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Ich dachte eigentlich, es sei besser geworden. Inzwischen muss man, wenn man mit ihm aus dem Haus geht, nicht mehr davor Angst haben muss, dass ein Streit mit Fremden ausbricht, nur weil die ihn anscheinend frech angeguckt haben.
Wie die Male zuvor auch, als er seinen Job verloren hat, wird er nun wieder Gras an 16-jährige Skaterpunks verkaufen, als erster hochbegabter Straßenköter und zwar so lange, bis er wieder zur Vernunft kommt, sich brav mit neuem Passbild, frisiertem Lebenslauf und gefälschten Arbeitszeugnissen irgendwo bewirbt, sich einen Anzug und Krawatte kauft, beim Vorstellungsgespräch überzeugt, den Job bekommt und mit seiner ihm angeborenen Energie und Zielstrebigkeit medizintechnisches Equipment an Krankenhäuser oder Minivans an Familienväter oder Rechtsschutz-Versicherungen an alte Damen verkauft. Dann fühlt er sich irgendwann respektlos behandelt, weil sein pedantischer Chef dezent anmerkt, dass er öfters fünf Minuten zu lange Mittagspause macht, worauf eine Szene epischen Ausmaßes ausbricht. Er wurde natürlich nach der letzten Ansage dieser Art fristlos entlassen, ohne Arbeitszeugnis, Abfindung oder sonst was. Einfach so. Selbst seinen Bachelor in Wirtschaftsinformatik konnte er nicht beenden, obwohl er in jeder Prüfung ohne Anstrengung eine 1,0 hatte. Der Grund dafür war eine "Unstimmigkeit", durch die er im siebten Semester exmatrikuliert wurde. Was es damit letztlich auf sich hatte, weiß wohl nur er und die Verantwortlichen an der Uni. Seine Version lautete: Ein Professor hatte ihn nach bei einem Vortrag bloßstellen wollen. Woraufhin Pascal aus dem Vorlesungssaal wetzte und wenig später mit einem zerbrochenen Besenstiel zurückkehrte. Damit verursachte er einen Sachschaden von einigen hundert Euro im Seminarraum, die er natürlich ersetzen musste. Viel schlimmer war jedoch der Ausschluss aus der Uni und die Versicherung des Dekans, dass er nie wieder auf einer anderen Universität des Landes einen Studienplatz bekommen werde… Zum Glück verletzte er niemanden, nicht mal den Professor, der ihn so gekränkt hatte. Dieser pisste sich in die Hosen, was Pascal voll süßer Genugtuung erzählte, während ich lachend bei ihm saß und im Stillen dachte, wenn ich jetzt nicht lächle, kastriert mich der Psychopath mit einem Schweizer Taschenmesser.
Kommentar von Pascal Schrenker
Soll ich mich jetzt dafür entschuldigen, dass ich im Gegensatz zu dir, nicht nur den Mund aufreiße und große Sprüche klopfe, sondern wenn es sein muss auch mal zur Tat schreite. Man muss sich wehren gegen Ungerechtigkeiten, sonst endet man wie du, der sich jeden Abend in eine lächerliche Uniform schmeißen, jedem Arschloch entgegen grinsen, alles in sich reinfressen und dann zu Hause die lange Fresse ziehen. Nein, ich lasse meine Wut raus, wie ein Mann, genau an der Stelle, wo sie reingekommen ist und gegen die Person gerichtet, die sie ausgelöst hat.
Ich lasse mich einfach nicht von vierzigjährigen männlichen Jungfrauen mit Wohlstandsbauch, Flaschenböden vor den Augen und keinem einzigen eigenen Gedanken im Kopf, vor die Füße pissen. Das einzige was dieser Typ mir voraus hat, ist die Position, die er nur gekriegt hat, weil im Moment kein anderer zur Verfügung stand und er halt einfach seit 10 Jahren da arbeitete. Und das tut er immer noch, weil er sich nicht traut, einmal im Leben etwas Neues zu beginnen.
Tagebucheintrag vom 16. Juli 2009
Es ist erst ein Tag vergangen, seit Pascal seinen Job verloren hat und schon beruft unsere Mutter eine Krisensitzung ein. Natürlich wie immer ohne Pascal.
