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(S)-Nikotin
(S)-(–)-1-Methyl-2-(3-pyridyl)pyrrolidin
3.1 BIOLOGISCHE EFFEKTE
Nikotin kommt in zwei spiegelbildlichen Konformationen vor. Die Blätter von Tabakpflanzen enthalten (S)-Nikotin (in der Strukturformel als dicker Pfeil dargestellt), das biologisch etwa 10-mal aktiver ist als die R-Konformation. Ohne aufwändige Isomerentrennung liefern chemische Syntheseverfahren eine Mischung der beiden Formen, die man als Racemat bezeichnet. Nahezu alle nikotinhaltigen Produkte, die derzeit am Markt sind – inklusive Arzneimittel und Liquids – enthalten aus Tabak isoliertes (S)-Nikotin. Die Substanz ist auch in den Blättern anderer Nachtschattengewächse enthalten, beispielsweise Tomaten, Kartoffeln, Paprikas und Auberginen (Abb. 2). Hersteller von Liquids in den USA überlegen, aus anderen Pflanzen gewonnenes Nikotin zu verwenden, um die FDA-Regulierung der Liquids als Tabakprodukte zu umgehen. Gelegentlich wird in den sozialen Medien mit dem Nikotingehalt dieser Lebensmittel argumentiert, das heißt, man würde auch durch das Essen von Kartoffeln Nikotin zu sich nehmen. Dabei wird aber nicht bedacht, dass wir nicht die Blätter, sondern die Früchte, genauer gesagt die Knollen dieser Pflanzen verzehren, also Bestandteile, deren Nikotingehalt vernachlässigbar ist. Gemäß einer publizierten Analyse enthalten 500 kg Kartoffeln 1 mg Nikotin [7], wovon bei Verzehr 0,2 mg ins Blut gelangen und systemisch wirksam würden (siehe 3.2.).

Abbildung 2: Einige Nachtschattengewächse, die durch Nikotin in den Blättern vor Insekten und anderen Fressfeinden geschützt sind – v.l.n.r.: Nicotiana tabacum (Tabakpflanze), Solanum lycopersicum (Tomate), Solanum melongena (Aubergine) und Capsicum (Paprika).
Im menschlichen Körper imitiert Nikotin einen Teil der Wirkungen des Neurotransmitters Acetylcholin und bewirkt dadurch eine leichte Erhöhung von Herzfrequenz und Blutdruck. Diese Effekte sind harmlos und ähneln jenen von Koffein oder leichter körperlicher Betätigung. Klinische Studien, in denen man die langfristigen Konsequenzen von Nikotinersatzprodukten untersucht hat, erbrachten keinen Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende Erkrankungen des Herzkreislauf-Systems [8,9]. Dennoch sollten Personen mit schweren kardiovaskulären Erkrankungen wie etwa überstandenem Herzinfarkt, Schlaganfall oder peripherer arterieller Verschlusskrankheit („Schaufensterkrankheit“) sicherheitshalber ihren Nikotinkonsum möglichst einschränken oder ganz darauf verzichten. Die Ergebnisse klinischer Studien sind nicht in Stein gemeißelt, und der Teufel schläft bekanntlich nicht.
Neben den typischen, gut untersuchten Wirkungen auf das Herzkreislauf-System wurden in der Fachliteratur vielfältige biologische Effekte von Nikotin beschrieben, deren Relevanz für unsere Gesundheit unklar ist. Herausgreifen möchte ich den möglichen Einfluss des Nikotinkonsums auf Krebserkrankungen. Nikotin ist nicht als krebserregend eingestuft, da es keinen belastbaren Hinweis auf krebserregende Wirkungen gibt. Allerdings fördert Nikotin die Neubildung von Blutgefäßen, die sogenannte Angiogenese [10]. Dieser Prozess ist wichtig für die Wundheilung, führt allerdings bei bestehenden Krebserkrankungen zu einer verbesserten Blutversorgung des Tumors und hat damit beschleunigtes Tumorwachstum zur Folge. Versuche mit Labortieren zeigten derartige Effekte von Nikotin und wiesen auch daraufhin, dass Nikotin die Wirksamkeit von Zytostatika, die in der Chemotherapie das Tumorwachstum bremsen sollen, beeinträchtigen könnten [11-13]. Im Bereich Tabak/Nikotin sind Ergebnisse aus Tierversuchen allerdings besonders schlecht oder gar nicht auf den Menschen übertragbar (siehe Kapitel 8), sodass es unklar ist, ob die Befunde zur Beschleunigung des Tumorwachstums in Labortieren für den Nikotinkonsum mittels E-Zigaretten relevant sind. Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen sollte man aber nicht hasardieren, und ich empfehle daher Personen mit Krebserkrankungen sicherheitshalber, wenn möglich, auf Nikotin zu verzichten.
