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Aber, wie das Leben manchmal so spielt – in letzter Minute kam die Rettung. Unverhofft starb der alte Potapytsch, und sein Posten, von dem so einige Hundert Häftlinge träumen, wurde frei. Gottes Finger wies auf mich, und ein mitfühlender Vorarbeiter sorgte dafür, dass ich den Posten des Wächters bekam. Eine bessere Arbeit gibt es für einen Häftling nicht. Ich erhielt achthundert Gramm Brot täglich und wurde vor dem Schlimmsten bewahrt: der zermürbenden Arbeit mit der Schubkarre. Auch wenn für einen völlig ausgezehrten »Dochodjaga« wie mich achthundert Gramm Brot weiß Gott nicht viel sind. So eine Portion vertilgt man auf einen Schlag.
Die Taiga singt ihr seltsames Totenlied, die Nacht umgibt sie mit einem schwarzen Leichentuch, und eine nach der anderen erlöschen in der Dämmerung die weißen Birkenkerzen.
»Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir
knarrend mein zwölftes Stündlein an …«,
wiederhole ich für mich die immer selben Zeilen, während ich mich enger in meine löchrige Jacke wickle. Vor mir liegt eine lange Herbstnacht in Nachbarschaft zu den erstarrten Toten.
Ich höre im Lager, in einer der Baracken, die Gauner im Chor singen:
»Ach, einsam sitz ich in der Ze-elle,
schau aus dem Fenster meines Kna-asts …«
Ich kenne das Lied gut und fand es schon immer erschütternd, wie wenig Text und Melodie miteinander harmonieren. Der Text ist traurig, bedrückend, voller Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht, die Melodie aber fröhlich.
»Und heimlich fließen mir die Trä-änen
über die Wangen dü-ürr und bla-ass …«,
fliegt das Lied herüber, von fröhlichen Pfiffen begleitet.
Ich bleibe stehen und lausche. In das Lied stimmen hell klingende Frauenstimmen ein, offenbar hat die benachbarte Frauenbaracke es aufgegriffen.
»Die Wächter rufen mich noch a-an,
sie rufen einmal und noch ma-al,
dann drücken langsam sie den Abzu-ug,
und dann bin tot ich immerda-ar …«
Ein interessantes Volk, diese Gauner. Sie sind die Einzigen unter den Häftlingen, die im Lager ungefähr dieselbe Lebensweise beibehalten wie in der Freiheit. Sie versuchen sich möglichst gut zu kleiden, spielen Karten, klauen, trinken Kölnischwasser und denaturierten Sprit, lieben, sind eifersüchtig, streiten sich um die Frauen … Sie wissen genau, dass sie für Liebschaften in den Karzer kommen, und in was für einen! Einen Karzer, aus dem man kaum lebend herauskommt. Aber das hält sie nicht auf. Ich kann nicht recht begreifen, wie das zu werten ist: gut oder schlecht? Ist es »Liebe stärker als der Tod« oder ist es die Verzweiflung der Todgeweihten?
Das Lied verstummte, und es wurde völlig still – Friedhofsruhe. Hinter dem Stacheldraht ging trägen Schritts ein Wachposten vorbei und hustete leise. Ich hob ein paar trockene Zweige auf, packte sie auf den Erdboden und legte mich hin, um ein Nickerchen zu machen.
»Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir
knarrend mein zwölftes Stündlein an …«
Ich richtete mich auf und blieb sitzen. Tatsächlich, wer sagte denn, dass ich morgen nicht denselben Weg gehen würde, den Maxim Sorokin und Potapytsch gegangen waren? Man würde mich nackt ausziehen, meine Kleidung einem noch lebenden Häftling geben und mich neben die anderen Toten auf eines der glitschigen Gestelle legen.
Irgendwo in der Taiga rief eine Eule. Ich begann mir eine Zigarette zu drehen, doch ehe ich fertig war, vernahm ich an der Wand des Leichenhauses vorsichtige Schritte.
Ich hielt den Atem an und lauschte angespannt.
Ein paar Sekunden lang war es still, dann knackten wieder Zweige unter jemandes Schritten. Instinktiv ergriff ich meinen dicken Knüppel. Aus der Finsternis tauchten zwei diffuse Gestalten auf.