Sobald sie Wind von einer dieser typischen Pascal-Aktionen kriegt, will sie, dass ich vorbeikomme und ihr sowie Papa, der aufmerksam schweigend beisitzt, Aktuelles aus Pascals Leben erzähle: mit welcher Frau er gerade zusammen ist, in welchen Kreisen er verkehrt, welche Probleme er hat und so weiter. „Woher soll ich das wissen?“, sag ich ihr dann immer. Doch sie lässt mich nicht einfach so vom Haken und bohrt solange, bis ich ihr irgendwas erzählt habe. Letztendlich ist es auch wurscht, denn sie spricht Pascal ohnehin nie direkt darauf an. Sie sagt keinem von uns direkt ins Gesicht, wie wir unser Leben ihrer Meinung nach leben sollen, obwohl sie seit unserer Geburt eine genaue Vorstellung davon hat. Sie folgt in ihrer Erziehung bis heute einer Pädagogikschule, die auf den ersten Blick nach Laissez-faire aussieht, in Wirklichkeit aber emotionale Manipulation ist. Sie pflanzt uns ganz subtil ihre Erwartungen in den Kopf und hofft, dass unser Unterbewusstsein uns dahingehend ausrichtet, dass wir sie zukünftig weniger enttäuschen. Es ist nicht leicht, sie zu ertappen, denn ihre Kontrollversuche erfolgen, wie gesagt, sehr subtil.
Mein Bruder und ich haben kein wirklich inniges Verhältnis, aber wir verstehen uns und kennen beide die Tricks unserer Mutter. Wenn sie uns dann wieder aufeinander loslässt, weil der eine dem anderen irgendwie ins Gewissen reden soll, dann durchschaut das der jeweils andere. Trotzdem reden wir darüber nicht miteinander. Vielleicht weil es so schwer zu benennen ist. Man kann es nicht wirklich greifen – es ist mehr so ein Gefühl. Vielleicht auch, weil wir nicht zu der Sorte von Söhnen gehören wollen, die über ihre Mutter lästern. Deshalb spielen wir einfach immer unser kleines Spiel, wenn irgendeiner von uns wieder Scheiße gebaut hat.
Kommentar von Pascal Schrenker
Wovon redest du? Warst du unter Drogen, als du das geschrieben hast? Ich habe noch nie mit dir irgendein Spiel gespielt. Wenn ich dir Ratschläge gegeben habe oder dich auf den richtigen Weg geleitet habe, dann war das von Bruderliebe motiviert. Ich habe das nicht gemacht, weil unsere Mama mich beauftragte. Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass dir deine Familie hin und wieder einen kleinen Stups geben musste, weil du sonst eingeschlafen wärst.Du warst derjenige, der immer Geburtstage vergaß, nie Geschenke hatte und so weiter. Du riefst auch von dir aus nie einen von uns an, im dich zu erkundigen, wie es uns ging. Du hast gewartet, bis wir uns meldeten und deshalb gaben wir dir ab und an einen Hieb, damit du uns nicht vergaßt.
Tagebucheintrag vom 2. August 2009
Manchmal wundere ich mich über mich selbst: Wie abgestumpft bin ich eigentlich? Heute hat sich wieder ein recht typisches Szenario bei uns im Restaurant abgespielt. Eines das mich jedes Mal schier zur Weißglut treibt, welche ich aber nicht ausleben kann, ohne dabei meinen Job zu riskieren. Das kann ich mir aber nicht leisten, schließlich muss ich meine Familie ernähren und mein Gehalt gibt nicht so viel her, dass ich Rücklagen bilden und etwa ein Jahr lang auf der Suche nach Selbstfindung in mein Unterbewusstsein reisen könnte. Zumindest nicht, ohne dass die Menschen, die mir wichtig sind, darunter leiden. Deswegen habe ich mir diese phlegmatische Einstellung angewöhnt. Mit stumpfer Rasierklinge rasiert es sich zwar mühsamer, aber dafür sicherer.