Nikotin hat aber auch positive Wirkungen, die von der Tabakkontrolle unter den Teppich gekehrt werden, um die politisch erwünschte Denormalisierung des Rauchens nicht zu gefährden. Im Vordergrund steht dabei die entzündungshemmende Wirkung, auf der wahrscheinlich die Schutzwirkung gegen die Colitis ulcerosa, einer ausgesprochen unangenehmen entzündlichen Darmerkrankung, beruht. Raucherinnen und Raucher leiden wesentlich seltener an dieser Krankheit, und die Wirksamkeit der Therapie mit Nikotinpflastern ist in klinischen Studien dokumentiert [14,15]. Aus unbekannten Gründen schützt Nikotin aber nicht gegen Morbus Crohn, einer mit der Colitis ulcerosa verwandten Erkrankung. Auch bei Autoimmunerkrankungen [16] wie der Sarkoidose, einer auch in der Lunge auftretenden Bindegewebserkrankung, verbesserte Nikotin die Symptomatik [17]. Im Gehirn scheint die entzündungshemmende Wirkung von Nikotin zur geringeren Häufigkeit von Morbus Parkinson [18,19] und Morbus Alzheimer [20,21] unter Raucherinnen und Rauchern beizutragen.
Besonders interessant sind die psychischen Effekte von Nikotin. Häufig beklagen sich Raucherinnen und Raucher über mangelnde Konzentrationsfähigkeit im Rahmen von Entwöhnungsversuchen. Und tatsächlich zeigen klinische Studien eine Verbesserung kognitiver Leistungen wie Lernen, Gedächtnis und Konzentration durch Nikotin [22,23], während Nikotinentzug im Zuge der Raucherentwöhnung kognitive Beeinträchtigungen zur Folge hat [24]. Der Neurowissenschaftler Paul Newhouse untersucht seit langem die therapeutische Wirksamkeit von Nikotinbehandlung bei Personen mit leichter geistiger Behinderung [25,26]. Die Therapie mit Nikotin wird aufgrund des angeblich hohen Suchtpotentials (siehe 3.4.) abgelehnt, aber analoge Substanzen, die bestimmte Nikotinrezeptoren im Gehirn stimulieren, werden zur Therapie diverser kognitiver Störungen und psychischer Erkrankungen in Betracht gezogen [27]. Kontrovers beurteilt werden die Effekte von Nikotin bei Erkrankungen wie der Schizophrenie [28,29] oder der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung mit oder ohne Hyperaktivität, dem AD(H)S [30]. Bei beiden Erkrankungen ist die Raucherquote wesentlich höher als in der Normalbevölkerung, bei Schizophrenie beträgt sie bis zu 80 Prozent. Manche Fachleute gehen davon aus, dass sich die Patienten unbewusst selbst mit Nikotin behandeln und kritisieren die strikten Rauchverbote in psychiatrischen Kliniken. An Schizophrenie erkrankte Personen zeigen aber insgesamt verstärktes Suchtverhalten, sind also zum Beispiel auch eher alkoholabhängig als Gesunde. Somit könnte die hohe Raucherquote auch eine Ausprägung des Suchtverhaltens sein, was die Selbsttherapie-Hypothese des Rauchens bei Schizophrenie in Frage stellt [31].
