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»Mhhh. Ich weiß nicht.« Raimunds Stirnfalten zogen sich zusammen. »Ich finde nicht, dass wir etwas hinzudichten sollten.«
»Du bist ja mal wieder richtig pedantisch!«, erwiderte Chaim unwirsch, wobei jedoch ein Lächeln seine Lippen umspielte.
»Es ist Gottes Wort, da kann man gar nicht vorsichtig genug sein«, antwortete Raimund ernst. »Aber lass uns einen Kompromiss schließen. Ich setze eine Klammer um saftig grün, dann können wir das später entscheiden, wenn wir den gesamten Psalm niedergeschrieben haben.«
Raimund nahm einen Griffel aus seinem Wams. Das eine Ende war zugespitzt und das andere abgeflacht. Mit Letzterem rieb er vorsichtig über das weiche Bienenwachs auf der rechten Innenseite der Mappe und die Schriftzeichen verschwanden. Dann drehte er den Griffel um und ritzte mit dem spitzen Ende den Text, den Chaim gerade vorgelesen hatte, in die Fläche ein. Sanft zog die Griffelspitze durch das weiche Wachs und die Buchstaben reihten sich in akkuraten Strichen und perfekten Bögen aneinander.
Kritisch betrachtete Raimund das Geschriebene und reichte Chaim die Wachstafel. Der nickte wohlwollend beim Lesen und gab sie Raimund schließlich mit anerkennendem Blick zurück.
»Lass uns weitermachen.«
Raimund schaute auf die linke Seite der Mappe und las: »Im nächsten Vers heißt es: Super ea volucres caeli habitabunt de medio petrarum dabunt voces. Wie lautet es im Hebräischen?«
Das Tappen von Schritten riss die beiden Gelehrten aus ihrer Arbeit.
Auf einem Acker nahe Gerstendorf
Schier endlos schob sich der Menschenzug auf dem Treidelpfad dahin und immer mehr Gestalten strömten hinter dem Hügel hervor. Doch waren es kaum noch stolze Ritter auf Pferden mit ihren Knappen. Es waren Bauern mit Sensen und Spießen, Ochsenwagen, beladen mit Kisten, Säcken, Gänsen und Hühnern in ihren Käfigen. Mütter zogen ihre Kinder inmitten von Schweinen und Ziegen hinter sich her, Hunde rannten durch die Menge. Dazwischen schienen ein paar Mönche zu singen und zu tanzen.
Staunend beobachtete Peter das Treiben. Was für ein Schauspiel bot sich da direkt vor seinen Augen!
Sein kleiner Bruder Bernhard kam über den Rücken des Hügels gelaufen. Er hielt einen Korb in den Händen. »Peter, Peter! Mutter hat mich geschickt. Ich bring dir das Essen.«
Peter zeigte in Richtung des Treidelpfades. Für einen Augenblick blieb Bernhard stehen. Mit offenem Mund betrachtete er die Menschenmassen, rannte zu seinem älteren Bruder und zog ihn an der Hand. »Komm, komm, schnell nach Hause.«
»Das sind die kämpfenden Wallfahrer, die ins Heilige Land ziehen«, bemerkte Peter wissend. Er lächelte seinem Bruder zu. »Wollen wir uns die Jerusalempilger zusammen anschauen?«
Peter spürte den Druck von Bernhards Fingern in seiner Handfläche. Der Blick seines Bruders schweifte entlang des Rheins, dann schaute er Peter mit unsicheren Augen an. Der lächelte beschwichtigend. »Schau auf diese Menschen. Sie ziehen den weiten Weg in den Orient, weil der Herr der Kirche es von ihnen verlangt hat.«
Bernhard blieb bei seinem Bruder.
Sie inspizierten den Korb, den die Mutter für Peter gefüllt hatte. Ein halber Laib Brot war dort zu finden, eine große geschälte Zwiebel, zwei Äpfel, fünf Karotten und eine Tonschale mit Butterschmalz. Peter riss ein kleines Stück Brot ab und gab es Bernhard, nahm anschließend ein großes Stück für sich selbst, fuhr damit durch das weiche Schmalz und biss genussvoll hinein. Bernhard linste auf den kleinen Lederbeutel an Peters Gürtel. Der lachte, öffnete ihn und gab Bernhard eine Pflaume. Schmatzend lutschte sein kleiner Bruder an der dunkelblauen Frucht.