»Potapytsch!«, rief eine Männerstimme leise.
Ich erhob mich zu voller Größe.
Die Gestalten kamen schnell auf mich zu. Es waren ein Mann und eine Frau.
»Hier ist kein Potapytsch …«, erwiderte ich.
»Pst, leise!«, bat der Mann. »Wo ist er denn?«
»Gestorben, gestern.«
»Gestorben?«, fragte er verwundert. »Hörst du, Marussjka?«
»Schade um ihn … war ein guter Mensch, der Alte«, sagte die Frau gähnend.
Jetzt konnte ich sie genau sehen. Er – ein junger Bursche in weiter Hose, die er, wie bei den Dieben üblich, in die kurzen Stiefel gesteckt hatte. Sie – ein spitznasiges Mädchen in einer lagereigenen gesteppten Wattejacke. Unterm Arm trug sie etwas Großes, in Papier Gewickeltes. Ihn kannte ich flüchtig aus dem Lager. Ein Bahndieb, wegen seines hübschen Gesichts trug er den Spitznamen Petjka Krasjuk.
»Und – haben sie Potapytsch da reingelegt?« Marussja wies auf die Leichenkammer.
»Ja … Er liegt auch da.«
Jemand kam aus einer der Baracken, schlug die Tür hinter sich zu und ging laut fluchend weg. Meine Besucher duckten sich.
»Der Kommandant, der Lump, schnüffelt überall rum. Kaum zu glauben, sogar in Baracke drei.«
In dem Lichtstreifen zwischen den Baracken war die schwarze Silhouette eines Menschen vage zu erkennen. Als sie hinter der Ecke verschwunden war, erhob sich Petjka Krasjuk, schob seine Mütze nach hinten, kam ganz nahe an mich heran und flüsterte:
»Hör mal, du, äh, wie heißt du noch mal, jetzt bist du doch hier, für Potapytsch? Als Wächter?«
»Genau, als Wächter.«
»Dann hilf du uns … Die Sache ist die … Die Kommandanten fischen, nirgendwo kann man mal mit nem Weib hin … verstehst du … das ist so … in’n Karzer wegen so ’ner Gans hab ich keinen Bock … Und in der Baracke erwischen sie einen hundertpro. Also, du, äh, lass uns hier rein zu dir, verstehst du … Mit Potapytsch lief das wie geschmiert, und der hatte da auch sein Gutes von … Marussja, gib mal her.« Er nahm das Päckchen und schob es mir in die Hand. »Hier hast du ein Schwarzbrot, zwei Kilo … ja was glotzt du so? Verlier bloß nicht die Fassung …!«
Ich hatte begriffen, was sie von mir wollten, und konnte vor Verblüffung kein Wort herausbringen.
»Alles klar?«, fragte Petjka Krasjuk. »Abgemacht? Komm, Marussja.«
»Halt, stopp«, hielt ich sie zurück, »das kann ich nicht … gestatten.«
Drohend kam er mir näher und zückte das Messer, das er in der Tasche trug. Die Klinge blitzte schwach auf.
»Du willst nicht? Sei kein Dummkopf. Hier werde ich mich mit dir vielleicht nicht anlegen, aber morgen in der Baracke stech ich dich ab wie das letzte Stück Vieh. Klaro? Komm, Marussja!«
Leichtfüßig liefen sie die Lehmstufen hinab, öffneten die Tür und verschwanden im Leichenhaus.
Verwirrt stand ich da und hielt das Schwarzbrot; es brannte mir in der Hand.
Aus dem Leichenhaus erklangen das Kichern der Frau und Petjkas unterdrücktes Flüstern:
»Warte, ich zieh ihn an den Beinen weg, dann ist mehr Platz; hat sich breit gemacht, was!«
Ich setzte mich auf meinen Reisighaufen und schleuderte zum ersten Mal im Leben ein Brot auf die Erde.
