- -
- 100%
- +
»Was feixt ihr so?«, brüllte Filon. »Hier wird gearbeitet und nicht gelacht! Ich war selbst ein großer Ganove und Bandit, aber hier bin ich zum Menschen geworden … Die Norm müsst ihr erfüllen, die Norm!«
»Eure Normen, Bürger Erzieher, sind nicht zu schaffen.« Der Professor wiegte den Kopf.
»Was heißt – nicht zu schaffen? Natürlich, wenn du unserm Land nicht helfen willst, schaffst du auch die Norm nicht … Ich warne dich, Alter: Erfüllst du die Norm nicht, kommst du ins, sozusagen, Strafteillager. Kubik, Kubik, Kubik ist angesagt!«
Die Rede des Erziehers zog sich hin, und mit ihr auch die Ruhepause. Wir begannen sinnlose Fragen zu stellen, um den erneuten Kontakt mit unserer gemeinsamen Freundin, der Schubkarre, hinauszuzögern. Filon aber besann sich bald und schrie drohend:
»Jetzt reicht’s aber: Wie lange wollt ihr euch noch drücken? He, Alter, hoch mit dir! An die Arbeit!«
Ohne Eile begaben sich die Häftlinge an die Abbaustellen.
Som erhob sich und fing an zu singen:
»Karre, ach Karre, hab keine Angst …
bleib du nur ruhig, ich rühr dich nicht an …«
Er stieß die Schaufel mit Wucht in die blaue Tonerde.
»Knallt es im Sprengloch, knallt’s Ammonal,
zum Teufel, was will ich am Weißmeerkanal?«
Die täglichen zwölf Stunden harter körperlicher Arbeit zehrten an unseren Kräften, Rücken und Arme schmerzten unerträglich, die schwieligen Hände bluteten, die Schubkarren kippten immer wieder um, Hunger quälte uns.
Am Rand der Grube stand, als scharf konturierte Silhouette vor den zerrissenen Wolken, der kleine Mann mit den hässlichen Reithosen, die Hände in den Taschen der Lederjacke, sabberte an einer billigen Papirossa, und kraft eines paradoxen Gesetzes verkörperte dieses winzige Stück Niedertracht, das aus allen der Menschheit eigenen Schändlichkeiten zusammengeknetet war, jene Kraft, die Hunderttausende Menschen zwang, einen zusätzlichen Kubikmeter Erde zu erbeuten in der nebulösen Hoffnung auf »vorzeitige Entlassung« und baldige Rückkehr zu den Lieben, die irgendwo geduldig auf ihren Märtyrer warteten, und die sie zwang, ihre letzten Kräfte zu verausgaben, Blut zu spucken und die schwere Karre weiter, weiter, weiter zu schieben.
Am nächsten Tag weckte uns die eiserne Pufferplatte, die vor der Wache hing, früher als sonst. Es war noch ganz dunkel. Der monotone, kalte Klang erinnerte an Totenglocken.
Die gesamte Insassenschaft des Außenlagers, tausendzweihundert Mann, hatte brigadeweise vor den Zelten und Baracken anzutreten. Etwas lag in der Luft. Vor der Wache drängte sich die Lagerleitung.
Der Leiter des Außenlagers Gorjew konnte sich, sturzbesoffen, kaum auf den Beinen halten; nach dem Gelage vom Vortag war er offenbar noch nicht ausgenüchtert. Zwei kräftige Kerle mit blutig roten Kragenspiegeln an den Uniformmänteln stützten ihn behutsam.
»Ruhe!«, brüllte einer von ihnen. »Der Leiter des Außenlagers will ein paar Worte sagen!«
Gorjew machte eine schlappe Handbewegung, grinste dümmlich und gab mühsam ein »Bürg… brk… bürg… brk« von sich.