Bernhard lehnte sich an Peter an, der den Arm um ihn legte. Eng angeschmiegt saßen sie da. Peter spürte, wie das Auf und Ab des Brustkorbs seines Bruders langsam ruhiger wurde, die körperliche Nähe tat auch ihm gut.
Wie ein langer Wurm schlängelte sich die Prozession auf der anderen Seite des Rheins den Pfad entlang. Peter vergaß all die Köstlichkeiten, die Mutter für ihn mitgegeben hatte. Gemeinsam winkten sie den Menschen zu. Das ein oder andere Bauernkind erwiderte ihren Gruß.
Oder wollten sie die beiden zu sich winken? Riefen sie etwa: »So kommt doch mit, ihr zwei!« Oder war dies nur Peters Wunsch? Jerusalem, die Heilige Stadt. Peter war es, als wollten seine Füße den Berg hinunterlaufen. Bernhards Interesse richtete sich dagegen immer mehr auf den offenen Lederbeutel. Er stibitzte eine weitere Pflaume aus dem offenen Säckchen, aber Peter war so mit dem Treiben auf dem gegenüberliegenden Ufer beschäftigt, dass er seinen kleinen Bruder gewähren ließ.
Langsam steuerte der Ferge sein Boot zurück in Richtung des Ufers, an dem die Menschenmassen über den Treidelweg marschierten. Lene genoss derweil ganz unbeteiligt das frische Gras.
Mainz – in der Synagoge
Respektvoll näherte sich David, Jehudiths und Chaims Ältester. In seiner Hand hielt er eine Schiefertafel.
»Sei gegrüßt, David«, sagte Raimund, »wie geht es dir?«
»Entschuldigt bitte vielmals, dass ich störe«, antwortete David, »aber der Parnas hat mich gebeten, diese Nachricht eiligst meinem Vater zu übergeben.«
»Was will Kalonymos von mir?« Chaim stöhnte laut. »Kann das nicht warten? Du siehst doch, dass wir mitten in der Arbeit sind.«
»Er hat gesagt, es sei sehr dringend«, insistierte David und hielt ihm die Schiefertafel vors Gesicht.
Entschuldigend blickte Chaim zu Raimund, nahm die Tafel und las. Bereits nach wenigen Zeilen wurde er ganz ernst und wandte sich an seinen Sohn. »Was hat Kalonymos noch gesagt?«
»Er lässt ausrichten, dass sich der Rat augenblicklich bei ihm treffen soll. Er bittet darum, dass du dich beeilst.«
»Ich komme«, sagte Chaim. »Raimund, es tut mir leid, ich muss jetzt gehen.«
»Was ist passiert?« Raimund sah ihn besorgt an. Sein Freund konnte sich sicher denken, dass Streitfragen über Talmudauslegung oder innerjüdische Angelegenheiten nicht solcher Eile bedurft hätten.
»Es gibt beunruhigende Nachrichten aus Speyer.« Chaim wollte Raimund nicht vor den Kopf stoßen, aber er hatte eigentlich schon zu viel gesagt. Die Dinge, die im Rat besprochen wurden, mussten absolut vertraulich behandelt werden. Selbst Jehudith dürfte er eigentlich nichts davon erzählen. Aber in ihrem Fall überging er das strenge Gebot. Auf Jehudiths Verschwiegenheit konnte er sich verlassen. Um aus ihr etwas herauszubekommen, müsste man sie foltern.
Raimund schien sich über Chaims Situation im Klaren, daher unterbrach er die peinliche Stille und verbeugte sich. »Bitte lass mich wissen, wenn ich helfen kann.«
»Wir werden deine Hilfe vielleicht bald bitter nötig haben«, antwortete Chaim, erleichtert, dass sein Freund, der Domdekan, ihm vertraute, obwohl er sich so verhalten geäußert hatte.