Der Mond tauchte auf und erfüllte die Taiga mit schwachem, milchig-blauem Licht. Die Birken begannen wieder zu leuchten, als sei ein weiterer Toter hinzugekommen. Durchdringend wie ein Klageweib rief die Eule. Ein leichter Wind raschelte über das trockene Gras hinweg und trug die braunen Blätter mit sich; die hundertjährigen Fichten schwangen ihre zotteligen Zweige wie schwere Weihrauchwedel.
Die Geheimnisse von Leben und Tod verbanden sich zu einem dämonischen, disharmonischen Akkord.
ODYSSEE EINES ARRESTANTEN
Ich liege im Lazarett des Außenlagers Rom-Ju. Vor einer Stunde hat mir ein kleiner, fröhlicher Feldscher freimütig erklärt, dass meine Tage wohl gezählt seien und ich es nicht mehr lange machen würde. Ich merke auch selbst, dass es schlecht um mich steht. Außenlager 3 hat mir den Rest gegeben.
Die kleine Nachtlampe brennt und beleuchtet die hölzernen Pritschen mit ihrem trüben Licht.
Es ist ein Uhr nachts. Hinter der Zeltwand rauscht leise die Taiga und singt uns allen die Totenmesse.
Vielleicht bringen sie mich morgen schon auf den Friedhof von Rom-Ju. Mein kurzes Leben – unsinnig und unnütz. Sterben mit zweiundzwanzig!
Mit schrecklicher Klarheit denke ich an den Beginn meiner Häftlingskarriere zurück.
Ljubjanka 2
Mein Herz schlug heftig, als ich in Begleitung zweier NKWD-Leute vor dem Eingang der Ljubjanka 2 aus dem Auto stieg. Gleich würde ich an zwei statuengleichen Wachposten vorbei durch die Tür gehen, in jenes berüchtigte Gebäude, über das in jeder Moskauer Familie im Flüsterton alles Mögliche erzählt wurde.
Es war April, ein klarer, warmer Aprilmorgen. Langsam begann es hell zu werden. Die Durchsuchung hatte die ganze Nacht gedauert, und die Gesichter der beiden Beamten erschienen morgendlich unangenehm-bleich. Hier und da waren die ersten Passanten zu sehen. Zwei von ihnen, die gerade am Eingang vorbeigegangen waren, blieben für einen kurzen Moment stehen, als sie unser herankommendes Auto bemerkten, warfen einen erschrockenen, teilnahmsvollen Blick auf mich und eilten sogleich weiter: Es war nicht ratsam, sich lange vor Gebäuden wie der Ljubjanka 2 aufzuhalten.
Ljubjanka 2 war das ehemalige Gebäude der Versicherungsgesellschaft »Rossija«, das die Bolschewiki in ein ausgeklügeltes Gefängnis verwandelt hatten. Es steht mitten im Herzen Moskaus, direkt im Zentrum gegenüber der früheren Mauer von Kitai-Gorod. Den vergleichsweise angenehmen Empirestil, in dem das Haus erbaut worden war, hatte man durch die drei oberen Etagen sozialistischer Geschmacklosigkeit verhunzt, die, wenn ich nicht irre, schon unter Jagoda aufgestockt wurden. Ihm waren die Mauern der Besitztümer seines Vorgängers Menschinski wohl zu eng.
Dieser »staatliche Horror« also erwartete mich.
Eine schwere, bluttriefende Atmosphäre umgibt dieses Golgota. Nur aus den Augenwinkeln schauen die Menschen in seine Richtung, wagen es kaum, den verschüchterten Blick zu heben. Begegnet ihnen auf dem Platz einer der weit ausholend, frech voranschreitenden Tschekisten mit blutroten Kragenspiegeln und einer dicken Aktentasche voller »Rechtsfälle«, fragen sie sich: Vielleicht ist er es? Mein künftiger Peiniger, oder der meines Vaters, meines Bruders, meiner Mutter? Vielleicht ist er es, der den Abzug des Revolvers drücken und mit einem Genickschuss das Leben eines hilflos zur Mauer gewandten Menschen, eines meiner Lieben oder irgendwann einmal auch mein eigenes beenden wird?
