein langer weißer Schnurrbart, den er penibel pflegte und rechts und links nach oben zwirbelte. Der Rest seiner Erscheinung war jedoch weniger gepflegt. Auf die Sauberkeit und Unversehrtheit seiner Kleidung legte Kapitän Wilhelm keinen Wert. Und auch seine grauen Haare standen wirr in alle Himmelsrichtungen ab. Doch das war den meisten Seeleuten egal, solange er sein Amt gut ausführte. Und das tat er wirklich.
Sean vertraute Wilhelm, und er freute sich auf dieses Abenteuer mit ihm. Wilhelm war schon einige Male über den Atlantik gesegelt und kannte sich in diesen Gewässern gut aus. Sein Ziel stellte bis jetzt immer die ehemalige niederländische Kolonie New York im Nordosten von Nordamerika dar.
Wilhelm war stolze 71 Jahre alt und kannte die Kolonie noch unter ihrem früheren Namen Nieuw Nederland mit seiner Hauptstadt Nieuw Amsterdam, bevor die Engländer sie vor 33 Jahren einnahmen. Im Jahr 1626, kurz nach seiner Geburt, waren seine Eltern mit den ersten niederländischen Siedlern nach Amerika gesegelt und haben diese Kolonie mitgegründet. Wilhelm musste bei seiner Großmutter bleiben, da seine Eltern die Reise für ihn als zu gefährlich einschätzten.
Der Junge wuchs mit der Gewissheit auf, dass seine Eltern in der Neuen Welt lebten und ihn sehr leibten. Er schwor sich, einmal ein Kapitän zu werden und seine Eltern eines Tages zu besuchen. Als er sein Vorhaben im Alter von 31 Jahren tatsächlich in die Tat umsetzen konnte, fand er anstatt seiner Eltern nur noch Geschichten über sie. Sie waren leider kurz vorher gestorben. Doch sie hatten eine Tochter hinterlassen. Wilhelm handelte mit der Niederländischen Westindien-Kompanie einen Vertrag aus, in dem festgelegt war, dass er mit der Zeeland zwischen den Niederländern in der Kolonie und ihrem Mutterland pendeln durfte, um Informationen und Waren auszutauschen. So konnte er mit seiner neun Jahre jüngeren Schwester und seinen dort gewonnenen Freunden Kontakt halten. Als die Niederländische Westindien-Kompanie im Jahr 1674 stark umstrukturiert wurde, segelte Wilhelm fortan unter englischer Flagge.
Wilhelm hatte Sean und Arthur gewarnt, wie gefährlich und strapaziös eine solche Atlantiküberquerung sei, freute sich dennoch insgeheim, dass die beiden mitfuhren. Er empfand für diesen jungen, klugen, ehrgeizigen Mann und seinen treuen Begleiter auf Anhieb Sympathie.
Dreizehn
An den Stallmeister Tevin Burton Amsterdam, 15. März 1697
und seine Familie Republik der Sieben Vereinigten Provinzen
zu Händen
Laird A.A. McCunham
Dunnottar Castle
Schottland
Liebe Eltern.
Ich hoffe inbrünstig, dass Euch dieser Brief erreicht und dass der Laird so großherzig ist, ihn Euch vorzulesen.
Ich lebe.
Die letzten fünf Jahre quälte ich mich damit, ob ich Euch eine Nachricht von mir schicken soll oder nicht. Es hat mir keine Ruhe gelassen.
Mir geht es gut.
Wenn dieser Brief unterwegs sein wird, befinde ich mich doch tatsächlich auf einem Schiff! Und wir segeln in die Neue Welt!
Die letzten fünf Jahre war ich mit Sean - ihm geht es gut - auf Schiffen in ganz Europa unterwegs gewesen. Wir haben viel über das Segeln gelernt, und Sean brachte mir auch das Schreiben bei.