Mit dem Effekt von Nikotin auf AD(H)S habe ich mich selbst näher beschäftigt. Eine kürzlich publizierte Studie zeigt, dass junge Erwachsene mit ADHS signifikant stärker zur Selbstverabreichung von Nikotin neigen als Kontrollgruppen [32], sodass die höheren Raucherquoten unter Betroffenen offenbar auf Neigung zum Nikotinkonsum zurückzuführen sind. Allerdings stellt sich auch hier die Henne-Ei Frage: Verursacht die kognitive Störung die Vorliebe für Nikotin oder verbessert Nikotin die Symptomatik? Die Fachliteratur dazu ist kontrovers, aber in persönlichen Mitteilungen haben mir Betroffene einhellig berichtet, dass sich ihre Symptome bei Nikotinkonsum, entweder durch Rauchen oder mittels E-Zigaretten, verbessern und nach Entzug wieder verschlechtern. Nachdem diese Erfahrungsberichte auch durch vereinzelte klinische Studien bestätigt wurden, wird die therapeutische Wirksamkeit von Nikotin zur Behandlung des AD(H)S auch von Fachleuten in Erwägung gezogen [27].
3.2 TOXIZITÄT
Häufig liest man Nikotin sei ein tödliches Nervengift. Das ist grundsätzlich richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Um das zu verstehen müssen wir zunächst klären, welche Stoffe als Gifte zu bezeichnen sind. In der Bevölkerung besteht vermutlich Einigkeit, dass die aus Kriminalromanen gut bekannten Stoffe Arsenik oder Kaliumcyanid („Blausäure“) Gifte sind, wohingegen Kochsalz oder Arzneimittel gemeinhin als nützlich erachtet werden. Diese Unterscheidung ist wissenschaftlich allerdings nicht haltbar. Bereits vor 500 Jahren hat Paracelsus erkannt, dass der Begriff „Gift“ oder „giftig“ immer auf eine Dosis Bezug nehmen muss. Oder wie das in einem Standard-Lehrbuch der Toxikologie formuliert ist: Es mag ein Dosisbereich existieren, in dem ein bestimmtes Agens eine giftige Wirkung entfaltet. Es gibt immer auch Expositionsbereiche eines Agens, die keine unerwünschten Wirkungen auslösen. [33] Um beim Beispiel Blausäure zu bleiben: Bittermandeln, Aprikosenkerne und andere pflanzliche Nahrungsmittel enthalten Bestandteile (Glykoside), die im Körper Blausäure freisetzen. Dennoch ist der Verzehr geringer Mengen unbedenklich. Unter Berücksichtigung der Dosisabhängigkeit biologischer Wirkungen werden von den Behörden deshalb Grenzwerte für die Aufnahme potentiell schädlicher Substanzen definiert. Im Fall von Cyanid beträgt der tägliche Grenzwert 20 mg pro Kilogramm Körpergewicht. Für einen 60 kg schweren Menschen ist demnach die über den Tag verteilte Aufnahme von bis zu 1,2 Gramm Cyanid nicht „giftig“. Umgekehrt kann der Verzehr von an sich als „ungiftig“ angesehenen Lebensmitteln durchaus fatal enden: 150 Gramm Kochsalz können tödlich sein. In hoher Dosierung wirkt also ein Stoff, den jeder von uns im Küchenschrank aufbewahrt und täglich benutzt, als tödliches Gift. Für das gut verträgliche, auch für Kleinkinder und schwangere Frauen zugelassene Schmerzmittel Paracetamol (zum Beispiel Mexalen®) beträgt die empfohlene Einzeldosis 0,5 Gramm, die tägliche Maximaldosis 2 Gramm. Aber bereits ab einer Dosis von etwa 8 Gramm führt Paracetamol zu schweren, lebensbedrohlichen Leber- und Nierenschäden. In Abhängigkeit von der Dosis ist diese Substanz entweder ein hilfreiches Schmerzmittel für Babys oder tödliches Gift.