Wir gehen durch die Vorhalle, durch immer neue Türen, steigen fünf, sechs Stufen hinab und betreten einen großen Raum ohne Fenster. Grelle, große matte Lampen. Hinter einer niedrigen, bis zur Gürtellinie reichenden Absperrung Tische voller Papiere und Akten. Unzählige Papiere und Akten auch in den Wandregalen, die fast bis zur Decke reichen. Uniformierte Tschekisten rascheln mit Papieren, blättern und suchen. Mit ausgebreiteten Armen steht ein wenig abseits der Absperrung ein völlig nackter Mann mit Hornbrille und bebender Unterlippe. Ich werde zu ihm geführt, man befiehlt mir, mich nicht zu rühren, und ich kann auf seinem Körper die für nervösen Schüttelfrost typische Gänsehaut sehen.
Ein Rotarmist, oder Popka, wie man in den Gefängnissen der gesamten Sowjetunion jene kleinen Henker nennt, die die Häftlinge durchsuchen, bewachen, eskortieren – tastet den Nackten unter den Achselhöhlen ab und fährt mit der Hand in seine Leistengegend.
»Haben Sie spitze Gegenstände bei sich?«
»Wie kann ein nackter Mann spitze Gegenstände bei sich haben?«, fragt die »Hornbrille« gereizt.
Man befiehlt mir, mich ebenfalls zu entkleiden. Die schwitzenden Hände fahren über meinen Körper auf der Suche nach spitzen Gegenständen, und auch ich bekomme, wie mein Leidensgenosse, eine Gänsehaut.
Dies ist die sogenannte Leibesvisitation.
Es gibt zwei Sorten von Bewachern. Die einen sind Rotarmisten, die ihren aktiven Wehrdienst in den Truppen des NKWD ableisten, Menschen, bei denen man spürt, dass sie diese Dinge notgedrungen tun und von denen man oft einen mitfühlenden Blick erhascht.
Die andere Sorte sind die Popkas – »kleine Ärsche« aus Berufung, gewissermaßen aus »Liebe zur Kunst«. Stumpfe, äußerst beschränkte Menschen ohne Beruf, denen die Arbeit in Gefängnissen und Lagern nicht nur einen guten Verdienst, sondern auch ein gewisses Vergnügen beschert. Zu dieser Sorte von Bütteln gehören wahrscheinlich auch die Ermittler. Zu dieser Kategorie gehörte auch der Popka, der mich untersuchte. Er führte die Leibesvisitation ausnehmend gründlich durch. Nicht eine Stelle meines Körpers blieb unabgetastet.
Die NKWD-Agenten, die mich verhaftet und hergebracht hatten, gingen fort, zufrieden, mich los zu sein. Der Popka warf mir meine Kleidung wieder zu, nicht ohne vorsorglich die Hosenschnallen und, warum auch immer, einige Knöpfe abgeschnitten und die Taschen entleert zu haben. Auch meinen Gürtel bekam ich nicht wieder. All diese Dinge werden den Menschen aus einem einzigen Grund weggenommen: um sie der Möglichkeit zu berauben, sich in der Zelle das Leben zu nehmen. Doch sind diese Mühen vergeblich: Wer wirklich vorhat, das verfluchte Leben zu beenden, nimmt einfach Anlauf und stößt mit voller Wucht und gesenktem Kopf gegen die Steinmauer des Gefängnishofs oder der Zelle. Ich wurde in einen angrenzenden Einzelraum geführt und an einen Tisch gesetzt. Man händigte mir einen Häftlingsfragebogen aus, wo ich außer den üblichen Fragen nach Namen, Geburtsjahr und so weiter alle meine Verwandten bis zur zehnten Generation beschreiben sollte. Die Frage nach meiner Zugehörigkeit zur Weißen Armee war für mich nicht zutreffend, da ich das Pech hatte, dass ich erst mit der Machtübernahe der Bolschewiki geboren wurde und zum Zeitpunkt meiner Verhaftung noch keine zwanzig Jahre alt war. Zweifelnd strich ich diesen Abschnitt durch. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, nach der schlaflosen Nacht funktionierte mein Kopf schlecht.