Anfangs hat mir das Segeln gar nicht gefallen, meinem Magen noch viel weniger. Doch ich habe mich daran gewöhnt und nun mag ich es sogar. Nicht so sehr wie Sean, er geht völlig in seiner Tätigkeit als Seemann auf. Ihm habe ich es auch zu verdanken, dass ich jetzt nach Amerika unterwegs bin. Es war sein Traum.
Ich vermisse Euch schrecklich.
Ich hoffe, dass mich mein Weg eines Tages wieder nach Dunnottar Castle führt.
Viele Grüße an meine Geschwister.
Euer Euch liebender Sohn Arthur
Vierzehn
- 1697 -
Keuchend lag Sean am Boden des klitschnassen Decks. Verzweifelt versuchte er, sich an irgendetwas festzuhalten, was nicht lose war. Doch der Boden schaukelte dermaßen, dass es ihm nicht gelang. Er rutschte über die Planken und knallte hart an die Reling. Schmerzen durchzuckten ihn wie Blitze. Automatisch ging seine Hand zur Region unterhalb seiner Brust. Unter größter Anstrengung gelang es ihm, sich aufzurichten, er konnte doch ein Tau fassen und zog sich daran hoch. Seine Rippen brannten.
Da kam eine riesige Welle und überspülte das Deck mit eiskaltem Wasser. Sean flog einen hohen Bogen Richtung Meer und dachte schon, alles wäre zu Ende und er würde über Bord gehen. Doch sein Griff hatte sich nicht gelockert und er fiel wieder auf das Deck. Schmerzen! Er musste irgendwie hochkommen, bevor der nächste Brecher kam. Sean biss die Zähne zusammen. Halb kroch er, halb schlitterte er, bis er aufatmend einen Mast erreichte. Geschafft! Sean umklammerte den Großmast. Und wurde wieder überspült.
Erst jetzt bemerkte er seine Kameraden wieder, die ebenfalls gegen den Sturm ankämpften.
„Noch ein Mann ans Ruder! Kurs halten!“, hörte er den Kapitän brüllen.
Schon seit vielen Stunden peitschte der Regen erbarmungslos und der Wind pfiff unaufhörlich. So einen Sturm hatte Sean noch nicht erlebt. Er war hundemüde. Da alle gebraucht wurden, um das Schiff vor dem Untergehen zu retten, durfte sich niemand ausruhen. Sean hatte Arthur schon länger nicht mehr gesehen und er hoffte inständig, dass es seinem Freund gut ging.
Seans Kleidung klebte klitschnass an seiner kalten, halb erfrorenen Haut. Alles an ihm war nass, doch das bemerkte Sean kaum, da der Sturm seine volle Aufmerksamkeit forderte.
Da! Ein reißendes Geräusch! Der Alptraum eines jeden Seemannes. Ein Segel war gerissen! Schon das Zweite! Aber welches?
„Das Focksegel! Los, bergen!“, hörte Sean da jemanden rufen. Man musste das Segel schnell einholen und zusammenpacken, damit überhaupt eine Chance bestand, es später nähen zu können. Das wurde Sean auf seinen Reisen immer wieder eingebläut.
Sean taumelte auf den schaukelnden, von Gischt überspülten Planken zum Bug des Schiffes und versuchte, mit seinen nassen Händen die Wanten am Fockmast emporzuklettern. Durch die tiefgrauen Wolken am Himmel war es fast so dunkel wie in der Nacht. Immer wieder rutschte Sean am Seil ab, schaffte es aber doch unter Ächzen und Stöhnen hinauf bis zum gerissenen Segel. Seine gebrochene Rippe bemerkte er durch das ausgeschüttete Adrenalin nicht. Er stand in schwindelerregender Höhe und hielt sich mühsam am Mast fest. Ein anderer Matrose, den Sean hinter dem Regenvorhang nicht erkannte, war vor ihm oben. Mit eiskalten, fast tauben und enorm schmerzenden Händen wickelten sie das glitschige, durch die Nässe unerhört schwere Leintuch zusammen und sicherten es mit einem Seil. Sean wurde schwindlig, doch er musste wieder hinunter.