Aber nun zum Nikotin. Die Wirkungen von Nikotin beruhen auf der Stimulierung von bestimmten Rezeptoren auf Nervenzellen, die durch den Neurotransmitter Acetylcholin aktiviert werden. Nikotin imitiert also ein körpereigenes Wirkprinzip. In dem beim Rauchen oder Dampfen erzielten Konzentrationsbereich regt Nikotin die Zellen zur Aktivität an, hat also einen stimulierenden Effekt. In mehr als 100-fach höherer Konzentration kehrt sich dieser Effekt jedoch um, sodass die Funktion der Nervenzellen blockiert wird und Nikotin seine neurotoxische Wirkung als Nervengift entfaltet.
Die Wirkumkehr beruht dabei auf der Dauerstimulierung der Acetylcholin-Rezeptoren, die zu einer Aktivitäts-Blockade der Nervenzellen führen. Auf einem ähnlichen biochemischen Effekt beruht auch die relaxierende Wirkung von Suxamethonium (Succinylcholin), einem Mittel, das bei chirurgischen Eingriffen zur Entspannung der Skelettmuskulatur verwendet wird. Eine Wirkung, die im übrigen auch Curare-Derivate entfalten, die als muskellähmende Pfeilgifte südamerikanischer Indianer bekannt sind.
Nunmehr stellt sich die wesentliche Frage, unter welchen Umständen die Nikotinkonzentration im Blut so hoch werden kann, dass die neurotoxische Wirkung von Nikotin zum Tragen kommt. Nikotin wird im Körper rasch abgebaut und verteilt sich in zahlreichen Geweben, sodass bei kontinuierlicher Zufuhr kleiner Mengen, wie das beim Rauchen oder Dampfen der Fall ist, gefährliche Blutspiegel niemals erreicht werden. Es stellt sich ein Fließgleichgewicht (steady state) ein, das den Anstieg der Nikotinkonzentration im Blut limitiert. Außerdem löst Nikotin bereits bei leichter Überdosierung unangenehme Wirkungen wie Schwindel, Kopfschmerzen und – in Extremfällen – Erbrechen aus, die uns zur Unterbrechung der Aufnahme veranlassen: man legt eine Rauch- oder Dampfpause ein. Somit stellt man durch Anpassung des Rauchverhaltens unbewusst optimale Nikotinspiegel ein, man „titriert“ die erforderlichen Blutspiegel an Nikotin, ohne sich dessen bewusst zu sein. Diese Selbsttitration mit Nikotin ist für das Rauchen seit langem dokumentiert, und aktuelle Studien zeigten das auch für das Dampfen [34]. Das von Frau Dr. Martina Pötschke-Langer bei einer Anhörung im deutschen Bundestag gezeichnete Schreckensbild von Dampferinnen und Dampfern, die bis zur Bewusstlosigkeit an ihren E-Zigaretten ziehen [35], ist daher realitätsfern und als Science Fiction zur Bekämpfung von E-Zigaretten einzustufen.
Ernsthafte Vergiftungserscheinungen bis hin zum Tod treten nur auf, wenn größere Mengen an Nikotin als Bolus („auf einen Sitz“) aufgenommen werden. Bei oraler Aufnahme (Verschlucken) von Nikotin in Form von Tabak oder nikotinhaltigen Flüssigkeiten wird nur etwa ein Fünftel der verschluckten Menge im Körper wirksam, der Rest wird in der Leber abgebaut und ausgeschieden. Fachleute nennen den Anteil eines Wirkstoffs, der ins Blut gelangt und systemisch wirksam werden kann Bioverfügbarkeit. Definitionsgemäß beträgt die Bioverfügbarkeit eines Stoffes bei intravenöser Verabreichung 100 Prozent, da in dem Fall die gesamte Menge direkt in das Blut injiziert wird und dort wirksam werden kann. Je nachdem, wie man einen Wirkstoff zuführt (appliziert), kann die Bioverfügbarkeit aber varriieren. Wie ist das bei Nikotin? Bei Verschlucken ist sie, siehe oben, gering. Beim „Lungenzug“ ist sie hoch. Bei inhalativer Applikation oder „bukkal“ über die Mundschleimhaut, wird Nikotin nahezu vollständig aufgenommen. [36].