Chaim zeigte auf ein zusammengefaltetes Leintuch neben dem Tehillim auf dem Pult und sagte: »David, möchtest du das Buch der Psalmen in das Regal zurücklegen? Du weißt ja, wohin.«
David nickte. Chaim sah noch, wie sein Sohn das Leinen nahm, es auf dem Pult auseinanderfaltete und das kostbare Buch auf den ausgebreiteten Stoff legte, den er schließlich sorgfältig über dem Leder zusammenschlagen würde.
Am Ausgang der Synagoge schaute Chaim nochmals hinter sich. Achtsam trug David den Tehillim zu dem kopfhohen Regal an der Seitenwand der Synagoge, in dem sich unzählige Schriftrollen, Bücher und andere Dokumente befanden, wohlgeordnet in verschiedenen Abteilungen. Eine süße Wehmut umfing Chaim, sein Vaterherz sehnte sich danach, dass auch David einmal ein Rabbi werden würde.
Chaim trat auf den Platz vor der Synagoge. Mit schnellen Schritten eilte er den kurzen Weg zum Haus von Kalonymos ben Meschullam, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Mainz.
Auf einem Acker nahe Gerstendorf
Letztendlich hatte Peter sich losreißen können und war zurückgekehrt zu seiner Arbeit auf dem Feld. Auch Bernhard war nach Hause gegangen, jedoch nicht, bevor er die letzte Pflaume aus Peters Beutel genommen hatte.
Die Ritter mit den Fahnen waren längst hinter der Flussbiegung in Richtung Mainz verschwunden, aber noch immer kamen Menschen von der Wormser Seite, jedoch weitaus spärlicher.
Die Fähre und ein kleineres Boot machten sich gerade daran, den Rhein zum hiesigen Ufer hin zu überqueren. Der Fährmann schob ein Ochsengespann auf seine Ladefläche. Der Wagen trug keinerlei Fracht, aber ein Ritter und sein Knappe gesellten sich zu ihm, nachdem der Ferge das Gespann unter großen Mühen eingeladen hatte.
In dem kleineren Boot saßen einige Mönche in braunen Gewändern. Ein Priester in einer feuerroten Kutte stand am Bug. Aufmerksam tastete der Blick des großen schlanken Mannes die Hügel des diesseitigen Ufers ab, ein großes silbernes Kreuz hing um seinen Hals. Nun schaute er genau in Peters Richtung. Nahm der Priester ihn wahr? Das Kreuz spiegelte das Sonnenlicht zu ihm herüber und eine Welle des Wohlbehagens durchfloss Peters Körper. Dann schweifte der Blick des Mannes weiter.
Das kleine Boot glitt über das Wasser.
Auf ihrer Seite angekommen, verteilten sich die Mönche in der Landschaft. Wie ein schmaler roter Strich zeichnete sich der Priester vor den grünen Wiesen und braunen Feldern ab. Langsam kleiner werdend, bewegte er sich einen Hang hinauf, bis er schließlich in einem Wald verschwunden war.
Mainz – auf der Langen Gasse
Speyer, hatte Chaim gesagt. In Gedanken versunken ging Raimund die Lange Gasse zurück zum Dom. Für den nächsten Morgen war Raimund beim Bischof einbestellt, zusammen mit dem Vogt. Ob das irgendetwas mit der Nachricht an Chaim zu tun hatte? Sein Freund schien seltsam reserviert und bekümmert. Raimund war so damit beschäftigt, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen, dass er beinahe mit einer Waschfrau zusammengeprallt wäre, die einen Zuber Wasser in den Rinnstein gießen wollte. Das Weiblein wollte schon zu einer Schimpftirade ansetzen, als sie den Domdekan trotz seines Wamses erkannte.
Raimund entschuldigte sich knapp. In seinem Kopf durchwalkte er die verschiedensten Möglichkeiten, wie es Jehudiths flinke Hände mit dem Sauerteig getan hatten. Wenn der Vogt involviert war, dann musste es um etwas gehen, das sich außerhalb der Bischofspfalz abspielte. Das gehörte nicht zu seinem Einflussbereich als Domdekan, das lag in der Verantwortung des Propstes. Raimunds Aufgabe bestand normalerweise nur in der Organisation des geistlichen Lebens innerhalb der Domdiözese.