Vielleicht ist es einfach nur das Los, das ich im Leben gezogen habe, als ich mich gegen ein Studium entschied. Es war cool, mein eigenes Geld zu verdienen, während meine Freunde noch von ihren Eltern abhängig waren. Ich konnte mir neue Computerspiele oder bessere Klamotten kaufen, während meine Freunde immer auf das Taschengeld von Papa und Mama warten mussten. Meine Uni-Freunde haben mir damals prophezeit, dass sie irgendwann umso mehr Asche machen würden und ich hab ihnen gesagt, dass man nie wisse, was passiert und dass es mir ohnehin scheißegal sei. Inzwischen halte ich es in ihrer Gegenwart kaum mehr aus. Sie debattieren und diskutieren, theoretisieren und wissen alles besser. Mehr verdienen tun die meisten immer noch nicht, aber auch das ist mir egal. Früher war es cool, beim Pokern in der Pause oder beim Fußball am Nachmittag zu gewinnen, aber jetzt ist es anscheinend cool bei Trivial Pursuit alles zu wissen und Konzepte irgendwelcher Philosophen in den Raum zu werfen. Und ich hab so wenig Ahnung davon, dass ich nicht mal einschätzen kann, ob sie selbst Ahnung davon haben oder ob es nur Phantasieren auf Klugscheißer-Niveau ist. Trotzdem ist es mir peinlich, weil ich denke, dass sie mich für dumm halten müssen. Ein anderer (ich nenn’s mal) Freundeskreis besteht aus aktuellen Kollegen und ehemaligen Weggefährten aus der Hotellerie. Die meisten davon sind zynisch, ungebildet und launisch, nicht dumm oder einfältig – einfach nur abgestumpft. Sie unterhalten sich über die Anzahl der Shots am letzten Abend und den Spielfortschritt bei ‚Battlefield‘.
Es langweilt mich nicht unbedingt mehr als das hochtrabende Gelaber meiner alten Freunde, aber es tut ein bisschen mehr weh. Es ist immer das Gleiche: Aufstehen, Kaffee & Zigarette, sich sauber anziehen, aus dem Haus, Kaffee & Zigarette, Gästen in den Arsch kriechen, Untergebenen in den Arsch treten, Kaffee & Zigarette, mit Kollegen über andere Kollegen lästern, Arschkriechen, Kaffee & Zigarette, mit Vorgesetzten über Untergebene lästern, Kaffee & Zigarette, Arschkriechen, mit Kollegen über Gäste lästern, Kaffee & Zigarette, Arschkriechen, mit Gästen über Kollegen lästern, Kaffee & Zigarette, ausgelaugt nach Hause, Bier & Zigarette, masturbieren, lustlos vor den Fernseher oder den Computer – virtuelle Parallelwelt = Abschalten, Fast Food, mehr zocken, mehr Alkohol, mehr rauchen, mehr zocken, einen durchziehen, masturbieren oder optional bedeutungsloser Sex (vielleicht mit Koks)… und am nächsten Tag das Ganze von vorne.
Ich fühle mich inzwischen weder der ersten noch der zweiten Gruppe angehörig! In der ersten komme ich mir dumm und in der zweiten langweilig vor. Ich will manchmal etwas lesen. Hab mir mal „Also sprach Zarathustra“ gekauft, doch ich konnte mich nicht genug konzentrieren, um mehr als 10 Seiten durchzuhalten. Ein paar Mal aufs Neue habe ich angesetzt, aber dann lag es wieder drei Wochen im Eck und ich wusste irgendwann nicht mehr, wovon dieser Wahnsinnige überhaupt schrieb. Dann war ich, wie so oft, frustriert und hab den Playstation-Controller rausgeholt und gezockt. So komme ich immer wieder zurück zum Zocken. Da muss ich nicht so viel denken! Nach einer Weile – so wie jetzt – merke ich dann, dass ich abstumpfe und dann will ich etwas ändern und kaufe mir wieder ein Buch, das ich lese… solange, bis ich eines Tages wieder völlig entnervt heimkomme, fünf Seiten lese und das Buch ins Eck schmeiße. Nicht mal ‘nen scheiß 200-Seiten-Roman, der bei Hugendubel am Eingang rumliegt und dessen Sprache und Inhalt jeder Depp versteht, schaff‘ ich...
Würde ich mehr lesen, wäre ich vielleicht eloquenter, wenn mich ein unverschämter Gast, wie etwa das Arschloch von heute, auflaufen lässt. Womit ich endlich zum eigentlichen Grund meines heutigen Eintrags komme.