Neben der Bioverfügbarkeit ist auch die Geschwindigkeit der Aufnahme von Stoffen zu berücksichtigen. Wenn man Nikotin verschluckt, muss die Substanz zunächst in den Dünndarm und gelangt über die Pfortader und die Leber ins Blut. Das dauert je nach Füllung des Magen-Darmtrakts 30 bis 60 Minuten. Auch über die Haut wird Nikotin aufgrund der Barrierefunktion der Epidermis nur sehr langsam aufgenommen [37,38]. So geben die sogenannten Pflaster (transdermale therapeutische Systeme, TTS) das enthaltene Nikotin nur langsam über einen Zeitraum von 12 bis 24 Stunden ab. Deshalb ist auch die Gefahr von Nikotinvergiftung bei versehentlicher Kontamination der Haut vernachlässigbar. Selbst hochkonzentrierte Nikotinlösungen verursachen keinen merkbaren Effekt, wenn man sich nach einem allfälligen Missgeschick die Hände wäscht.
Bei Aufnahme über die Mundschleimhaut (Lutschtabletten, Sprays) wird Nikotin wesentlich schneller aufgenommen, da der Umweg über den Magen-Darmtrakt und die Leber entfällt. Besonders schnelle Aufnahme beobachtet man bei Inhalation von Tabakrauch, da Nikotin im Rauch an feste Partikel gebunden ist, die aufgrund ihres geringen Durchmessers tief in die Lunge eindringen können und das Nikotin von den Lungenbläschen direkt ins Blut abgegeben wird. Häufig wird kolportiert, inhaliertes Nikotin würde im Gehirn binnen weniger Sekunden seine Wirkung entfalten. Das wurde aber durch eine elegante Studie widerlegt, in der die Aufnahme beim Rauchen mit einem bildgebenden Verfahren untersucht wurde. Es vergingen mehrere Minuten bis im Gehirn maximal wirksame Spiegel an Nikotin erreicht wurden [39].
Bei Inhalation nikotinhaltiger Aerosole aus E-Zigaretten scheint die Geschwindigkeit der Aufnahme etwas langsamer zu sein als beim Rauchen, wobei die in Studien gemessenen Werte allerdings stark variieren [40-43]. Die Geschwindigkeit ist wahrscheinlich nicht nur von der Nikotinkonzentration des Liquids und der eingestellten Leistung, sondern auch von der Zugtechnik abhängig (siehe Kapitel 4). So ist es denkbar, dass bei konventioneller Inhalation („Mund-zu-Lunge“) ein erheblicher Anteil des Nikotins bereits in der Mundschleimhaut und in den oberen Atemwegen aufgenommen wird und daher im Vergleich zur Inhalation „Direkt-auf-Lunge“ verzögert ins Blut gelangt. Dazu liegen aber bisher keine Untersuchungen vor. Unabhängig vom zeitlichen Verlauf sind die maximalen Nikotinkonzentrationen im Blut beim Dampfen ähnlich wie beim Rauchen.
3.3 TÖDLICHE NIKOTINDOSIS
Trotz der häufigen Warnungen vor Nikotinvergiftungen sind ernsthafte Vergiftungen selten. Auch Selbstmordversuche sind fast immer erfolglos. Das ist erstaunlich, da gemäß Lehrbüchern und Datenbanken bereits das Verschlucken von 60 mg Nikotin für einen erwachsenen Menschen tödlich sein soll. Diese Menge an Nikotin entspricht etwa einem Tropfen reines Nikotin oder dem Nikotingehalt des Tabaks von 5 Zigaretten. Demnach wäre Nikotin ähnlich giftig wie Kaliumcyanid («Zyankali»), dem Stereotyp eines Werkzeugs für Mord und Selbstmord. Das Verschlucken von 5 Zigaretten wäre für einen Erwachsenen tödlich, bei Kleinkindern könnte bereits eine Kippe ausreichen. Entsprechend häufig wird in den sozialen Medien vor den achtlos weggeworfenen Zigarettenresten auf Kinderspielplätzen gewarnt, obwohl kein einziger Fall einer ernsthaften Vergiftung dokumentiert ist. Es handelt sich hier ganz offensichtlich um eine moderne Sage, oder – im aktuellen Jargon – um „urban legends“ oder „fake-news“.