Aber nun befand sich Dompropst Manfried seit einigen Wochen auf Reisen. Lange hatte sich der alte und wegen seines Pflichtbewusstseins allseits geschätzte Stiftskollege danach gesehnt, eine Pilgerreise zum Grab des heiligen Viktor in Xanten anzutreten. Seitdem musste Raimund den Propst vertreten.
Raimund stöhnte vor sich hin. Gerade er, dem das Machtpolitische gleichermaßen fremd wie zuwider war. Ein Empfang beim Bischof zusammen mit dem Vogt? Chaims besorgte Reaktion ließ Raimund mit noch größerem Unwohlsein auf das morgige Treffen blicken. Entsprechend beunruhigt trat er durch das Tor der Bischofspfalz, deren Wachen ihm erst den Weg versperren wollten, da auch sie ihren Domdekan in seinem Wams zunächst nicht erkannten. Erst jetzt bemerkte Raimund, dass er besser den weitaus diskreteren Weg durch den Dom über die einziehbare Holzbrücke genommen hätte.
Mainz – im Haus des Parnas
Noch bevor er klopfen konnte, wurde Chaim die Tür geöffnet.
»Sie warten schon auf dich, oben im Empfangsraum«, raunte ihm die Frau des Parnas zu. Sie war umgeben von einer Duftwolke, die Chaim für einen Moment irritierte. Auch Jehudith machte ab und an Gebrauch von Duftwasser, jedoch zu seinem Gefallen in einer weitaus dezenteren Art.
Beim Gang die Treppe hinauf bestaunte Chaim die Respekt einflößende Gleve, die an der Wand hing, als wolle sie den Weg zu dem großen Saal im ersten Stock weisen. Er widerstand der Versuchung, mit seinen Fingern die Schärfe der Klinge an der Seite dieser furchterregenden Lanze zu erfühlen. Mit seinen kindlichen Bewegungen hatte David, als er noch einige Jahre jünger gewesen war, seinem Vater anhand einer Gartenharke die mannigfaltigen Anwendungsmöglichkeiten dieses Mordinstruments vorgeführt. Selbst wenn der erste Stich mit der Spitze sein Ziel verfehlen sollte, hatte ihm sein Sohn damals stolz erklärt, könnte man immer noch die Klinge als Haken benutzen und den Gegner durch eine schnelle Zugbewegung umreißen. Mit dem zwei Handbreit langen Schlagdorn, der der Klinge gegenübersaß, ließ sich dann auf den hilflos am Boden liegenden Körper einhacken. Selbst die härtesten Panzerungen würden dem nicht standhalten, hatte David geschwärmt.
Legenden kreisten um diese Waffe des Geschlechts der Kalonymos: Kaiser Otto II. habe diese Waffe dem Ururgroßvater des Parnas vermacht. Dieser habe dem Kaiser das Pferd geschenkt, auf dem er nach der Schlacht bei Cotrone vor den Sarazenen flüchten konnte. Aus Dank habe der Kaiser die Familie aus Lucca eingeladen, sich in Mainz niederzulassen. Dies sei der Anfang ihrer nun so stolzen Gemeinde am Rhein gewesen, so die Legende.
War es Kalonymos selbst, der diese Geschichten verbreitete? Oder waren sie Teil der Überlieferungen, die Menschen befähigten, eine Gemeinschaft wie die ihre zu bilden? Chaim war in jedem Falle froh gewesen, als sich Davids Interesse für Waffen gelegt hatte und er stattdessen anfing, sich für das Schreiben und Zeichnen zu begeistern.
Er trat in den großen Raum, der fast die ganze Etage einnahm. Der Parnas begrüßte ihn an der Tür. Kalonymos’ festen Handschlag angemessen zu erwidern, kostete Chaim Mühe, und er musste seinen Blick nach oben richten, um dem Parnas in die Augen schauen zu können.