Da schnellte der flinke Grischka Filon aus dem Gefolge, sprang auf einen Baumstumpf und brüllte aus vollem Hals:
»Bürger Häftlinge! Heute ham wir einen Sondereinsatz … Is das klar? Heute müssen wir sozusagen, koste es, was es wolle, im Abschnitt fünfundachtzig den Zugang zur Brücke aufschütten und … sozusagen … den Zuch durchlassen. Dieser Auftrag für den heutigen Tach kommt von unserm Leiter aller Arbeits- und Erziehungslager des Ucht-Petschora-Bereiches, dem Genossen Jakow Moros. Ich meine, Genossen … äh … Bürger Häftlinge … die Partei, der Genosse Stalin und der Genosse Moros rufen uns auf, eine große Tat zu vollbringen! Das is was andres, als ein Schloss zu knacken oder einem Madamchen die Tasche zu klaun, sondern wir lassen sozusagen durch Arbeit und Umerziehung einen Zuch durch. Hurrah!«
»Hurrah!«, riefen die Männer mit den himbeerfarbenen Kragenspiegeln.
»Hurra!«, klang scheppernd eine einzelne Stimme aus der Menge der Häftlinge. Ein gebeugter Alter rief das, wankend vor Schwäche. Er wusste offensichtlich nicht mehr, was er tat.
Die in aller Eile errichtete Brücke über den Fluss Lun-Wosch war fertig. Rechts und links von ihr erhoben sich zwei lange, noch nicht vollständig aufgeschüttete Erdkegel.
Über die gesamte Länge der Brücke prangte ein grelles Spruchband: »Arbeit ist in der UdSSR eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! (Stalin).«
Geschäftig teilten die Gruppenführer die Brigaden der Erdarbeiter ein; die Arbeit begann. Der Aushubbereich unserer Brigade befand sich an einem Hang, etwa hundert Meter vom linken Erdkegel entfernt. Ein Teil der Brigade arbeitete in einer großen Höhle am Rand der Abbaustelle.
Grischka Filon rannte umher, trieb uns mit schäumendem Mund an:
»Legt einen Zahn zu, Bürger! Der Genosse Moros kommt persönlich zur Brückeneinweihung … Es heißt, sie verkürzen allen die Haftstrafen … entlassen uns vorzeitig … Ein Orchester kommt auch noch.«
»Kukuschka«, die kleine Werksbahn, durchdrang die Taiga mit schrillen Pfiffen und brachte Schwellen und Gleise heran. Meter um Meter wurde die Strecke verlegt.
Verbissen schaufelte Professor Suschkow Sand auf die Karre, hob sie mit seinen schwachen Armen an, schob sie, hin und her schwankend, den glitschigen Pfad hinauf zur Aufschüttung. Ich sah, dass er am Ende seiner Kraft war.
»Lassen Sie das, arbeiten Sie langsam«, riet ich ihm.
»Aber wer weiß, vielleicht lassen sie uns ja wirklich früher raus«, entgegnete er, stoßweise atmend.
Bald darauf kam eine Blaskapelle. Die Musiker nahmen eilig auf einer Grasfläche unter Kiefern Platz und spielten einen schnellen Foxtrott:
»Mein süßes Mägdelein,
das ist so hübsch und fein …«
Ein Häftling rollte mitsamt seiner Schubkarre von der Aufschüttung und brach sich den Hals.
Professor Suschkow belud seine Karre, wollte sie anheben, ächzte und sackte plötzlich, sich den Bauch haltend, auf den Boden. Ich lief zu ihm, um ihm aufzuhelfen.
»Nicht!«, stöhnte er. »Das tut weh!«
Ein Feldscher kam, untersuchte den Professor und meinte gleichgültig zu den Sanitätern:
»Ein Bruch. Bringt ihn zum Lager.«
Die Menschen aber keuchten hintereinander die schmalen Steige hinauf, rollten hinab, stiegen wieder hinauf, griffen wieder zu Schaufel und Karre.
Dann kam Genosse Moros. Dick, mit einer guten Papirossa im Mund, ging er von Grube zu Grube, stieß die Spitze seines glänzenden Chromlederstiefels gegen das Erdreich und sagte zu den Häftlingen:
»Nun, wie ist der Boden?«
oder:
»Ziemlich klein, deine Karre, Freundchen.«
oder:
»Denkt dran, nur durch ehrliche, selbstlose Arbeit könnt ihr euch von den Schandflecken des Verbrechens reinwaschen.«
In solchen Momenten ähnelte er Grischka Filon in erstaunlicher Weise; sogar sein Mund schien sich, wie bei Grischka, mit Speichel zu füllen.