Die ausgesprochen seltenen fatalen Fälle von Nikotinvergiftungen und andere Ungereimtheiten rund um die berühmte Dosis von 60 mg veranlassten mich im Sommer 2013 zur Suche nach der Quelle für diese allgemein akzeptierte letale Nikotindosis. Dabei lief ich lange im Kreis: ein Lehrbuch zitierte dazu eine Datenbank, diese wiederum eine andere Datenbank, wo dann ein weiteres Lehrbuch als Beleg angeführt wurde, bis ich am Ende wieder beim ersten Buch angelangt war. Somit war ich gezwungen, meine Suche auf die bereits etwas verstaubte deutschsprachige Literatur der Zwischenkriegszeit zu erweitern. Nach langem Stöbern und mit Hilfe der Mitglieder eines Internetforums führte mich ein Artikel aus den 1930er Jahren zu dem 1906 veröffentlichten Lehrbuch der Intoxikationen des Universitätsprofessors für Toxikologie in Rostock, Rudolf Kobert [44]. Kobert schätzte die Dosis von 60 mg aufgrund von Selbstversuchen, die Karl Damian von Schroff, Leiter des Pharmakologischen Instituts der Universität Wien, 1856 in seinem Lehrbuch Pharmacologie beschrieben hatte [45]. Demnach hatten die Versuchspersonen bereits nach Aufnahme von 4 mg Nikotin, was der Menge in einem Nikotin-Kaugummi entspricht, schwerwiegende Symptome bis hin zu Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit. Welcher Fehler den damaligen Experimentatoren unterlaufen ist, lässt sich heute nicht mehr eruieren, aber geringe Mengen an Nikotin verursachen definitiv nicht derart schwerwiegende Symptome. Die Kobert‘sche Schätzung der letalen Dosis beruhte also auf einem offensichtlich fehlerhaften Bericht, wurde aber über 100 Jahre lang von Lehrbuchautoren unreflektiert abgeschrieben und noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts als allgemein gültig akzeptiert.
Somit galt es die tatsächliche letale Dosis abzuschätzen. Dazu lieferten in der Fachliteratur beschriebene letale und fast letale Vergiftungsfälle wertvolle Hinweise, in denen die aufgenommene Menge an Nikotin und dessen Konzentration im Blut dokumentiert waren. Mit diesen Informationen konnte ich den Grenzwert für die letale Dosis abschätzen, wobei ich den ursprünglich errechneten Wert von 2 Gramm vorsichtshalber auf 0,5 bis 1 Gramm reduziert hatte. Meine Schätzung wurde im Oktober 2013 online und im Jänner 2014 in Papierversion publiziert und ist mittlerweile allgemein akzeptiert [46]. Ausnahmen sind Gesundheitsorganisationen wie die US Centers for Disease Control (CDC), die einen langjährigen Kampf gegen Nikotin führen und alle Informationen unter den Teppich kehren, die diesen Kampf gefährden könnten. Auf der Webseite der CDC findet man daher noch immer die berühmten 60 mg mit einem Literaturzitat, das ins Nirwana führt [47].