Die Sonne warf harte Schattenkanten durch die Fensteröffnungen auf den Dielenboden. In der Mitte des Raumes saßen sich zwei Männer an einem großen Holztisch gegenüber. Mit seinen faltigen Händen hielt der alte Mosche, der zweite Rabbi der Gemeinde, ein kleines Pergament nah an seine Augen. Ein Lächeln grub sich in sein zerfurchtes Gesicht. Ihm gegenüber saß Salomo, ein in Mainz nicht nur von den Juden geschätzter Arzt. Chaim nickte den beiden freundlich zu. Mosche blickte nicht auf, und wie so oft beschlich Chaim ein Gefühl der Verunsicherung. Nahm Mosche ihn aufgrund seiner schlechten Augen nicht wahr oder war es seine Art, ihm gegenüber Verachtung auszudrücken? Der alte Rabbi war doch sonst so warmherzig zu allen in der Gemeinde.
Die letzten Jahre waren von schmerzlichen Auseinandersetzungen mit seinem älteren Kollegen geprägt gewesen. Mosches großes Wissen beeindruckte Chaim immer wieder, jedoch verspürte er gegen dessen überpräzise Auslegung der Torah immer häufiger einen Unwillen, den er selbst bei den Gottesdiensten nur noch schwer verbergen konnte. Die Qualität von Mosches Stimme, der oft als Vorbeter die Torahtexte aus der Bimah vorsang, war jedoch unbestritten. Aus der Fülle seines Leibes entluden sich eine Tiefe und Wärme, die die ganze Gemeinde verzauberten. Und auch Chaim liebte es in diesen Momenten, dem alten Mosche zuzuhören.
Salomo begrüßte Chaim mit einem verschmitzten Lächeln, das dieser zwar nicht zu deuten wusste, das ihm jedoch keinerlei Unbehagen bereitete. Chaim vertraute dem erfahrenen Arzt, der David, Benjamin und Hannah gesund zur Welt gebracht hatte und auch manches Wehwehchen der Kinder mit den Kräutern seines geheimnisvollen, üppigen Gartens lindern konnte. Auch gegen Chaims gelegentliche Schwermut wusste Salomo Rat. Und wenn es nicht anders ging, so fand er mit Sicherheit eine Mixtur, die es Chaim ermöglichte, die Woche bis zum Sabbat zu überstehen. Deshalb strebte Chaim sofort auf den freien Stuhl neben dem Arzt zu. Er legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und setzte sich.
Der Kaufmann Schmuel Hendlein stieß als Letzter hinzu. Beim Eintritt wanderte sein Blick flüchtig über die Anwesenden, während er mit besorgter Miene ein paar Sätze mit dem Parnas wechselte. Dann ging er zum Tisch, gab Chaim und Salomo einen freundlichen Klaps auf den Rücken, begab sich zu dem freien Platz neben Mosche und reichte diesem die Hand. Erst jetzt sah Mosche auf, und Schmuels feine, gepflegte Hände versanken in den Pranken des alten Rabbis.
Kalonymos schloss die schwere Eichentür, begab sich zum Kopf des Tisches und zeigte auf ein eingerolltes Pergament, das vor ihm lag. »Liebe Mitglieder des Rates, dieser Brief wurde uns von unseren jüdischen Freunden aus Speyer gesandt.«
Der Parnas schaute jedem der Anwesenden in die Augen. Nachdem er sich der Aufmerksamkeit aller Mitglieder des Rates sicher war, fuhr er fort. »Wir haben viele Gerüchte über das Heer der Unbeschnittenen gehört, auch dass es vor Speyer gelagert hat.«
Er ließ seinen Blick für einen Moment auf Schmuel verweilen. »Manche von uns haben gar schon an Flucht gedacht.«
Schließlich wandte sich der Parnas wieder an den ganzen Rat. »Nun bekommen wir endlich Klarheit. Der Brief enthält wichtige Nachrichten. Hoffnungsfrohe, aber auch besorgniserregende. Deshalb habe ich nach euch schicken lassen. Habt Dank, dass ihr so schnell gekommen seid, und hört nun selbst, was uns die Gemeinde aus Speyer zu berichten hat.«