Finanz-Yuppie, 30 Jahre alt, setzt sich an meinen Tisch, hat nicht den Anstand sein scheiß Handy für eine Minute aus der Hand zu legen. Zeigt mit dem Finger auf das Menü, das er gerne essen will. Ich frag ihn, ob er das Steak „rare“, „medium“ oder „durch“ will, doch er winkt nur ab, weil er für solche Nichtigkeiten offenbar keine Zeit hat. Zehn Minuten später stell ich ihm die Suppe hin. Er nimmt mich nicht mal zur Kenntnis. Weitere 6 Minuten und 21 Sekunden (ich hab auf die Uhr geschaut) vergehen, bis er das Handy weglegt: „Mike, mein Essen ist gerade gekommen. Ich ruf dich in zehn Minuten zurück.“ Ein paar Sekunden später brüllt er „Ober!“ und ich eile zu ihm. „Gibt es die Suppe auch in heiß?“ Ich bringe die lauwarme Brühe in die Küche und erkläre den Tatbestand. Wie gewohnt und erwartet flattern Tiraden durch die Luft und nach einer Minute Mikrowelle ist die Suppe wieder auf dem Platz des vom Küchenkollektiv zum Hurensohn ernannten. Als ich die leere Suppentasse abserviere, hat er das Handy schon wieder am Ohr. Er schreit und schert sich einen Scheiß um die anderen Gäste im Lokal. Als ich den Hauptgang bringe, legt er das Handy diesmal gleich weg und fordert, dass ich ihm etwas Brot bringe und Butter. Warum? Er hat Kartoffeln, Kräuterbutter und Bohnen als Beilagen. Trotzdem komme ich seinem Wunsch natürlich nach. Dann hält er mir sein Steakmesser entgegen: „Bringen Sie mir ein normales Messer. Sehe ich aus wie ein Metzger?“ Als ich ihm ein normales Messer gebe, tritt er verbal nochmal nach. „Muss ja ‘ne ziemliche Schuhsohle sein, wenn man solche Säbel zum Schneiden braucht.“ Ich lächle freundlich und ziehe mich zurück. Allerdings nicht lange, weil er gleich wieder „Ober“ schreit. Er zeigt mir die angeschnittene Seite seines Steaks. „Was soll das sein?“
Ich erwidere: „Was meinen Sie?“.
„Rare?“
„Medium!“, antworte ich und er behauptet, er habe das Steak „rare“ bestellt. Ich muss ihn darauf hinweisen, dass er mich hinsichtlich des gewünschten Gargrades nicht in Kenntnis setzte, was er jedoch abstreitet.
„Hab keine Zeit auf ein zweites Steak zu warten“, sagt er und isst es.
Sofort anschließend telefoniert er wieder und gibt mir ein Zeichen für die Rechnung. Ich lege sie ihm hin, er schreit in den Hörer „Harry, ich ruf dich gleich zurück!“, legt auf und pöbelt mich an: „Warum ist das da drauf?“ Er tippt mit dem Zeigefinger auf den Kassenbon an die Stelle wo RUMPSTEAK KAR. BOH. steht. Wieder frage ich „Was meinen Sie?“
„Das Ding war ‘n Stück Schuhsohle und jetzt soll ich das Teil auch noch zahlen? Wollen Sie mich verarschen?“
Ich weise ihn daraufhin, dass das Steak einwandfreier Qualität gewesen sei und er es auch vollständig gegessen habe.
„Weil ich Hunger hatte und keine Zeit für ein anderes!“ Er will meinen Vorgesetzten sprechen und ich gebe mich als Schichtleiter zu verstehen, der Entscheidungen dieser Art selbstverantwortlich fällen darf und verlange von ihm den vollständigen Rechnungsbetrag. Er macht einen riesen Terror und aus Rücksicht vor den anderen Gästen gebe ich nach und hole Theo.