Plötzlich hörte er einen markerschütternden Schrei aus der Kombüse. Kaum am Boden angekommen, machte Sean sich auf den unter diesen Bedingungen fast unmöglich zu bewältigenden Weg zur Schiffsküche. Er öffnete vorsichtig die Tür, doch der Wind entriss sie ihm und sie knallte donnernd an die Wand. Sean schaute in die Kombüse, doch seine Augen mussten sich zuerst an die noch größere Dunkelheit im Inneren gewöhnen. Dann sah er das Chaos.
Die Töpfe lagen überall verstreut herum. Der Sturm war erschreckend plötzlich über das Schiff hereingebrochen und es bestand anscheinend keine Möglichkeit, sie rechtzeitig zu sichern. Es sah aus, als ob eine Proviantkiste explodiert wäre. Auf den Schränken, an den Wänden und auf dem Boden, überall zermatschtes Gemüse, aufgeweichtes Brot, Stücke von gepökeltem Schweinefleisch, halb ausgenommene Fische. Doch all das war kaum die Ursache für den Schrei, dachte sich Sean.
Erst jetzt hörte er ein Wimmern. Sean blinzelte durch den Raum, versuchte, das Geräusch zu orten. Das war nicht leicht bei dem ohrenbetäubenden Krach der Zeeland und des Sturms. Ächzendes Holz, prasselnde Segel und heulender Wind lärmten um die Wette. In einer Ecke sah er eine Gestalt liegen. Sean bahnte sich einen Weg durch die Lebensmittel und klammerte sich dabei an alles, was fest war. Bei der Gestalt angekommen, erkannte er, dass es sich um Piet, den deutschen Schiffskoch, handelte. Dieser streckte Sean eine Hand entgegen und schrie in schlechtem Englisch:
„Oh, danke, dass du da bist, Mann! Mein Bein!“
Und jetzt sah es Sean. Ein langes Messer zum Fisch filetieren ragte aus dem Oberschenkel des jungen Mannes. Auch das hatte man anscheinend nicht gesichert. Sean überlegte, was zu tun war. Eigentlich müsste er den Schiffsarzt holen. Doch wie sollte er herausfinden, wo sich Aderito in diesem Moment aufhielt? Ihn zu suchen war ausweglos. Aber Piets Wunde musste versorgt werden, jetzt.
Unter Schmerzen kniete Sean sich hin. Die große Frage war, ob er das Messer herausziehen sollte. Denn dann würde das Blut nur so fließen. Sean wusste, dass im Oberschenkel besonders viel Blut war. Das hatte er schon selbst erlebt, als er einmal in Piräus, dem Hafen von Athen, in einer Hafentaverne in einen Kampf verwickelt worden war. Sean schüttelte diese Gedanken schnell ab und versuchte, sich wieder auf die Situation zu konzentrieren.
Zuerst musste er etwas zum Verbinden und Blutstauen finden. Sean suchte in der Kombüse nach etwas Brauchbarem. Er durchstöberte die Schränke und fand zum Glück ein sauberes Tuch zum Geschirrtrocknen. Das Schiff schaukelte immer noch stark. Sean taumelte zurück zu Piet und kniete sich wieder hin. Er stöhnte auf. Meine Rippen!
Sean konnte im Dämmerlicht erkennen, wie bleich Piets Gesicht war. Er musste starke Schmerzen haben. Aufgrund des Lärms konnte Sean dem Koch nicht sagen, was er als Nächstes vorhatte. Also deutete er zuerst auf das Messer und machte mit der Hand eine Bewegung nach oben, dann zeigte er auf das Tuch. Sean wusste nicht, ob Piet ihn verstand. Trotzdem setzte er seinen Plan um. Schaudernd nahm er das Messer in beide Hände, schaute Piet ins Gesicht und als dieser nickte, nahm Sean allen Mut zusammen und zog an dem Messer. Begleitet von Piets Schrei glitt es aus dem Fleisch und setzte eine tiefe Wunde frei. Ein Schwall Blut quoll heraus. Schnell legte Sean das Messer zu Boden und kniete sich darauf, damit es nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. Dann presste er das Tuch auf die klaffende Wunde. Sofort war es blutdurchtränkt. Mist! Sean machte einen straffen Knoten und holte rasch noch mehr Tücher. Habe ich das Richtige getan? Das Messer verstaute er im verschließbaren Schrank.