Der Parnas rollte das Blatt auseinander und las vor. »Liebe Brüder und Schwestern in Mainz! Bewegende Dinge sind geschehen bei uns in Speyer, von denen wir euch in Kenntnis setzen möchten. Elf Gemeindemitglieder haben wir verloren, und viele von uns wurden in schwere Glaubensnöte gebracht. Jedoch schenkte der Eine uns in seiner großen Güte Rettung zu guter Letzt. Aber lasst uns von unserem Geschick berichten, damit ihr Vorsorge treffen könnt.« Kalonymos blickte auf. Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht. »Am Sabbat, dem achten Tag des Monats Ijjar, kam die schwere Prüfung des Herrn über uns. Schon seit dem Freitag lagerte das Heer der Unbeschnittenen in Zelten vor unserer Stadt und verbreitete großen Schrecken unter uns. Sie hefteten ein verwerfliches Zeichen, ein Kreuz, an ihre Kleider, sowohl Mann wie Frau, alle die sich bereitfanden, den Irrweg nach dem Grab ihres Messias zu ziehen, sodass die Männer, Frauen und Kinder zahlreicher waren als die Heuschrecken auf der Fläche des Erdbodens. Emicho von Flonheim – seine Gebeine mögen in einer eisernen Mühle zermalmt werden – führte das Heer an. Als sie nun auf ihrem Zuge durch die Städte kamen, in denen Juden wohnten, sprachen sie untereinander: ›Sehet, wir ziehen den weiten Weg, um das Haus der Schande aufzusuchen und uns an den Ismaeliten zu rächen, und siehe, hier wohnen unter uns Juden, deren Väter Christum unverschuldet umgebracht und gekreuzigt haben! So lasset zuerst an ihnen uns Rache nehmen und sie austilgen unter den Völkern, dass der Name Israel nicht mehr erwähnt werde; oder sie sollen unseresgleichen werden und zu unserem Glauben sich bekennen.‹«
Auf Mosches Stirn traten Zornesfalten. »Der Gekreuzigte, der gehängte Bastard, Verderben und Blut bringt er.«
Chaim verschloss die Augen. Musste Mosche solche Worte wählen? Auch ihm war die Vorstellung eines gekreuzigten Messias zutiefst fremd. Noch schlimmer war, dass sie den Nazarener zu einem Gott erhöht hatten. Durch nichts, was in den Schriften stand, war dies zu rechtfertigen. Aber was half es, den, welchen die Christen als ihren Heiland anbeteten, einen Bastard zu nennen? Insbesondere die Kinder schnappten so etwas gerne auf. Und dann verbreiteten sich solche Worte und stifteten Missgunst unter den Städtern.
»Speyer, das sind nur zwei Tagesreisen mit dem Schiff.« Schmuels Bemerkung unterbrach Chaims Gedanken. »Knapp vier Tage mit dem Pferd, sieben Tage zu Fuß.«
Kalonymos ben Meschullam fuhr fort: »Es wurden mehr von den Gottlosen jeden Tag, und sie trieben sich herum in der Stadt, dass es uns bange wurde. Unter der Führung Emichos, er soll auf ewig verflucht sein, wandten sie und einige der Städter sich gegen uns, töteten elf Menschen und zwangen viele, sich zu beschmutzen mit ihrem übel riechenden Wasser.«
»Elf Seelen ermordet in Speyer«, raunte Schmuel.
Mosche fügte hinzu. »Und viele zu ihrer Verderben bringenden Taufe gezwungen. Wir …«
»Wartet, wartet. Lasst mich den Brief zu Ende lesen«, unterbrach der Parnas den alten Mosche. »Als dies Bischof Johann zu Ohren kam, sammelte er seine Krieger und hielt seine Hand über uns. Er gewährte uns Juden Einlass in seine Pfalz und schützte uns vor den Mördern.«
»Seht«, bemerkte Chaim, »wir können dem Bischof vertrauen!«
Schmuels Gesicht war die Erleichterung anzusehen.
»Und er ergriff manche der Aufwiegler und verfügte, dass ihnen die Hand abgeschlagen werde, wie es vom Kaiser Heinrich bestimmt worden war. Durch diesen frommen Bischof wurde uns die Gnade des Herrn zuteil.«
Chaim nickte zufrieden. »Die Hände des Mörders abschlagen, das ist die vorgesehene Strafe nach kaiserlicher Rechtsprechung. Das wird dieses Räubervolk in ihre Grenzen verweisen. Sie werden es nicht noch einmal wagen, sich an unsereinem zu vergehen.«
»Unter Berufung auf den Kaiser gewährte Bischof Johann den übrigen Gemeindemitgliedern in seinen Festungen Schutz«, fuhr Kalonymos fort.