„Das ist unser F&B Manager Theo Müller“, stelle ich ihn vor. Theo knickt sofort ein wie ein Maiglöckchen und nimmt fünfzig Prozent des Steaks von der Rechnung. Er verlangt von mir hinterher keine Rechtfertigung. Er vertraut mir, aber sagt, man müsse langfristig denken und Beschwerden seien gut, denn sie hälfen bei der Prozessoptimierung und außerdem, wäre so die Chance gegeben, dass wir den Gast nicht für immer verloren hätten. „Schade!“, sag ich trocken und er gibt mir einen Klapps. „Du musst positiver werden, David!“
Ich hab mich geärgert für fünf Minuten. Früher hätte mein Ärger tagelang angehalten. Wie gesagt, ich bin abgestumpft.
Kommentar von Pascal Schrenker
Und hier findet sich schon ein Beispiel zu dem was ich unter einen der Einträge zuvor geschrieben habe. Hau so einem Wichser einfach mal den Suppenteller ins Gesicht! Wehr‘ dich! Zeig ein bisschen Stolz! Auch wenn du da arbeitest, bist du immer noch ein Mensch mit menschlichen Gefühlen und wenn dich irgendwer unmenschlich behandelt, ist es dein gutes Recht, nein deine Pflicht, deiner Gesundheit zuliebe, dagegen zu schlagen.
Der Kern des Problems liegt natürlich in der Branche, in der du arbeitest. Gaststättengewerbe ist ein heuchlerisches Pflaster und du, mein Bruder, warst viel zu lange ein Rädchen in dieser Schleimscheißer-Maschinerie.
Du bist auch selbst schuld! Hättest du dich in der Schule mal angestrengt, hättest du das Gymnasium beenden und etwas studieren können. Aber du hast immer deine Hausaufgaben abgeschrieben von Idioten, die auf deine Schmeicheleien reingefallen sind. Trotzdem hast du ordentliche Noten kassiert. Du wusstest genau, dass du mit der Einstellung auf der Uni nicht überleben würdest. Es gibt viele Menschen, die studieren und eigentlich nicht die Klugheit besitzen. Du warst wohl das Gegenteil. Doch du wolltest einfach nur dein ganzes Leben lang faul sein und den einfachsten Weg gehen. Deswegen bist du die Schlampe von arroganten Business-Lunchern und versnobten Pelz-Trullas, denen kein Essen in keinem Restaurant der Welt jemals gut genug sein wird. Genau deswegen. Jeder kriegt, was er verdient.
Tagebucheintrag vom 24. August 2009
Oh dieser Alltagstrott! Jeden Tag frühmorgens aufstehen, ins Hotel fahren, den makellos gekleideten Konzern-Bonzen in die Augen mit Dollarzeichen blicken und einen guten Morgen wünschen. Wenn man grad dabei ist fragen, ob es Kaffee oder Tee sein darf und der Frühstücksdame ein entsprechendes Zeichen geben. Smalltalk mit den betuchten Damen führen, die verkaterten Azubis herumscheuchen und sie auf ihre Leichtsinnsfehler hin rügen, ständig selbst die Scheißarbeit machen – entweder weil viel los ist oder weil man die Moral bei den Untergebenen steigern will. Keine Zeit für die administrativen Aufgaben haben, deshalb Überstunden machen – unbezahlt versteht sich. Dann Übergabe mit irgendeiner Pfeife vom Nachmittagsteam machen und dabei noch Eine rauchen. Immer die gleichen Leute mit den gleichen Geschichten über die gleichen Bekannten und Freunde.
Ich muss raus, aber wohin? Ich kann nicht mehr studieren. Wie ein Opa sehe ich doch aus, wenn ich mich da in die Vorlesungen mit lauter 20-jährigen setze. Meinen Abschluss mache ich dann mit 30 und was sag ich dann den Leuten, die mit mir ein Vorstellungsgespräch machen? Dass ich nach meinem Abi zu faul war und lieber chillig ‘ne Hotelausbildung gemacht hab, bei der ich 20 Kilo zugenommen, mehrere zehntausend Haarwurzeln verloren und kein Buch gelesen habe. Ich persönlich kenne niemanden, der so spät noch studiert hat und nicht ein totaler Volltrottel war. Außerdem bringt meine Freundin in weniger als einem halben Jahr mein erstes Kind zur Welt. Wir brauchen Geld – jetzt ist also nicht die Zeit für schulische Spielereien. Ein anderes Hotel? Es wäre wohl kein Problem, etwas anderes zu finden. Doch was bringt das? Der eine Alltagstrott ersetzt den anderen.
Ins Ausland? Gleiche Gründe wie oben – ich werde bald Vater und: Unsere Familien wohnen hier und die können wir bei der Erziehung unseres Kindes gut gebrauchen. Irgendwo Quereinsteigen? Vielleicht! Aber als was? Lagerarbeiter? Bandmonteur? Naja, da muss man wenigstens niemandem in den Arsch kriechen, aber körperlich viel zu anstrengend für mich!
Kommentar von Pascal Schrenker
Du hörst einfach auf! Du stellst dir die richtigen Fragen, aber weil du nach zehn Sekunden keine Antwort gefunden hast, glaubst du, es gibt keine und gibst auf. Werfen wir doch mal einen kurzen Blick auf dein ganzes Wunderwerk Denken: Du warst 24 Jahre alt, als du das geschrieben hast und denkst, du wärst der Opa deines Studienganges. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wärst du bei einer normalen Uni über Durchschnitt, doch wie sieht es mit einer Fernuniversität oder -hochschule aus? Hier wärst du wahrscheinlich einer der Jüngeren gewesen. Für mich steht und stand schon immer fest: David, du bist faul und lügst nicht nur deine Mitmenschen, sondern in erster Linie dich selbst permanent an. Du hast keine Ambition zu lernen oder dich weiterzuentwickeln. Deswegen lamentierst du hier und bringst dich selbst in eine Position im Leben, die für dich bequem ist.
Du hast dir einfach die falsche Gewohnheit angeeignet und zwar jene, immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Das Problem ist nur, dass du dafür nicht clever genug bist und deshalb ständig zu unbequemen Umwegen gezwungen wurdest. Ab und zu muss man kämpfen, doch das hast du nie gelernt.
Tagebucheintrag vom 26. August 2009
Ich habe heute mit Pablo geredet. Seit längerem weiß ich, dass er vorhat, zurück in seine Heimat zu gehen, um dort mit seinem Bruder ein Hotel zu eröffnen. „Eigener Chef im Paradies“, sagt er. „Schönste Hotel von Ort! Tolle Lage! Nur Beste von Beste! Riesige Pool, Marmor, Mahagoni! Premium! Komm dann nur, ich gebe dir Job, Tio!“ Sein Bruder hat Geld und Pablo hat die Erfahrung. Das Hotel haben Sie schon gekauft und die Komplettsanierung ist in vollem Gange. Pablo macht einen Haufen Umsatz bei uns in der Spätschicht und die Geschäftsführung war ganz schön erschüttert, als er ihnen gesagt hat, dass er wegen seiner Abendschule (sein Bruder verlangt, dass er einen Wisch hat, bevor er das Hotel leitet) in die Frühschicht wechseln muss. Irgendjemand muss mit ihm tauschen, doch Karina versteht nicht, warum ich das tun möchte.
„Dann bist du abends immer weg!“
„Sei vernünftig! Du willst ja auch wieder arbeiten und so ist immer jemand zu Hause, um auf das Baby aufzupassen! Und mit dem Trinkgeld haben wir fast schon unsere Lebensmittel wieder drin.“
„Hast ja Recht! Ich denke nur manchmal… Es ist halt schön, am Abend zusammen zu sein.“
„Wir müssen pragmatisch denken. Ich will unserem Kind eine bessere Ausbildung als mir ermöglichen, deswegen…“
„Du hättest auch eine bessere Ausbildung machen können, wenn du gewollt hättest.“ Noch während sie es aussprach, sah ich, wie sie zusammenzuckte. Das ist mein empfindlicher Punkt.
„Auf jeden Fall tausche ich mit Pablo, wenn es geht!“ so beendete ich das Gespräch.
Kommentar von Pascal Schrenker
Werden Gefühle verletzt? Natürlich! Doch anstatt immer gleich bockig zuzumachen, hättest du Kritik hin und wieder annehmen sollen. Zumal du wusstest, dass Karina Recht hatte und sie das ebenfalls wusste. Trotzdem sprach sie das Thema „Nichtgenutztes Potential“ nur versehentlich an (zumindest würde es mich wundern, wenn es kein Ausrutscher gewesen wäre). Du wolltest immer nur deinen Stolz schützen und hast deswegen wahre Dinge nie angenommen. Wenn man das nämlich tut, muss man auch seine Konsequenzen daraus ziehen. Und diese wären mit Arbeit, Fleiß und Anstrengung verbunden. Dein Komfort hätte zweifellos darunter gelitten.
Tagebucheintrag vom 7. September 2009
Als wir heute im Bett lagen – ich hab‘ mir noch eine Folge Stromberg reingezogen und Karina hat gelesen – klappte sie ihr Buch plötzlich zu und drückte bei meinem Laptop auf Pause. Sofort war mir klar, dass sie irgendwas ausgebrütet hatte.
„Vielleicht sollten wir heiraten?“
Ich reagierte verdutzt, denn sie war nie ein großer Fan des Heiratens gewesen und ich hielt es sowieso für ein überflüssiges Zeremoniell.
Irgendeine Bekannte hat Karina vom Stress erzählt, den sie und ihr Mann wegen des Sorgerechts hatte. Auch wegen der Steuer sei es sinnvoll zu heiraten, meinte sie und folgte damit dem Rat ihrer Mutter. „Vor allem wenn ich dann recht früh wieder arbeiten gehe.“
„Willst du das?“, fragte ich sie und schaute sie ernst an.
„Naja, ich weiß nicht, ob ich unbedingt will, aber ich muss ja fast. Außer du…“
„Ja ja, außer ich finde ‘nen gescheiten Job bei dem ich ordentlich Geld verdiene.“ Ich konnte mir nicht helfen und wurde bockig…
Sie entschuldigte sich, aber ich wusste, dass sie das nur tat, weil sie die Diskussion weiterführen wollte und nicht weil es ihr wirklich leid tat.
„Vielleicht sollten wir uns mal vernünftig informieren, bevor wir irgendwas machen, was irgendwelche altmodischen Leute dir eingeredet haben“, blaffte ich sie an. „Nur wegen so einem dummen Wisch ändert sich doch nichts!“
„Warum wäre es eigentlich so schlimm, mich zu heiraten? Ich meine, wenn du mit mir zusammen sein und mit mir gemeinsam ein Kind großziehen willst, ist es doch andererseits auch scheißegal, wenn wir diesen Wisch haben. Vor allem, wenn uns dieser Wisch finanzielle Vorteile bringt. Eigentlich wäre das ja nur vernünftig! Kein Mensch spricht von Kirche oder einer großen Feier. Das will ich auch nicht!“
Sie hat nicht Unrecht und weil der einzige plausible Grund in dem Moment, sie nicht zu heiraten, der ist, dass ich einfach nicht will, legte ich mich mit einem „Wir reden morgen!“, schlafen.
Kommentar von Pascal Schrenker
Du hast unangenehme Wahrheiten noch nie angesprochen. Leute wären vielleicht wütend geworden und der Hitze solcher Momente wolltest du dich grundsätzlich nicht aussetzen. Du bist schon immer ein harmoniebedürftiger Mensch gewesen und das hat stets zu deiner Beliebtheit beigetragen, dich aber auch vor Probleme gestellt. Zum Beispiel damals, als Mama diese hässlichen Schuhe für dich aussuchte: Sie war schon kurz vor dem Durchdrehen, weil sie den Nachmittag über mit zwei Teenagern durch die Stadt gewetzt war. Um das Fass nicht zum Überlaufen zu bringen, hast du die ersten Schuhe, die sie dir vorschlug, genommen. Natürlich hattest du nie vor sie zu tragen. Deshalb war dein Plan, etwas mit deinem Kumpel Knoll auszumachen, dessen Familie diesen nervtötenden Hund hatte. Am Morgen bist du dann mit den blütendweißen Schuhen aus dem Haus, nur um sie, als du ums Eck warst, mit den alten zu tauschen. Bevor du vom Knoll wieder nach Hause kamst, hast du die Schuhe mit einer stumpfen Zange zerfetzt und Mama erzählt, dass Knolls Hund daran Schuld war. Dieser Plan hielt solange, bis Mama bei den Knolls anrief und seine Mutter sich äußerst überrascht über die Anschuldigungen zeigte.