Wieder bei Piet sah er, dass dieser viel Blut verloren hatte. Sean wickelte ein Tuch zu einer Art Seil zusammen und Band das Bein straff oberhalb der Wunde ab. Erst jetzt schaute er zu Piet. Zu allem Unglück hatte dieser das Bewusstsein verloren. Sean musste schleunigst Hilfe holen. Er band ein weiteres Tuch über die Wunde und bewegte sich zur Tür.
An Deck bemerkte er, dass der Sturm anscheinend etwas nachgelassen hatte. Er konnte mehrere Männer erkennen, die auf dem Boden saßen und sich ausruhten. Sean ging hin und suchte unter ihnen nach Aderito. Seine Augen leuchteten kurz auf, als er Arthur erkannte. Ihm ging es also gut. Gott sei Dank!
„Hast du Aderito gesehen?“, rief Sean.
„Ich bin hier!“, hörte er da die Stimme des Arztes. Sean fiel ein Stein vom Herzen.
„Du musst sofort mitkommen! Piet ist verletzt! Schnell in die Kombüse!“ Damit zog er den älteren Mann mit sich. Arthur und noch ein Matrose gingen mit.
Als sie Piet erreichten, war das ganze Bein voller Blut und der Koch immer noch bewusstlos. Aderito bedeutete den Seeleuten, den Verletzten in seine Kammer zu bringen. Zum Glück wurde der Sturm immer schwächer und sie erreichten ihr Ziel ohne größere Probleme.
In der Kammer des Arztes legten sie Piet auf die Pritsche. Mit Hilfe der anderen entkleidete ihn Aderito und wickelte ihn in warme Decken. Dann säuberte er die Wunde und nähte sie zusammen. Piets Zustand war kritisch.
Sean hingegen saß vor der Kammer auf den Planken und machte sich große Vorwürfe. Hätte ich das Messer im Bein lassen sollen? Diese Frage quälte ihn schrecklich. Grausam klopfte sie immer wieder an seine Hirnrinde. Klopf, klopf… Sean war verzweifelt. Er wusste nicht, ob er Piet geholfen oder alles noch schlimmer gemacht hatte.
Da setzte sich Arthur erschöpft zu ihm. Zaghaft fragte Sean: „Wie geht es Piet?“
„Das Bein ist genäht, aber er hat viel Blut verloren. Piet ist noch nicht aufgewacht.“
Sean sackte in sich zusammen. Er war völlig fertig. Hoffentlich würde er für die spätere Schicht zum Auspumpen des Wassers eingeteilt, das sich im Schiff angesammelt hatte.
Da riss der Himmel etwas auf und zögerlich ertasteten helle Sonnenstrahlen das gepeinigte Schiff. Sean drehte sein Gesicht zur Sonne und spürte seit einer Ewigkeit wieder ein wenig Wärme. Das tat gut. Ein winziger Hoffnungskeim entfaltete sich in seiner Brust. Die Dauerspannung viel von ihm ab und er war nur noch müde. Sean rappelte sich auf, drückte seinen Freund kurz am Arm, stieg die Luke hinunter und ging langsam zu seiner Kammer. Das Treppensteigen bereitete ihm große Schmerzen. Alles fühlte sich wie in Zeitlupe an. Ohne sich zu entkleiden plumpste er in seine Hängematte und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Fünfzehn
- 1697 -
Aderito war erschöpft. Nach diesem schrecklichen Sturm hatte er sich nicht ausruhen können, wie es sein gequälter Körper verlangte, sondern musste sich sofort um den armen Piet kümmern. Schwerfällig ließ er sich auf die Pritsche fallen und fing an, sich der schweren, klatschnassen Stiefel zu entledigen. Endlich hatte er Zeit zum Nachdenken.