Nach der kurzen Mittagspause weigerten sich an die hundert Mann aufzustehen. Die Wachsoldaten schrien umher, schossen in die Luft, aber vergeblich. Sie zwangen eine Gruppe von etwa zwanzig Mann irgendwie auf die Beine und trieben sie zum Karzer des Außenlagers. Ich konnte sehen, wie sie, den Blicken der Obrigkeit kaum entschwunden, ihren Fäusten und Gewehrkolben freien Lauf ließen.
»Mein süßes Mägdelein,
das ist so hübsch und fein …«
Som kam für einen Augenblick aus der Höhle, zwinkerte mir zu, zeigte auf die Menschen, die da verprügelt wurden, und meinte fröhlich:
»Umerziehung!«
Die Aufschüttung wuchs sichtlich an. Das Orchester spielte ohne Unterbrechung. Mit eingefallenen Augen blickten die Häftlinge wütend zu den Musikern und schimpften:
»Hoffentlich hören die Hunde bald auf zu spielen! Ist doch auch so schon kaum zu ertragen!«
Mit schrecklichem Getöse stürzte die Höhle ein und begrub acht Mann, darunter auch Som. Ich schaffte es gerade noch, einem riesigen Erdklumpen zu entkommen, der auf mich zurollte.
»Mein süßes Mägdelein,
das ist so hübsch und fein …«
Genosse Moros gestattete, eine halbe Brigade für die Bergung der Leichen abzustellen.
Von der Brücke aber schrie in roten Lettern laut das Spruchband: »Arbeit ist in der UdSSR eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! (Stalin).«
Der Zug überquerte die Brücke erst am Abend.
***
Drei Tage wälzte ich mich krank auf meiner Pritsche.
Grischka Filon kam und brachte mir einen Brief von meinem Vater aus Moskau. Er drehte den Umschlag lange in den Händen, zog den Brief dann heraus, gab ihn mir und steckte den Umschlag in seine Jackentasche.
»Gib mir den Umschlag auch«, bat ich.
»Geht nicht. Irgendwie suspekt, muss ich prüfen …« Er ging weg.
Bald darauf wurde Grischka Filon aufgrund »vorbildlicher Arbeit« vorzeitig entlassen. Er war, glaube ich, der Einzige, der für den Bau der Lun-Wosch-Brücke eine solche Auszeichnung erhielt.
Ein halbes Jahr später. Der Skorbut hatte mir die Beine gekrümmt, ich kam knapp aus der Baracke hinaus. Schon lange hatte ich keine Nachricht von Zuhause mehr erhalten, und als mir der neue Erzieher – Woizechowski, vordem ein großer Hochstapler – einen zweiten Brief aushändigte, weinte ich fast vor Freude. In dem Brief schrieb mein Vater unter anderem:
»Gestern war ein Freudentag: Wir hatten Besuch von Deinem früheren Erzieher Semjon Michailowitsch Ogurzow. Wir haben Tee getrunken, und er hat uns viel von Dir erzählt. Dann sagte er, dass er morgen wieder ins Lager fährt, als Vertragsbeschäftigter. Wir baten ihn, ob er nicht so liebenswürdig sein und etwas für Dich mitnehmen könne. Er war gern bereit und meinte, dass Du etwas Anständiges zum Anziehen brauchst. (Warum hast Du uns das nicht geschrieben?) Wir haben ihm zwei große Koffer für Dich mitgegeben, mit Kleidung und Lebensmitteln. Hast Du sie erhalten?«
Ich begriff sofort, wozu Grischka Filon den Briefumschlag an sich genommen hatte.
Die Koffer hatte ich natürlich nicht bekommen, und würde sie auch nie erhalten. Es ging auch gar nicht um die Koffer. Schließlich war Semjon Michailowitsch Ogurzow einmal der Erzieher Grischka Filon gewesen und wusste ganz genau, was Häftlinge eines sowjetischen Konzentrationslagers brauchen. Vor allem brauchen sie Umerziehung – alles andere ist zweitrangig.
Dafür war Grischka Filon auch Erzieher, um das zu wissen!