Über Mosches Gesicht zog ein dankbares Lächeln, mit kämpferischem Optimismus raunte er: »Gott ist groß.«
»Der Ewige nahm sich unser an, denn sein Name ist heilig. Und der Bischof verteidigte uns, bis die Horden fortgezogen waren.« Kalonymos ließ das Pergament sinken und atmete tief durch.
Ein betretenes Schweigen lag im Raum. Langsam setzte sich die Nachricht in den Köpfen, und die möglichen Folgen für ihre Gemeinde, die aus den Ereignissen erwuchsen, drängten sich auf.
Mosche ballte die Faust. »Was ist mit denen geschehen, die von ihrem Schmutzwasser besudelt wurden? Müssen die Armen in der Hölle darben?«
»Mich interessiert vor allem, wohin Emichos Heer weitergezogen ist«, warf Schmuel ein.
»Der Brief geht noch weiter, lasst mich bitte zum Ende kommen«, setzte Kalonymos noch einmal an. »Rabbi Mosche bar Jakuthiel, unser Parnas, brachte Rettung. Durch seine Intervention beim Bischof durften all die zum wahren Glauben an den Einen zurückkehren, die gegen ihren Willen getauft worden waren.«
»Des Ewigen Gnade kennt keine Grenzen.« Mosche breitete die Hände aus, als ob er einen himmlischen Segen entgegennehmen würde.
Auf Schmuels Stirn zeigten sich dagegen Schweißperlen. »Ich frage noch einmal. Wohin ist das Heer der Unbeschnittenen gezogen?«
Kalonymos erwiderte: »Das sagt der Brief nicht. Aber der Bote, der ihn brachte, hat ein großes Zeltlager der Feinde Gottes vor Worms gesichtet. Ein wilder Haufen von beiden Seiten des Rheins hätte sich dort versammelt. ›Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen und mit jedem Tag wurden es mehr.‹ Das hat er mir noch gesagt, bevor er weiterzog.«
»Sie sind schon in Worms, nur zwei Tagesmärsche entfernt.« Schmuels Stimme überschlug sich.
»Der Bischof von Speyer, der gute Johann, hat eingegriffen. Das wird auch in Worms geschehen, und das würde auch in Mainz so sein. Bischof Ruthard ist auf unserer Seite«, bemerkte Chaim, unsicher darüber, ob seine Stimme die Festigkeit hatte, die er ihr geben wollte.
»Ich hoffe, du hast recht. Ganz sicher hast du recht.« Kalonymos kratzte sich an seinem mächtigen Hinterkopf. »Aber auch wir sollten unseren Teil beitragen, falls Emichos Heer vor Mainz auftauchen sollte. Wir müssen dem Bischof unsere Unterstützung anbieten. Ich schlage vor, wir fordern unsere Männer auf, sich zur Verteidigung der Stadt bereitzuhalten.«
Schmuel zog den Kopf zwischen die Schultern. »Für die Kampferfahrenen unter uns ist dies sicherlich angemessen.« Er richtete sich auf und fügte hinzu: »Aber Geld werden wir auch benötigen, um den Bischof für uns einzunehmen. Er wird sich gut überlegen, ob er das Leben seiner Männer für uns riskieren wird.«
Chaim schüttelte den Kopf. »Es ist seine Pflicht, uns zu schützen. Er hat dem Kaiser gehorsam zu sein.«
»Sei kein Narr! Uns Juden wurde schon viel versprochen«, ereiferte sich Schmuel. »Und wenn es darauf ankam, wurden die Christen zu geknicktem Rohr. Erinnert euch daran, was vor zwölf Jahren geschah, nach dem großen Feuer. Wir Juden sollten es gelegt haben, wurde von einigen der Bürger behauptet, obwohl die Häuser der Unseren mit den anderen gebrannt haben. Daraufhin mussten viele von uns die Stadt verlassen.«