Aderito konnte dem jungen Sean keine Vorwürfe machen. Er war in Panik gewesen und hatte nur helfen wollen. Aber aus medizinischer Sicht war es unverantwortlich, das Messer ohne die Beteiligung eines Fachkundigen herauszuziehen. Sean und besonders natürlich Piet hatten großes Glück, dass kein Gefäß getroffen war, sonst wäre der Verletzte innerhalb von Minuten verblutet. Piet war ein Kämpfer und Aderito überzeugt, dass er sich wieder erholen würde. Er hoffte es zumindest stark.
Dies war sein erster größerer Einsatz als Schiffsarzt auf dieser Reise gewesen. Vorher musste er nur zwei Quetschungen, die beim Seileinholen entstanden waren, und einen verstauchten Knöchel behandeln. Doch die Verletzung des Schiffskochs war weitaus schlimmer, sogar lebensbedrohlich durch den starken Blutverlust.
Nach seinem Medizinstudium in seiner Heimatstadt Coimbra, der einzigen Universitätsstadt Portugals, hatte Aderito viele Kranke behandelt und leider auch einige Tote zu verzeichnen gehabt. Es fiel ihm jedes Mal genauso schwer wie bei dem ersten Toten, sich einzugestehen, dass er nichts mehr tun konnte. Aderito erinnerte sich, dass so ein trauriger Todesfall das erste Mal auf seiner ersten Schiffsreise als Bordarzt passierte. Sie waren damals Richtung Genua unterwegs gewesen, als ein Matrose vom Großmast stürzte und sich einen komplizierten offenen Beinbruch zuzog. Aderito konnte den Bruch erfolgreich richten, die Knochenfragmente der Unterschenkelfraktur wieder an ihren Platz bringen und die Wunde sauber nähen.
Alle dachten, der Patient werde wieder gesund und würde vielleicht nur ein Hinken von dem Unfall zurückbehalten. Es ging ihm von Tag zu Tag besser. Doch dann klagte der Matrose darüber, dass das betreffende Bein schmerzte, anschwoll und warm wurde. Es färbte sich mit der Zeit rot und dann blau. Aderito wusste nicht, wie er helfen konnte. Später kamen starke Schmerzen im Brustbereich und Atemnot hinzu. Es ging dem Patienten sehr schnell immer schlechter. Er fing an zu husten und bald befand sich Blut im Auswurf. Aderito war verzweifelt und ratlos, zumal die Wunde recht gut heilte. Der bemitleidenswerte Patient verstarb kurz darauf mit schmerzverzerrtem, aschfahlem Gesicht und mit seinen verkrampften Händen am Hals. (Aderito wusste damals nicht, dass es sich dabei um eine Lungenembolie nach einem gelösten Blutgerinnsel – Thrombos - handelte.)
Nach diesem verstörenden Vorfall bekam Aderitos euphorisches Gefühl, die Arbeit mit seiner Leidenschaft - dem Segeln - verbinden zu können, einen ersten Dämpfer. Natürlich überlegte er danach, die Medizin aufzugeben. Aber dann dachte er an das lange Studium und das damit verbundene Wissen und die mühsam erlernten medizinischen Fertigkeiten. Er wollte sich als Arzt doch noch eine Chance geben. Und außerdem war es für die Matrosen auf einem Schiff wirklich sehr gefährlich und überall konnte etwas passieren, was einen Arzt benötigte.
Die Fahrt mit der Zeeland war Aderitos erste Atlantiküberquerung und er hatte sehr großen Respekt davor. In seinen mittlerweile bereits 27 Jahren auf See war er schon auf einigen Briggs unterwegs gewesen. Er mochte diesen wendigen Schiffstyp. Aber der Bau der Zeeland gefiel ihm ganz besonders gut. Sie hatte nur zwei Masten und sah sehr schlank für ein Schiff dieser Größe aus. Extra für die Überquerung größerer Gewässer, wie in diesem Fall den Atlantik, hatte sie mehr Tiefgang. Das Schiff war besonders schnell und hatte wohlgeformte, eher kleine Rahsegel, die man schneller einholen konnte, sowie das zusätzliche Gaffelsegel wie die meisten Briggs. Aderito war vom ersten Augenblick in dieses Schiff verliebt gewesen.