AUF TRANSPORT
Der tiefe Frachtraum eines Lastschiffs. Man hört das Plätschern der Wellen gegen die Bordwand. Im Frachtraum befinden sich dreitausend Menschen. Hier und da brennt eine Petroleumlampe der Marke »Fledermaus« und wirft ihr schwaches Licht auf die kreuz und quer liegenden schlafenden Häftlinge. Es ist stickig, dämmerig, der Gestank nimmt einem die Luft. Neben mir sitzt Vater Sergij auf einer ausgebreiteten Joppe und murmelt halblaut vor sich hin. Er murmelt schon lange, leise und ruhig, in der immer selben Stimmlage. Wir befinden uns auf einem Gefangenentransport per Schiff nach Ust-Vym.
Im Bereich nebenan, hinter den Balken, die das Deck stützen, spielen die Kriminellen Karten. Sie ereifern sich, schreien und fluchen unflätig. Einen von ihnen kann ich sehr gut sehen. Er sitzt, mit dem Gesicht zu mir, mit bloßem Oberkörper da, beugt sich über die Kiste, die als Tisch dient und auf der eine Kerze flackernd ihr schwaches Licht verbreitet. Auf dem linken Auge ist er blind, das Gesicht ist voller großer Pickel. Offenbar hat er kein Glück im Spiel, er regt sich auf und schiebt die schmierigen Karten nervös hin und her.
»Schuss – Einwender … Schuss – Einwender …«
»Schuss!«, ruft sein Spielpartner, der mit dem Rücken zu mir sitzt, leise. Ich kann nur seine breiten Schultern und sein krauses Haar sehen.
Der Einäugige springt auf und zieht hastig, unter dem brüllenden Gelächter der beim Spiel zuschauenden Kriminellen, seine Hose aus.
»Zwanzig Rubel! Okay?«, fragt der Einäugige seinen Mitspieler und reicht ihm die Hose.
»Okay.«
»He, Senjka, gib auf!«, empfiehlt ein älterer Gauner dem Einauge. »Du verlierst sowieso!«
Aber der einäugige Senjka hört nicht auf ihn. Er zieht seine rutschende Unterhose hoch, setzt sich wieder, und das Spiel geht weiter. Aber nicht lange. Fünf, sechs Minuten später erneut brüllendes Gelächter – die Hose scheint verloren.
»Die kriegt Senjka nicht wieder«, meint einer fröhlich.
»Wart’s ab«, kontert der einäugige Ganove mürrisch und blickt sich nach allen Seiten um.
»Ich setze ein neues Tschackett.«
»Zeig her!«
»Na das da!«, erwidert Senjka und weist mit der Hand in den Bereich gegenüber.
Ich recke mich und blicke in die Richtung, in die Senjkas Hand weist, kann aber kein Jackett sehen. In dem Abschnitt liegen dicht an dicht schlafende Häftlinge; es ist dunkel dort, nur neben einem der Balken brennt ein Kerzenstummel; dort sitzt ein alter Mann mit weißem Bart und trinkt heißes Wasser aus einer Blechtasse. Das Gesicht des Alten kommt mir erstaunlich bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, wo ich ihm begegnet sein könnte.
»Schuss – Einwender … Schuss – Einwender …«
»Los, Senjka, her mit dem Jackett!«
»Gleich gibt’s was zum Lachen!«
Senjka erhebt sich und steigt über die Schlafenden hinweg zu dem Alten. Ich spüre, dass da etwas Ungutes läuft, und spitze Ohren und Augen. Auch Vater Sergij hört auf zu murmeln.
»Was möchten Sie?«, fragt der Alte und hebt verwundert den Blick auf Senjka.
»Zieh dein Tschackett aus, Alterchen«, sagt Senjka und beugt sich zu dem alten Mann runter.
»Wieso das?«
»Was heißt hier wieso?«, wundert sich Senjka seinerseits. »Ich hab’s beim Kartenspiel verloren.«
»Ich bitte Sie! Dies ist mein Jackett!«
Die Schlafenden ringsum werden wach, heben die Köpfe, lauschen.