Der Bogen ist ausgefüllt, ich unterschreibe. Ein neuer Popka führt mich die endlosen Korridore auf Parkettböden und Teppichläufern entlang. An den Übergängen von einem Korridor zum nächsten blitzen in den Ecken kleine rote Äuglein auf; wir treten wohl mit den Füßen auf irgendwelche unterm Teppich befindlichen Knöpfe, die Entgegenkommenden signalisieren, dass wir uns nähern. Kommt uns tatsächlich jemand entgegen, und ist ebenfalls ein Häftling dabei, packt die Begleitwache einen von uns sofort an der Schulter und dreht ihn mit dem Gesicht zur Wand. Eine Waffe tragen die Wachleute der Ljubjanka in der Regel nicht, zumindest nicht über der Kleidung.
Wir steigen ins Untergeschoss hinab. Ein kurzer Korridor mit links und rechts gelegenen Zellen, der sogenannte »Hundezwinger«. In der Mitte ein Diensthabender in weichen Filzpantoffeln, die er direkt über den Stiefeln trägt, um lautlos zu den Gucklöchern an den Türen schleichen und nachsehen zu können, wie sich die Häftlinge verhalten. Gleich links befindet sich eine Zelle mit Dusche. Ich entkleide mich erneut, um zu duschen.
Nass werde ich den Korridor entlanggeführt. Mit einer Hand halte ich die Hose fest, an der Gürtel und Knöpfe fehlen. Vor Zelle Nr. 4 bleiben wir stehen. Der Diensthabende steckt den leise klirrenden Schlüssel ins Schloss und fragt, mein Formular vor der Nase, im Flüsterton (in der Ljubjanka geschieht alles im Flüsterton – alles ist geheim! Überall ist es still, außer in den Untersuchungsräumen und in den tiefsten Kellern):
»Name?«
Ich nenne meinen Namen. Der Schlüssel klickt, ich betrete die Zelle. Die Tür schlägt hinter mir zu. In der winzigen Zelle befinden sich drei am Fußboden festgeschraubte Eisenbetten. Ein Souterrainfenster mit dickem Gitter, das auf den Innenhof hinausgeht; von außen ist eine Blende angebracht, die nur den Blick auf ein Fetzchen vom Himmel frei lässt. Die auf den Betten liegenden Gestalten setzen sich sogleich auf. Einer, ein orientalischer Typ mit verbundenem Kopf, richtet den bohrenden Blick seiner fiebrigen Augen auf mich. Der andere, ein fülliger Mann von etwa fünfundvierzig bis fünfzig Jahren, mit einer seriös wirkenden Glatze, sieht mich blinzelnd an und erkundigt sich halblaut:
»Haben sie Sie schon verhört?«
»Noch nicht«, erwidere ich.
Ich warf meinen kleinen Rucksack auf die freie Liege, setze mich und stütze den Kopf auf die Hände. Wenn ich nur wüsste, worin mein Verbrechen bestand!
Die beiden Häftlinge ließen mich, den Neuen »aus der Freiheit«, einen Augenblick zu mir kommen und stürzten sich dann begierig auf mich. Ich meinerseits erfuhr, dass es sich bei dem »Orientalen« um einen gewissen Kopylow handelte, Volkskommissar für Industrie auf der Krim, vormals Kommandeur einer Roten Division, die im Kaukasus agiert hatte. Auf seiner khakifarbenen Feldbluse waren von der früheren Erhabenheit nur noch drei Löcher für die von der Regierung verliehenen Orden geblieben. Auf meine Frage, wo denn die Orden jetzt seien, meinte Kopylow mit schiefem Grinsen, die habe man bei der Verhaftung abgeschraubt. Er saß seit einer Woche und wurde meines Wissens aller fünfzehn Punkte des berüchtigten Artikels 58 beschuldigt: sowohl des Vaterlandsverrats als auch der Spionage, der Unterminierung, der Sabotage …
Der Zweite war der Dichter Pjotr Parfjonow, Autor des bekannten Liedes »Durchs Gebirge, durch die Steppe«. Nach Parfjonows Verhaftung war die Autorenschaft auf geheimnisvolle Weise auf S. Alymow übergegangen, der sich in Freiheit befand und Loblieder auf den großen Stalin sang.