Ich möchte aber betonen, dass man nikotinhaltige Lösungen dennoch mit Vorsicht handhaben sollte. Auch in deutlich niedrigerer Dosis kann Nikotin schweres Erbrechen und andere unerwünschte Wirkungen auslösen. Das betrifft vor allem Kinder, für die die gefährliche Dosis ihrem geringeren Körpergewicht entsprechend niedriger ist. In einem gewissen Alter tendieren Kleinkinder dazu alles zu schlucken was sie in die Finger bekommen. Es gab auch schon Verwechslungen aufgrund mangelhaft beschrifteter Gefäße. Wenn Papa konzentrierte Nikotinlösung in ein unbeschriftetes Arzneifläschchen abfüllt und Mama später der kleinen Tochter davon zehn Milliliter verabreicht, kann das ein fatales Ende nehmen. Deshalb ist unbedingt dafür Sorge zu tragen, Gefäße mit nikotinhaltigen Liquids sorgfältig zu beschriften und außerhalb der Reichweite kleiner Kinder aufzubewahren. Das gilt allerdings gleichermaßen für viele Dinge unseres Lebens, die für Kinder gefährlich sind, vom WC-Reiniger über Spirituosen bis hin zu Tabakzigaretten.
3.4 HOHES SUCHTPOTENTIAL?
Das hohe Suchtpotential von Nikotin ist wohl der am weitesten verbreitete Mythos über das Rauchen. Die Suchtwirkung von Nikotin sei vergleichbar mit – wenn nicht sogar stärker als – jene von Heroin, hört und liest man regelmäßig. Wenn ich in Vorträgen die diversen Mythen rund um Nikotin sachlich und evidenzbasiert als Schauermärchen entlarve, rufen meine Ausführungen zur „Nikotinsucht“ regelmäßig Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit hervor. Von kopfschüttelndem Lächeln bis hin zu offener Feindseligkeit reichen die Reaktionen des Publikums. Die starke Abhängigkeit der meisten Raucherinnen und Raucher sei ja wohl offenkundig. Wie bereits im Abschnitt über die gesundheitlichen Aspekte geschildert, wird auch bei der Diskussion über Sucht und Abhängigkeit Nikotinkonsum mit dem Rauchen gleichgesetzt. Und es erweist sich als schwierig bis fast unmöglich, diese Gleichsetzung ohne Verlust von Glaubwürdigkeit sachlich und unaufgeregt zu hinterfragen.
Bevor ich den Versuch wage, das hier zu tun, möchte ich daran erinnern, dass Raucherinnen und Raucher nicht an ihrer Abhängigkeit sterben, sondern an den schädlichen Wirkungen der Inhaltsstoffe von Tabakrauch. Man würde eine Sucht gegen eine andere tauschen, wird häufig angeführt. Selbst wenn dieses Argument gegen den Umstieg auf E-Zigaretten gerechtfertigt wäre, sollte man das tatsächliche Problem nicht aus den Augen verlieren. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Abhängigkeit ohne Schädigung von sich selbst oder anderen eine Einschränkung der persönlichen Entscheidungsfreiheit darstellt, die zu vermeiden und gegebenenfalls medizinisch zu behandeln wäre. Diese ethisch/moralische Frage lässt sich nicht sachlich beantworten.
Die Abgrenzung von Sucht (englisch: addiction) und Abhängigkeit (englisch: dependence) ist ebenso schwierig wie eine allgemein akzeptierte Definition dieser Begriffe. Als Mitglied eines internationalen Netzwerks zu tobacco harm reduction hatte ich Gelegenheit, Diskussionen zur Definition dieser Begriffe von weltweit anerkannten Suchtexperten zu verfolgen, die letztendlich kein Ergebnis erbrachten. Auch die WHO kämpft seit Jahrzehnten mit der Terminologie und wird demnächst (ICD-11) auf die Verwendung dieser Begriffe gänzlich verzichten und stattdessen von substance use disorder (Substanzmissbrauch) sprechen. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet und fühle mich nicht dazu berufen, zu dieser Diskussion substantiell beizutragen.
Die WHO hat in ihrer Klassifikation von Krankheiten in der derzeit gültigen Fassung (ICD-10) Kriterien für die Abhängigkeit von Suchtmitteln erstellt (substance use disorder). Demnach ist die Diagnose „Abhängigkeit“ gerechtfertigt, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sind (deutsche Übersetzung gemäß drug.com.de):
1 Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren.
2 Verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums.
3 Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch substanzspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder nahe verwandter Substanzen, um Entzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden.