»Zieh’s aus, sag ich dir, Alter!«
»Na hören Sie mal … Das geht so nicht!«
»Los, du Scheusal! … Kontra dreckiger!«
Senjka holt aus und schlägt dem Alten mit vollem Schwung ins Gesicht, stößt ihn auf den nassen Holzrost und fängt an, ihm das Jackett vom Leib zu reißen. Alle sehen zu und schweigen; keiner will sich in die Sache einmischen.
»Nein … aber nein, das geht doch nicht, man kann doch nicht …«, sagt Vater Sergij und packt mich an der Schulter.
»Hilft mir denn keiner?«, schreit der Alte.
Wie auf Kommando springen etwa zwanzig Politische auf.
»Los, Kameraden! Das lassen wir nicht zu! Auf die Gauner!«
Wir stürzen zum Ort des Geschehens. Auch die Kriminellen springen auf. Matt blitzen in einigen Händen die Klingen. Gleich würde ein blutiges Handgemenge beginnen – doch die Kriminellen sind ein feiges Volk.
Als sie sahen, dass die Politischen in der Überzahl waren, räumten sie das Feld, ließen die Messer verschwinden und verzogen sich auf ihre Plätze. Der einäugige Senjka ließ von dem Alten ab, schwenkte eine Rasierklinge und trollte sich in seinen Bereich.
Der alte Mann lag schwer atmend auf dem Rücken und hielt die Augen geschlossen. Aus einer Wunde unterhalb seines Auges floss Blut: Senjka hatte ihm auf der Wange doch noch einen Schnitt versetzt. Ich half ihm, sich zu setzen, lehnte ihn gegen den Balken; jemand brachte Wasser. Die Wunde war nicht sehr tief, die Blutung konnte schnell gestoppt werden, und der Alte kam langsam wieder zu sich.
»Sie?!«, rief er verblüfft und blickte mich genau an. »Erkennen Sie mich denn nicht? Na ja, kann sein, ich hab ja jetzt einen Bart … Sacharow. Entsinnen Sie sich?«
***
Ich entsann mich sofort. Es war im Herbst gewesen, in Moskau, in der Butyrka. Die Untersuchung meines Falls war abgeschlossen und ich wurde aus der Untersuchungszelle in eine Gemeinschaftszelle verlegt. In der Zelle waren hundertsieben Menschen, obwohl sie für fünfundzwanzig ausgelegt war. Wir schliefen auf Doppelstockpritschen oder darunter oder auf speziellen »Nachttafeln« zwischen den Pritschen.
Am selben Tag brachte man gemeinsam mit mir, genauer gesagt ein paar Minuten nach mir, drei weitere Männer in die Zelle. Und so waren wir hundertelf Mann. Uns, die letzten vier, wies der Zellen-Starosta die Schlafplätze unter den Pritschen neben der Tür zu; es gab eine Art Warteliste für die Pritschenplätze.
Ich freundete mich bald mit meinen neuen Bekannten an. Sie erwiesen sich als sehr interessante Menschen, vor allem zwei von ihnen: Oberst Duruntscha und Wesselowski. Beide waren frühere russische Emigranten aus Harbin. Nach dem Verkauf der Ostchinesischen Eisenbahn durch die Sowjetunion gingen sie jedoch gemeinsam mit zahlreichen »Rückkehrern« wieder nach Russland – zu ihrem Unglück, wie sich später herausstellte. In der ersten Zeit schien alles sehr gut zu laufen. Sie ließen sich an unterschiedlichen Orten nieder. Der Oberst der zaristischen Armee Duruntscha erhielt eine sehr anständige Arbeit in Woronesch: als Direktor eines großen Kinos. Dort in Woronesch fand auch sein Freund Wesselowski seinen sicheren Hafen (wo genau, weiß ich nicht mehr). Sie machten neue Bekanntschaften. Wesselowski freundete sich mit dem Mathematiklehrer Nikolai Nikolajewitsch Sacharow an, und zu dritt begannen sie, sich die langen Winterabende beim Préférence-Spiel zu verkürzen.