Dem Dichter wurde konterrevolutionäre und antisowjetische Agitation vorgeworfen.
»Wer hat Ihren Haftbefehl unterzeichnet?«
»Jagoda«, erwiderte ich.
»Dann sieht es schlecht für Sie aus«, tröstete mich Parfjonow.
Kopylow schob seinen Kopfverband zurecht und sagte mit heiserer Stimme:
»Ich warne Sie lieber rechtzeitig, junger Mann: Die Untersuchung ist eine ernstzunehmende Sache. Vor allem halten Sie stand, unterschreiben Sie nicht jeden Blödsinn, den Ihnen der Untersuchungsrichter vorlegt, ziehen Sie niemand anderes mit rein. Halten Sie sich! Sehen Sie, was die mit mir gemacht haben?« Er zeigte auf seinen Kopf. Dann hob er seine Feldbluse an, und ich erblickte gleichmäßige blaue Striemen, die sich vom Bauch zur linken Brust zogen.
Auf dem Hof kommt im Stechschritt die Ablösung vorbei. Widerhallend erklingt: »Wir dienen dem werktätigen Volk!« Wachwechsel.
Meine Zellengenossen können es beide nicht fassen, warum man mich, den Neuen, in eine Gemeinschaftszelle gesetzt hat. Vor dem ersten Verhör muss man in der Regel in eine Einzelzelle. Und tatsächlich, ihre Ankündigung, dass man mich doch noch in eine Einzelzelle bringen würde, bewahrheitete sich. Bald rührte sich etwas auf dem Korridor, und eine gereizte Stimme sagte:
»Wie kannst du denn … Sag bloß, du weißt das nicht …«
Der Popka kam herein und befahl mir, mich schleunigst fertig zu machen. Ich verabschiedete mich von Kopylow und Parfjonow und verließ die Zelle. Den Ersteren sollte ich nicht wiedersehen; erst acht Monate später, als ich in einer Zelle der Butyrka saß und mich durch Klopfzeichen mit einem Kameraden verständigte, erfuhr ich, dass Kopylow »zum Mond gefahren« war. Parfjonow begegnete ich im Gefängniskrankenhaus. Später erzählte man mir, dass man auch ihn erschossen habe.
Man führte mich in den Korridor und versetzte mich nach Einzelzelle Nr. 8. Kopylow rief ihnen nach: »Die Hochschule hat er schon absolviert! Ihr kommt ein wenig zu spät!«
Sie drohten ihm.
Die Zelle war klein, ohne Fenster. Irgendwo über mir glimmte trüb ein verstaubtes Lämpchen. Erschöpft zwängte ich mich in den Gang zwischen Wand und Eisenbett und fiel auf das Eisennetz.
Am Ende des Korridors hämmerte jemand verzweifelt gegen seine Tür und schrie: »Ich kann nicht mehr! Lasst mich raus, um Himmels willen, ich habe eine Frau und Kinder! Ich bin doch kein Verbrecher! Ich habe nichts getan, niemanden umgebracht, niemanden ausgeraubt!!«
Möglicherweise wurde seine Tür geöffnet, die Stimme erklang lauter: »Mein Ehrenwort, ich bin kein Verbrecher! Was macht ihr?! Au, meine Hand, meine Ha-and! Lasst sie …!« Offenbar hatte man ihm die Hände verdreht und den Mund gestopft.
Wieder herrschte Stille.
Ich war schrecklich müde. Aber (und auch das hat Methode in der Ljubjanka: den Menschen keinen Schlaf zu lassen) zehn Minuten später wurde ich wieder abgeholt.
Ich gehe zum ersten Verhör.
Ein Fahrstuhl. Fünfter Stock. Raum 517.
Wir haben April 1936. Zur gleichen Zeit werden im selben Gebäude die für einen grandiosen Prozess von staatstragender Bedeutung vorgesehenen Sinowjew und Kamenew und ihre vierzehn »Mittäter« verhört.