Er hatte eigentlich nie vor, über den Atlantik zu segeln. Zu groß war seine Angst vor diesen unberechenbaren Wassermassen und den unbändigen Winden und Stürmen auf hoher See. Und, das musste er zugeben, er fürchtete sich vor den unbekannten Dingen, die auf dem Atlantik und vor allem auf dem anderen Kontinent warteten. Natürlich wusste man als Seefahrer nie, was als Nächstes passieren würde, aber es war doch bis jetzt immer das relativ zivilisierte Europa gewesen, mit dem er sich auseinandersetzen musste.
Wieder einmal erinnerte sich Aderito an den schicksalsträchtigen Abend in der Pompa22, seiner Lieblingstaverne in Lissabon, als ein Raunen durch die Gäste ging. Ein etwas verwahrloster, älterer Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart hatte gerade den Raum betreten. Aderitos Tischnachbarn tuschelten und er hörte mit halbem Ohr nur „Kapitän Wilhelm … Atlantiküberquerung“. Er wurde hellhörig. In seinem bisherigen Leben als Schiffsarzt hatte er nur selten Leute kennengelernt, die dieses risikoreiche Abenteuer gewagt hatten. Neugierig bahnte sich Aderito den Weg zu diesem Kapitän und setzte sich in seine Nähe. Den ganzen Abend lang beobachtete er damals diesen älteren aber immer noch energievollen Mann und bemerkte, wie ihn dessen gewinnende Art in den Bann zog. Aderito hörte seine aufregenden Geschichten und bekam immer mehr Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Kapitän Wilhelm blieb lange in dem Lokal, länger noch als seine Bewunderer. Obwohl Aderito ein eher schüchterner Mann war, ergriff er nun die Gelegenheit und sprach den Kapitän an.
„Äh, hallo. Darf ich Euch eine Frage stellen?“ Ohne auf die Antwort zu warten, redete er nervös weiter. „Ich habe mitbekommen, dass Ihr bald über den Atlantik segelt. Stimmt das?“
„Ja, in der Tat, mein Freund“, entgegnete ihm der Kapitän laut und freundlich und zwirbelte dabei hingebungsvoll seinen Bart.
„Das ist höchst interessant!“ Begeistert wurde Aderito mutiger: „Wann lauft Ihr aus?“
„In zwei Wochen. Wollt Ihr mitfahren?“, fragte er scherzhaft.
Aderito war so verblüfft, dass ihm der Mund offen stehen blieb. So etwas hatte ihn noch niemand gefragt. Über den Atlantik segeln! Einfach verrückt!
„Ich bin Wilhelm, mein Freund. Und Ihr?“, fragte er unvermittelt.
„Aderito.“ Er drückte die ihm gebotene Hand.
„Und? Was sagt Ihr? Ich brauche dringend noch mutige Männer.“ Wilhelm schaute Aderito intensiv an. Seine tiefblauen Augen funkelten.
„Ich bin mutig“, entgegnete Aderito überrumpelt.
„Na dann ist es abgemacht. Wir sehen uns morgen früh am Hafen bei der Zeeland.“ Wilhelm reichte dabei dem verdutzten Aderito erneut die Hand und verließ unvermittelt mit einem Nicken die Kneipe. Dem Kapitän hatte der ruhige, zurückhaltende Mann von Anfang an gefallen und mit seinem untrüglichen Blick konnte er sofort erkennen, dass dieser ein guter Matrose war.
Aderito saß nach dem seltsamen Gespräch lange schweigend auf seiner Bank. Er konnte nicht fassen, was gerade geschehen war. Habe ich gerade einer Atlantiküberquerung zugestimmt?, dachte er kopfschüttelnd.