Dann aber kam das Jahr 1936. Die erste Verhaftungswelle überrollte das Land im Frühjahr und ergriff neben vielen anderen alle »Harbiner«, darunter natürlich auch Duruntscha und Wesselowski. Ihnen folgte als »guter Bekannter« auch Lehrer Sacharow. Duruntscha und Wesselowski wurde § 58 Punkt 1 (Vaterlandsverrat), Punkt 4 (Verbindung zur Weltbourgeoisie), Punkt 10 (antisowjetische Agitation), und Punkt 11 (konterrevolutionäre Organisation) zur Last gelegt, Sacharow Punkte 10 und 11.
Die Untersuchung dauerte sieben Monate. Wesselowski und Sacharow ertrugen die qualvollen Verhöre nicht und unterschrieben alles, was der Untersuchungsrichter ihnen vorlegte. Duruntscha unterschrieb nur einen Teil, trotz der schrecklichen Folterungen und Misshandlungen. In der Gemeinschaftszelle trafen sie sich alle drei erstmals wieder. Bis dahin hatten sie in Einzelhaft gesessen.
Wir freundeten uns an. Ich erzählte ihnen von mir, sie mir von sich; oft berichteten sie von ihrer Zeit als Emigranten in Harbin und sprachen davon in den wärmsten Tönen. Sie berichteten auch über ihre »Strafsache«. Im Grunde genommen existierte gar keine Strafsache, wie bei uns allen. Ihr ganzes Vergehen beschränkte sich darauf, dass sie Emigranten gewesen waren. Und bei Wesselowski außerdem darauf, dass er irgendwo in Singapur oder Saigon einen Sohn hatte, der nicht in die UdSSR zurückkehren wollte. Diesen Sohn wollte der NKWD Wesselowski ganz und gar nicht verzeihen.
Der von Wuchs kleine, füllige, schon leicht ergraute Oberst Duruntscha war ein aufgeschlossener und gesprächiger Mensch, Wesselowski eher willensschwach. Er ertrug seine Haft nur schwer, dachte oft an seinen Sohn, und zweimal hörte ich ihn nachts weinen. Der gutmütige Sacharow ertrug alle Unbilden stoisch und ergeben.
Bald wurden wir wieder getrennt. Man verurteilte mich. Ich erhielt die mir vom Schicksal zugedachten fünf Jahre Freiheitsentzug und wurde direkt vom Gerichtsaal des Moskauer Stadtgerichts zum Durchgangsgefängnis gebracht. Dieses befand sich auf dem Innenhof der Butyrka, in der früheren Häftlingskirche.
Ich sah meine Harbiner Freunde nicht wieder, doch ihr Schicksal interessierte mich natürlich. Ich hatte mich oft bei »durchlaufenden« Häftlingen erkundigt, doch nie konnte mir einer etwas über sie sagen.
***
»Nikolai Nikolajewitsch! Mein Gott! Nicht zu fassen! Ich werde diesen Halunken zermalmen!«
»Gar nichts werden Sie! Lassen Sie es gut sein!«, winkte Sacharow ab und drückte sein blutiges Handtuch gegen die Wange.
»Tiere sind das, keine Menschen!« sagte ein intelligent aussehender Häftling. »Man sollte es der Wache melden!«
»Untersteh dich, du Aas!«, schrie der Partner des einäugigen Senjka. »Wir schlachten dich ab wie eine Kuh, du kommst im Lager nicht mehr an!«
»Das wollen wir doch mal sehen!«
»Hört auf … Was legt ihr euch mit ihm an!«, bat Sacharow leise.
Vater Sergij trat zu uns. Ich machte ihn mit Sacharow bekannte.
»Kommen Sie mit in unseren Bereich«, schlug Vater Sergij vor. »Bei uns ist es ruhig, die Leute sind alle in Ordnung.«
»Ja, mir ist es gleich … Aber vielleicht ist es wirklich besser so.«
Ich nahm Sacharows kleines Bündel und wir gingen hinüber zu uns. Die vom Lärm aufgewachten Häftlinge legten sich wieder schlafen. Die Gauner blickten uns böse nach und tuschelten.
»Was für ein niederträchtiges Volk«, schüttelte Sacharow deprimiert den Kopf. »Wie kommt solch ein Abschaum nur auf unsere russische Erde? Lesen Sie doch nur mal die ›Aufzeichnungen aus dem Totenhaus‹ oder andere Gefängniserinnerungen aus der Zeit vor der Revolution, solche Niedertracht findet man da nicht … Wie viel haben Sie gekriegt? Wie viele Jahre?«, fragte er plötzlich.