Das Verhör
Ein gut ausgestattetes, großes Arbeitszimmer. Gleich rechts neben der Tür ein weiches Ledersofa, links ein hoher Eichenschrank, der fast bis zur Decke reicht, direkt am Fenster zwei zusammengeschobene solide Schreibtische, die sich im glänzenden Parkett spiegeln; das vergitterte Fenster geht auf den Innerhof der Ljubjanka hinaus. Auf den Tischen Tintenfässer und massenweise »Beweisstücke« gegen mich: Handschriften, Fotos, Briefe, die man bei mir während der Durchsuchung konfisziert hat.
Am rechten Schreibtisch sitzt der Ermittler, ein gedrungener Mensch mittleren Alters in einer Uniform mit Schulterriemen. Er runzelt die dichten Brauen, während er meine »Beweisstücke« betrachtet. Nachdem er kurz zu mir aufgesehen hat, blättert er weiter in den Papieren. Auch der Assistent des Ermittlers, ein junger Bursche, der am zweiten Tisch sitzt, unterbricht seine Beschäftigung, die Reinigung eines brünierten Brownings, nicht.
Auf ein Zeichen des Ermittlers hin verließ der Popka den Raum und schloss hinter sich leise die Tür. Ich stand, die Hand auf der Lehne eines freien Sessels, und wartete. Gleich würde sich alles klären und natürlich würden sie mich nach Hause entlassen. Ich war doch kein Verbrecher, ich hatte ein reines Gewissen. Hier lag einfach ein ungeheuerliches Missverständnis vor.
Etwa zehn Minuten vergingen. Irgendwoher, vielleicht vom Ljubjanskaja-Platz, drangen dumpfes Autohupen und der mir nur zu gut bekannte vielstimmige Stadtlärm zu uns.
»Nehmen Sie die Hand vom Sessel«, verlangte der Ermittler mit leiser Stimme.
Gehorsam nahm ich sie herunter, obwohl ich mich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte. Wollte er mich etwa nicht auffordern, mich zu setzen?
Der Ermittler warf seine Feder plötzlich hin, lehnte sich zurück und blickte mir lange unverwandt, prüfend in die Augen.
»Nu-un?«, sagte er dann gedehnt.
»Wem und welchen Umständen ich meine Verhaftung auch zu verdanken habe, Genosse Ermittler …«, sprach ich ihn an, wie ich es im Umgang mit Sowjetbürgern gewohnt war.
»Ich bin dir kein Genosse!«, brüllte er dazwischen, hieb mit der Faust auf den Tisch und fügte dann leiser hinzu: »Wofür hat man dich verhaftet? Immer dieselben Ausreden! Hier, unterschreib!«
Er gab mir ein Papier. Ich lese:
»Anklage wird erhoben wegen Verletzung des Artikels 58 Punkt 8, 10 und 11 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.« Das bedeutete die Begehung terroristischer Handlungen gegen die Führer der Partei der Bolschewiki, konterrevolutionäre Tätigkeit und antisowjetische Agitation. Ein hübsches Sträußchen! Wenn das alles bestätigt würde, wäre mir der »Mond« sicher. Darunter stand: »Gelesen.« Nun gut, wenn nur das zu bestätigen ist, unterschreibe ich. Der Ermittler reißt mir das Blatt eilig aus der Hand und legt mir einen ganzen Stapel vollgeschriebener Blätter vor, die vor Fehlern nur so strotzten.
»Protokoll der Voruntersuchung in der Strafsache Nr. …«, stand auf dem Titelblatt. Seite eins begann folgendermaßen:
»Frage: Gestehen Sie, Mitglied einer konterrevolutionären terroristischen Studentenorganisation Moskaus zu sein?
Antwort: Ich gestehe. Zu unseren Zielen gehörte …«
Dann folgte in meinem Namen auf zwanzig oder dreißig Seiten eine Aufzählung aller geplanten Verbrechen.
»Nein, das kann ich nicht unterschreiben«, sagte ich und legte das »Protokoll« auf den Tisch.
»Warum?«, erkundigte er sich mit vorgespielter Verwunderung.
»Weil es nicht stimmt, ich bin in keiner solchen Organisation.«
Er sprang auf, beugte sich über den Tisch und brüllte mir, vor Erregung schäumend, ins Gesicht: