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Gelernt hast du aber nie aus solchen Vorfällen. Das ist nur eines von vielen Beispielen, in denen du viel Energie verwendet und lange Umwege gegangen bist, um das Boot nicht zum Schaukeln zu bringen. Allerdings hatte das oft zur Folge, dass du danach mit noch schlimmeren Konsequenzen konfrontiert worden bist.
Tagebucheintrag vom 12. September 2009
Nach Tagen des Grübelns habe ich mich entschlossen, Karina Bescheid zu geben, dass wir heiraten können. Sie hat ja Recht: Was spricht dagegen? Ich kann es nicht begründen, warum ich nicht will. Ich müsste sagen, dass ich mir nicht vorstellen kann, mit ihr mein Leben zu verbringen, aber irgendwie weiß ich auch nicht, ob das stimmt. Das ist nur so ein Gefühl und eigentlich will ich keiner sein, der mit 60 vier Scheidungen hinter sich hat. Das sind die größten Trottel!
Auf der anderen Seite verbindet uns diese Hochzeit auch mehr, vielleicht bringt sie uns einander näher. Das ist nur Gefühlsduselei, ich weiß. Begründen kann ich diese Hoffnung nicht. Wahrscheinlich rede ich mir auch nur irgendwelche Sachen ein, damit ich dem Ganzen positiver gegenüberstehen kann.
Es kann auch sein, dass ich der Ehe gegenüber negativ eingestellt bin, weil ich dabei das Bild meiner Eltern vor mir sehe. Dieses lieblose, pragmatische Leben, diese gefühlslose Allianz. Alles wird nach Schema-F gemacht, typisch bürgerlich halt…
Auf jeden Fall habe ich beim Abendessen zu Karina gesagt: „Lass uns heiraten. Warum nicht?“ In vier Tagen hat keiner von uns mehr ein Wort dazu verloren und ich glaube, dass ich sie mit meiner Aussage ebenso überrascht habe, wie sie mich neulich mit ihrem „Vielleicht sollten wir heiraten!“
Entsprechend reserviert reagierte sie. „OK“, das war’s erstmal, aber fünf Minuten später fragte sie: „Bist du dir sicher?“ und ich antwortete: „Du hast Recht, es spricht nichts dagegen!“
Sie wirkte enttäuscht, obwohl sie sagte, dass alles in Ordnung sei. Kurz darauf nahm sie eine Dusche und legte sich anschließend ins Bett.
Kommentar von Pascal Schrenker
Du hattest immer ein gutes Gefühl für Menschen, deshalb wusstest du sicher auch, was Karina störte. Sie war enttäuscht, weil du sie aus praktischen Gründen und nicht aus Liebe heiraten wolltest. Zumindest kam das, deinen Schilderungen zufolge so bei ihr an. Selbstverständlich war es ihr Vorschlag, den sie mit praktischen Argumenten gefestigt hat, doch tief im Inneren wollte sie von dir hofiert werden. Jede Frau steht auf Romantik – egal, was sie sagen. Jede Frau will sich einmal im Leben als Prinzessin fühlen.
Mir wird’s schon ganz schummerig, dass ich mich hier als Frauenversteher aufspielen muss - normalerweise ist das dein Metier. Andererseits hatte ich schon oft was mit Frauen, denen Romantik angeblich egal war. Wenn sie dann glauben, den Mann an der Angel zu haben, bröckelt die coole Fassade allmählich…
Tagebucheintrag vom 11. November 2009
Drei Tage sind seit der Hochzeit vergangen. Die Feier war sicher nichts Besonderes, aber zu unserer Verteidigung: Wir hatten nicht viel Planungszeit und so musste die Location, das Essen, das Kleid, die Einladungen und das ganze andere Zeug sehr spontan organisiert werden. Karina wollte so schnell wie möglich heiraten, weil ihr Bauch immer runder wurde und sie Angst hatte, in ihrem Kleid fett auszusehen. Dieses war wegen der Spontanität nicht wirklich auf sie zugeschnitten und das wurmte sie obendrein.
Neben unseren Familien waren nur ein paar Freunde da. Keiner war besoffen, keiner fiel in den Kuchen, es gab auf unseren Wunsch hin keine Einlagen. Es war kein DJ und auch keine Band da. Stattdessen sorgten mein Laptop und Knolls Dolby Surround Anlage für die musikalische Untermalung.
Karina legt keinen Wert auf große Zeremonien, deswegen denke ich nicht, dass sie wegen des kleinen Rahmens gereizt war. Das war sie nämlich auf jeden Fall. Ob es die Anwesenden, die sie nicht so gut kennen wie ich, merkten, weiß ich gar nicht. Ihre Stimmung könnte auch von meiner beeinflusst worden sein, die sicher auch nicht überragend war. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen und den ganzen Tag einen auf glücklich zu machen. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass sie keinen Alkohol trinken durfte und eine alkoholgeschwängerte Atmosphäre für Nüchterne eher schwer verdaulich ist.
Irgendwelche dummen Traditionen wie das gemeinsame Kuchenaufschneiden oder das Brautstraußschmeißen wollten wir uns eigentlich schenken, doch der Knoll und seine Freundin bestanden zumindest auf Letzteres. Wahrscheinlich hatte sie auf ihn eingeredet, weil sie den Strauß fangen wollte, was sie dann auch tat. Mich würde es nicht wundern, wenn sie ihm das jetzt als einen Wink des Schicksals verkauft, bis er nachgibt und sie wirklich heiratet, wodurch ihre erste große Mission im Leben erfüllt wäre – nämlich einen guten Versorger zu heiraten.
Ich war froh, als der Tag endlich vorbei war. Im Bett wollte ich witzig sein und sagte zu Karina: „Merk ihn dir! Das war der schönste Tag deines Lebens!“ Sie verstand die Ironie nicht oder war zu müde – auf jeden Fall lächelte sie nicht mal, sondern verdrehte nur die Augen. Unsere Hochzeitsnacht war entsprechend leidenschaftslos: Wir schliefen beide auf unseren jeweiligen Seiten des Bettes ein. Ich fand das sicher nicht schlimm. Ganz ehrlich: Wessen Hochzeitsnacht nimmt denn schon solch märchenhafte Formen an, wie es uns Lifestyle-Blogs oder Romantikfilme vorspielen? Beide sind mindestens angetrunken, beide sind völlig ausgelaugt nach dem langen Tag, beide schwitzen und stinken unter ihrem Hochzeitszwirn, und dann macht man sich wegen den Erwartungen vielleicht noch so kirre, dass die Libido sowieso eintrocknet…
Kommentar von Pascal Schrenker
Auch hier liest man heraus, dass die ganze Hochzeit nichts als eine Bürde für dich war. Die pure Langeweile! Zeitverschwendung! Aber wofür hättest du die Zeit denn stattdessen genutzt? Welch großes Abenteuer entging dir dadurch? Ich kenne dich, du warst nie ein vielbeschäftigter Mann. Du wolltest dich nur nicht diesem Zeremoniell aussetzen, weil du befürchtet hast, den ganzen Tag beobachtet zu werden. Und vielleicht hätte jemand bemerkt, dass du Karina in Wirklichkeit gar nicht hast heiraten wollen. Wenn ich dich beruhigen darf: Keine hat’s gemerkt. Und alle Leute, die ich gefragt habe, fanden die Hochzeit schön. Keiner fand sie so trist und langweilig, wie du sie hier darstellst. Vielleicht wolltest du dein schlechtes Gefühl den Umständen in die Schuhe schieben, weil das angenehmer ist, als die eigene Intention zu hinterfragen.
Tagebucheintrag vom 1. Dezember 2009
Ich wollte eigentlich gar keine Hochzeitsreise machen. „Ist doch auch nur Teil dieses ganzen gesellschaftlich erwarteten Zeremoniells“, hab ich gesagt und außerdem ist Karina fast schon im siebten Monat.
Es sei aber schön, die Zeit, die man noch zu zweit hat, dafür zu nutzen, wenigstens für ein paar Tage wegzufahren. „Wer weiß, wann wir das das nächste Mal machen können?“ Schwer, ihr hierbei zu widersprechen, auch wenn ich es mit dem Kostenargument zumindest versuchte. Auch Theo hatte mir eine Auszeit nahegelegt, bevor ich dann in die Spätschicht wechselte – also fuhren wir für ein paar Tage nach Südtirol.
Es war gar nicht schlecht, doch wirklich aktiv konnten wir nicht werden, weil Karina sich mit der Kugel vor dem Bauch schon recht schwer tat, aber wir haben Wellness gemacht, Filme geschaut und im Hotel gab’s echt gutes Essen. Wegen ihrer Schwangerschaft durfte sie das Saunieren nicht übertreiben, deswegen war ich einige Male auch alleine drin, während sie noch etwas gelesen oder Sudokus gelöst hat.
Karina bekam am letzten Abend fürchterliche Weinkrämpfe, die sie am nächsten Tag auf ihre Hormone schob. Als ich ein wenig nachbohrte, gestand sie mir aber auch, dass sie mit der Hochzeit nicht glücklich war.
„Die Stimmung war doch scheiße. Jetzt halten uns alle für unglaublich langweilig. Und sie denken, dass wir geizig sind. Oder noch schlimmer: arm. So arm, dass wir vielleicht unser Kind gar nicht versorgen können.“
„Es sind definitiv die Hormone“, lachte ich, „denn früher hätte dich das nicht interessiert.“
Sie verpasste mir einen auf die Brust und sagte: „Du nimmst mich nie ernst!“ Erst dachte ich, sie macht Spaß, doch anschließend wurde sie ganz still und antwortete nur noch einsilbig. Auf meine Frage, was mit ihr los sei, sagte sie: „Alles in Ordnung!“
Kommentar von Pascal Schrenker
Es ist dein ganzes Desinteresse an der Hochzeit und allem, was damit zusammenhängt. Das nervt sie. Weil sie mit dem Kind im Bauch ein bisschen eingeschränkt ist, ist sie auf dich und deine Unterstützung angewiesen. Du denkst aber nicht daran, was sie will, sondern nur daran, wie für dich alles am bequemsten von Statten geht. Auch im Urlaub hättest du dir ein bisschen Mühe geben können. Vielleicht hat sie auf ein bisschen Romantik gehofft, eine kleine Überraschung. Vielleicht wollte sie nicht nur Filme schauen und im Zimmer rumgammeln. Vielleicht hat sie gesagt, mit der Hochzeit nicht glücklich zu sein, aber in Wirklichkeit gemeint, dass sie mit der Entscheidung, mit dir eine Familie zu gründen, nicht glücklich ist.
Tagebucheintrag vom 11. Dezember 2009
Diese Abteilungsleitermeetings… Das Jahr nähert sich dem Ende, bald beginnt die Winterurlaubszeit und deswegen wird jetzt nochmal „Business“ geredet.
Die Frau Dr. saß wie immer an der Stirnseite mit gerunzelter Stirn über zusammengekniffenen Augen und lauschte den einzelnen Quartalsumsatzberichte. Jede/n der Vorträgerinnen und Vorträger durchdrang bei jedem Blickkontakt mit Frau Dr. fröstelnde Angst. Völlig unabhängig von den Zahlen, die man präsentiert und ungeachtet der Tatsache, dass sie ihn selten ausspricht, fühlt man ihren Vorwurf: „Warum so wenig?“
Ich und die anderen älteren Hasen sind es inzwischen gewohnt. Wir können diese Meetings innerhalb weniger Tage verdauen, aber die Neuen, die werden noch die nächsten drei Wochen den kalten Atem von Frau Dr. im Nacken spüren. Sie ist höflich zu jeder und jedem, kennt unsere Namen… Aber das war’s auch schon. Ihr dezenter österreichischer Akzent verleiht ihren Aussagen einen würdevollen Elan und einen seltsamen Magnetismus. Ihre Worte haften lange im Gedächtnis und man brütet über den Worten, die sie gesagt hat. Denn sie kritisiert nicht, wie ein Maurermeister seinen Gesellen, sie lobt kühl und mit Bedacht und erwartet, dass man aus dem Lob die Kritik herausschält und wer das nicht schafft und darauf nicht entsprechend reagiert, der erhält die Quittung in Form einer offiziellen Degradierung oder eines von ihr inszenierten Putsches durch einen ambitionierten Emporkömmling. Die neuen Abteilungsleiter wissen das nicht, selbst dann oft nicht, wenn sie zuvor schon in niedrigeren Positionen für sie gearbeitet haben.
Für die Mitarbeiter in der untersten Hierarchiestufe scheint sie Sympathie zu haben. Eine gönnerhafte Sympathie, die wahrscheinlich daher rührt, dass sie in den tiefsten Öden des Salzburger Berglandes aufwuchs, in einem Skikaff, das im Winter von Touristen überlaufen und im Sommer nur von Heuballen und einfachen Bergbauern bevölkert ist. Doch sie ist keine Bauerntochter, sondern eine Hotelerbin, des ersten Superior Luxus Premium 5 Sterne Deluxe Hauses (oder so ähnlich) in ganz Provinz-Österreich. Wurde in eine Gastwirt-Familie hineingeboren, von Eltern erzogen, die nach Pfarrer und Volksschullehrer die angesehensten Menschen im Ort waren, das Geld in die Wiege gelegt, genauso wie die Arbeitsmoral, den Sinn für Ordnung und das Auge fürs Detail. Wurde auf die Universität Salzburg geschickt, als junge Frau, in den 70ern ein Novum und die einzige Person, die irgendjemand in dem Ort kannte, die als sie dann zurückkehrte, ein Diplom an der Wand hängen hatte – in Betriebswirtschaft. Ihr Ruf stand fest – keiner bezweifelte, dass sie die klügste Person im Gasteinertal war und weil die Leute eh nix und niemanden darüber hinaus kannten, der klügste Mensch Österreichs nach Kanzler und Präsident.
Ich nehme an, sie hat sich schon in einem sehr jungen Alter wie jemand Besonderes gefühlt. Sprössling einer Promifamilie sozusagen… Dabei spielte es wahrscheinlich keine Rolle, dass sich ihre Bekanntheit auf lokale Kreise beschränkte. Sicher saß sie bei örtlichen Vereinsfesten oder Versammlungen immer in der ersten Reihe, obwohl sie grundsätzlich 10 Minuten zu spät kam – die Plätze wurden immer für sie freigehalten. Sie bekam immer, was sie wollte und jeder im Dorf sollte sehen, das sie da war – ein Einzug fast wie bei der WWE, nur die Musik fehlte… Ich fantasiere schon, aber ich will ihr Gehabe und ihr Auftreten verstehen, um sie nicht so sehr zu verachten. Warum sie jene die ganz unten im Organigramm verhätschelt und die, die in der Mitte stehen so kaltherzig behandelt – das will ich verstehen.
Kommentar von Pascal Schrenker
Damit endet dein Eintrag?!? Ein bisschen symptomatisch ist das schon für dich! Du warst nie in der Lage, irgendwo hartnäckig dran zu bleiben oder etwas ernsthaft zu hinterfragen. Alle deine etwas anspruchsvolleren Gedanken fransen aus wie schlechtes Haar. Nicht dass dieser Eintrag besonders tiefsinnig wäre – das will ich damit nicht sagen, aber immerhin meinst du einen Zusammenhang zwischen der Herkunft deiner Chefin und ihrer Sympathie für das gemeine „Fußvolk“ erkannt zu haben. Bevor du aber entschlüsselt hast, wie dieser Zusammenhang genau aussieht, hörst du schon wieder zu schreiben auf. Dein Eintrag bleibt ohne Fazit stehen – genauso wie dein Leben. Abwarten und mal schauen! Ist das dein Motto? Wie kann man so leben? So in der Schwebe, so unkoordiniert, und vor allem so passiv. Genau: Passivität ist die zentrale Charakteristik deines Wesens, die man nicht nur aus diesem Eintrag herausliest. Du bist ein Geschöpf, das keinen Kampfgeist in sich trägt, keinen Biss, du ergibst dich deinem Schicksal und jammerst darüber. Genießt du es insgeheim ein Opfer zu sein? Oder kennst du es einfach nicht anders?
Die Verachtung für deine Chefin ist kaum zu überlesen, doch du, ebenso wie die anderen Lämmer in ähnlichen Positionen wehrst dich nicht, sondern lästerst nur hinter dem Rücken deiner Meisterin über sie. Ich habe nie verstanden, wie Angestellte oder Arbeiter so dumm sein und nicht erkennen können, dass sie gebündelt viel mehr Macht haben, als jeder Vorstand oder Firmendirektor. Dafür brauche ich nicht in der Gewerkschaft sitzen! Wie geprügelte Hunde duckt ihr euch durchs Leben und je mehr dabei eure Seele stirbt, desto weiter entfernt ihr euch vom Glück!
Tagebucheintrag vom 26. Dezember 2009
Weihnachten, das Fest der Familie, verstärkt meine Furcht davor, selbst bald Familienvater zu sein. Es war mir nicht klar, dass ein Mensch so viel Angst empfinden kann. Seit dem ersten Tag, an dem ich erfuhr, dass ich Vater werde, habe ich Angst. Seit ich weiß, dass wir einen Sohn erwarten, konkretisiert sich meine Furcht – als es noch „nur“ ein Baby war, wirkte sie in so weiter Ferne.
Wie halte ich ihn, ohne ihm wehzutun? Was, wenn ich ihn falsch berühre und irgendetwas verletze? Was, wenn er mir durch die Hände rutscht? Was, wenn ich krank bin und ihn anstecke? Was wenn er nicht aufhört zu schreien? Was, wenn er auf der Couch liegt und die Türklingel läutet, ich aufmache und irgendwas Schlimmes passiert ist, wenn ich zurückkehre? Was, wenn er bei uns im Bett schläft und ich ihn mit meinem Gewicht erdrücke. Was, wenn ich am Frühstückstisch sitze, er auf meinem Schoß sitzt und die Kaffeetasse über sich drüber kippt? Was, wenn er uns nie schlafen lässt und ich ihn deshalb zu hassen beginne? Wie schneiden wir seine winzigen Fingernägel, ohne ihn zu verletzen? Wie bade ich ihn, ohne ihn versehentlich ertrinken zu lassen. Wie ziehen wir ihn nicht zu warm und nicht zu kalt an? Woher soll ich wissen, was er essen darf und was nicht? Kann ich je mit ihm auf den Spielplatz gehen und ihn allein auf die Rutsche steigen lassen? Wird er früh laufen und reden oder so hinterher sein, dass schon früh der Gedanke in mir gedeiht, ein Trottelkind zu haben? Können wir ihn uns überhaupt leisten? Wird es keine Freunde im Kindergarten haben, nur weil wir ihm Second-Hand-Laden Klamotten kaufen müssen? Werde ich ihn überhaupt schimpfen können? Werde ich je nicht nachgeben können, wenn er etwas von mir möchte?
Ich weiß, vieles ist Routine, aber ich weiß auch, dass ich Fehler machen werde, vor allem am Anfang! Und ich habe Angst, dass mein Kind genauso verkorkst sein wird wie ich!
Kommentar von Pascal Schrenker
Ich kann dir kaum vorwerfen, dass du Angst vor solchen Dingen hattest. Jeder Mann hat wahrscheinlich Angst vor der Vaterschaft. Die wenigsten werden es zeigen und auch bei dir habe ich niemals Anzeichen von Ängstlichkeit beobachtet. Allerdings bin ich der Meinung, dass du aktiv nach Antworten auf deine Fragen hättest suchen können: Bekannte mit Kindern um Tipps bitten, Bücher kaufen, Lehrvideos anschauen, die Hebamme anrufen oder oder… Du hast das nicht gemacht, oder? Falls doch, habe ich davon zumindest nichts mitbekommen, nichts gehört, nicht von dir, nicht von Dritten. Und in diesem Tagebuch steht dazu auch kein Wort… Bereits zum Zeitpunkt dieses Eintrags, also schon zwei Monate vor Luis Geburt, hast du aufgegeben, bevor es überhaupt losging, die Flinte ins Korn geworfen.
Tagebucheintrag vom 11. Januar 2010
Heute habe ich eine Lebensversicherung abgeschlossen. Wenn mir etwas passiert, weiß ich, dass es meinem Sohn und Karina gut geht. Ich habe Karina nichts davon erzählt. Nicht weil es mir an Vertrauen mangelt, sondern da ich weiß, dass sie mir nicht so danken würde, wie ich es erwarte. Sie wäre eher geschockt und würde fragen, ob ich mich umbringen wolle und sagen: „Ich will gar nicht dran denken!“
Deshalb habe ich es verschwiegen. Sie wird es eh nicht merken, denn die 300 Euro werden nicht von unserem Gemeinschaftskonto abgehen, sondern von meinem eigenen. Ich werde es dagegen schon merken, denn viel bleibt dann jeden Monat nicht mehr übrig.
Nachdem ich bei der Versicherung fertig war, geisterte ich noch ein wenig in der Stadt umher. Karina dachte, ich sei beim Knoll, Playstation zocken. Sie erwartete mich erst spätabends zurück. Ich hatte keine Lust nach Hause zu kommen – sie ist zurzeit sehr reizbar. Wobei ich mich nicht beschweren kann! Man stelle sich nur mal vor, mit der Alten vom Knoll zusammen sein zu müssen… Der muss um Erlaubnis fragen, wenn er Playstation zocken will. Die dreht ihm ja fast den Kragen rum, wenn sie ihn mit dem Controller in der Hand erwischt: „Du bist kein kleines Kind mehr! Werd‘ erwachsen!“
Besonders scharf drauf, bei ihm zu Hause rumzuhängen, war ich also eh nicht, weshalb ich einfach so durch den Stadtpark schlenderte. Am Fluss genoss ich die letzten Züge des Altweibersommers. Sonnenschein, vereinzelte goldene Blätter an den Bäumen, milde 20 Grad und jungen Frauen, die ihre kurzen Röcken ein letztes Mal für dieses Jahr ausführten. Nach einer halben Stunde machte ich mich auf den Heimweg.
Noch bevor ich einen Fuß in die Wohnung setzte, roch ich den Gestank von Sandelholz und hörte den dumpfen Klang des Fernsehers. „Warum nimmst du denn die Meditations-Stäbchen, wenn du nicht mal meditierst?", ist eine Frage, die ich früher gestellt habe. Jetzt nicht mehr. Auch „Warum läuft der Fernseher eigentlich, wenn du nicht reinschaust?“, frage ich nur noch ganz still in meinem Inneren, während mein Blick auf den Fortschritt ihres Sudoku-Rätsels schweift. Wir haben uns da ganz bequem arrangiert. Ich pisse ihr nicht auf den Fuß und sie mir nicht. So streiten wir nicht mehr. Das ist gut. Wahrscheinlich…
Kommentar von Pascal Schrenker
Hier finden wir das erste große Indiz dafür, dass dein Verschwinden von langer Hand geplant war: Mein Bruder denkt an Altersvorsorge? Ich bitte dich! Du bist immer schon ein Kerl gewesen, der Dokumente, wie Kontoauszüge oder Lohnabrechnungen lose in einem College-Block sammelte, der grundsätzlich zu allen Terminen zu spät kam und manchmal sogar Verabredungen komplett vergaß. Nie hattest du ein Geburtstagsgeschenk und wenn wir Filme anschauten, ist dir erst nach einer halben Stunde aufgefallen, dass du ihn bereits gesehen hast.
Du bist keiner von der organisierten Sorte, keiner, der, bevor er dreißig ist, eine Lebensversicherung abschließt, vor allem dann nicht, wenn er eh so wenig verdient wie du… Das einzige, das du in deinem Leben je an Organisatorischem gestemmt hast, war das Vortäuschen deines eigenen Todes. Das ist wahrscheinlich genau der Trick an der Sache. Kein Mensch, der dich kennt, traut dir so einen Coup zu!
Tagebucheintrag vom 04. März 2010
Vor vier Tagen, am 28. Februar kam mein Sohn zur Welt, zwei Tage nach dem geplanten Termin. Wir gaben ihm den Namen Luis, nach Karinas kürzlich verstorbenen Großvater Lutz. Mir war der Name egal, ich hab nur gesagt: „Hauptsache, er ist gesund!“
Von vielen Menschen wird so eine Geburt als Wunder bezeichnet. Ich bin mir da nicht so sicher, schließlich kommen auf der Welt täglich ca. 15.000 Babys zur Welt – ich hab‘s gegoogelt… Weil man jedoch selbst eher selten Vater oder Mutter wird, empfindet man die Vorstellung an eine Geburt vielleicht als ein Wunder. Oder die Leute, die von Wunder sprechen, sehen nur die abstrakten Aspekte einer Geburt: Zwei Leben verbinden sich und schaffen neues Leben… oder so was in die Richtung.
Wenn man aber ganz konkret eine Geburt erlebt, das Blut und den Schleim, das Scheppern der Instrumente, die Schreie, die Schweißausdünstungen, der Eisengeruch, die Unruhe, die Hektik… Schwer zu glauben, dass sich so ein Wunder anfühlt! Zum Glück verlief alles ohne Probleme, nach zwei Tagen wurden die beiden schon nach Hause geschickt. Er schreit wenig und schläft so gut wie immer. Wenn ich ihn auf meinen Arm nehme, muss ich seinen Kopf halten, damit dieser nicht nach unten kippt. Seine geschürzten Lippen und die dicken Backen scheinen mich jeden Moment anprusten zu wollen. Ich kann trotzdem nicht sagen, dass ich ihn süße finde. Er hat ganz verkrustete Äuglein und seine Kopfhaut ist schuppig, was nicht ungewöhnlich ist, wie die Hebamme sagt. Ein frisch geschlüpftes Baby ist doch nie wirklich niedlich, da müssen doch erst ein paar Wochen vergehen. Obwohl seine Haut so weich ist und die Finger so winzig, dass man schon ein wenig zu Tränen gerührt ist.
Alles in allem war ich dann aber ganz froh, als ich nach der Geburt wieder nach Hause konnte. Hab mich erst mal unter die Dusche gestellt und den Abend ganz für mich allein genossen, indem ich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt und mir bei Sky „Alle Spiele, alle Tore“ reingezogen habe.
Kommentar von Pascal Schrenker
Für mich klingt das so, als hättest du dich nur mäßig über die Geburt deines Sohnes gefreut. Er ist ein Teil von dir. Ist das nicht Wunder genug? Stattdessen stellst du nur die ekligen Aspekte der Geburt heraus. Du kannst dir nicht mal ein wenig Zeit nehmen und dir einen Namen für deinen Sohn überlegen oder dich aktiv an einer Diskussion diesbezüglich engagieren. Das interessiert dich alles nicht. Dein Sohn wird vielleicht gehänselt, wenn der Name unglücklich gewählt ist, bekommt vielleicht einen Spitznamen, unter dem er sein Leben lang leidet. Und dich interessiert es nicht… Was sagt einem das? Vielleicht, dass du mit den Herausforderungen einer Vaterschaft konfrontiert den Schwanz einziehst. Vielleicht, dass du keine Verantwortung übernehmen kannst und willst. Vielleicht, dass du eine höchst ungesunde Psyche besitzt. Vielleicht, dass du ein Egoist bist…
Tagebucheintrag vom 27. April 2010
Heute hat mich Karina wahrscheinlich zum ersten Mal in unserem gemeinsamen Leben so richtig angeschrien. Und ich hab‘ zurückgeschrien.
Wie kam’s dazu: Ich war auf dem Sprung zur Arbeit als ich roch, dass Luis in die Windel geschissen hatte. Karina war im Bad also rief ich vom Wohnzimmer rüber: „Kannst du seine Windel wechseln?“ Das war alles… Warum sie deshalb so wütend wurde, verstehe ich bis jetzt nicht. Sie kam aus dem Bad herausgestürmt, mit weißen Knöcheln und Feuer in den Augen, hob Luis auf, ging mit ihm ins Schlafzimmer, kam ohne ihn zurück, schloss die Tür und tobte los: „Für wen zum Teufel hältst du dich eigentlich, du faules Arschloch! Und für wen hältst du mich? Für deine Sklavin? Wir sind nicht mehr in den 60ern! Wie hast du dir das vorgestellt? Du verpisst dich einfach immer? Hast du dir das so gedacht?"