»Fünf. Und Sie?«
»Zehn …«
Mir fielen seine »Mittäter« wieder ein.
»Und wo sind Duruntscha und Wesselowski? Nicht hier auf dem Boot?«
»Nein … Nicht hier.«
»Hat man sie auf einen anderen Transport geschickt? Wie viel haben die beiden bekommen?«
»Die haben keinen Transport erwischt. Die hat es anders erwischt«, entgegnete Sacharow finster. »Man hat sie erschossen.«
Vater Sergij bekreuzigte sich. Der Kerzenstummel zischte kurz und erlosch. Es wurde völlig dunkel. Die Kriminellen hörten auf zu tuscheln und stimmten leise ein Gaunerlied an:
»Von weit her, aus Kolyma, Kolyma,
geht an dich, meine Liebste, ein Gruß …«
Das Wasser schlägt gegen die Bordwand, als wolle es uns in den Schlaf wiegen. Es ist feucht und finster, und es stinkt. Schweres, vielstimmiges Schnarchen … Im Herzen aber Trauer und Kälte.
EINE NACHT
Ich stehe vor einer kleinen Blockbaracke – dem Leichenhaus.
Es ist Herbst. Über mir hetzen zerzauste Wolken trübsinnig entlang und mir wird ganz beklommen zumute. Wie weiße Kerzen stehen kleine Birken da und lauschen der traurigen Totenmesse – dem leisen Rauschen der Taiga. In der Dämmerung schweben die letzten vereinzelten Blätter herab; trocken, gelb, fallen sie ohne Eile auf die feuchte Erde.
Das Leichenhaus befindet sich ganz am Ende des riesigen Außenlagers, direkt neben dem Stacheldrahtzaun. Jeden Tag werden mehrere Leichen gebracht. Das aus dem Erdreich ausgehobene Leichenhaus erinnert an ein riesiges Massengrab. Die Leichen liegen Seite an Seite auf langen Holzrosten und warten teilnahmslos auf den Tag, an dem man sie auf ein klappriges Fuhrwerk wirft und das magere Pferdchen Sinotschka mit ihnen den Taigaweg entlang zum Fluss zuckelt, zur Sosnowaja Gorka, dem Kiefernhügel.
In eine zerschlissene Jacke gehüllt, werfe ich hin und wieder einen Blick auf die niedrige Tür des Leichenhauses und rauche Machorka. Hinter jener morschen Tür liegen Menschen, die ich noch vor ein paar Tagen lebend gesehen habe, wir haben miteinander geredet und von der Zukunft geträumt …
Rechts, vom Eingang aus gesehen als Dritter, liegt, völlig entkleidet, Maxim Sorokin, Student, mein alter Gefängniskumpel, ein flinker, lebenslustiger, kluger Bursche. Er ist am Skorbut verreckt. Direkt unter ihm, zusammengekrümmt, der alte Potapytsch, dessen Platz als Wächter des Leichenhauses ich heute eingenommen habe. Der Alte ist letzte Nacht auf den lehmigen Stufen vor der Tür zum Leichenhaus gestorben. Schwach war er, hat sich schon das neunte Jahr durch Gefängnisse und Lager geschleppt, jetzt hat sein Herz nicht mehr mitgemacht.
Es ist kalt. Fröstelnd setzte ich mich schlurfend in meinen alten Cordschuhen in Bewegung. Hunger quält mich. Ach, was gäbe ich für ein ordentliches Stück Brot! Schön mit Salz bestreut!
»Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir
knarrend mein zwölftes Stündlein an …«
Auch ich bin an der Grenze zur völligen Erschöpfung. Meine Augen sind eingefallen, die Arme hängen kraftlos herab. Schon seit Tagen war ich nicht mehr imstande, die Karre zu schieben, und sosehr die Zehnerführer und Vorarbeiter auch auf mich einschrien – ich konnte nur noch auf der Erde liegen, in den kalten Himmel starren und vom baldigen Ende träumen, mich innerlich von meinen Lieben verabschiedend, die ich fern von hier zurücklassen musste.