Im Schatten des Feldmarschalls: Geschichten aus dem Powder-Mage-Universum

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Ihr Säbel schnitt drei Finger von der rechten Hand des Privilegierten ab. Er schrie, und sie schlug mit voller Kraft zu. Die Klinge traf den Privilegierten an der Schulter, und er wurde von der Wucht des Hiebs umgeworfen. Mit einem Ruck riss sie die Klinge los, dann stach sie ihm damit durch das Herz.
Sie stolperte wieder und fiel fast hin. Der Schmerz an ihrem Oberschenkel war unerträglich. Vor ihrem inneren Auge konnte sie die verbrannte und verkohlte Haut und das entstellte Fleisch sehen. Sie wagte es nicht, sich die Wunde anzusehen, aus Angst, ihren Kampfgeist zu verlieren.
Als sie zurückschaute, sah sie, wie Constaire in der Bresche auftauchte. Hinter ihm stürmte die zweite Angriffswelle mit aufgepflanzten Bajonetten in die Festung, vorbei an den Toten und Verwundeten, um den Innenhof zu sichern und den Weg zur Straße frei zu kämpfen.
Constaire fing sie just in dem Moment, als sie fiel. Er starrte erst sie an, dann die Leiche zu ihren Füßen.
»Du hast einen Privilegierten getötet!«
»Ich …« Verundish wusste nicht, was sie sagen sollte. Anscheinend hatte sie versagt in ihrem Vorhaben, zu sterben. Sie wusste, dass sie nicht mehr sterben wollte, aber wie konnte sie ihr kleines Mädchen retten?
Sie bemerkte etwas aus dem Augenwinkel und schaute hoch. Die Gurlaner waren wieder auf den Mauern über ihnen, auf beiden Seiten der Bresche. Sie hatten den Höhenvorteil, und während sie zuschaute, eröffneten sie das Feuer auf die zweite Angriffswelle der Adroner.
»Runter!«, sagte sie zu Constaire.
»Wir wehren sie ab. Zu den Treppen, Männer!« Er entfernte sich von ihr und zog sein Schwert.
Verdammter Narr. Du wirst tot sein, bevor du die Treppen erreichst.
Ein Lichtblitz oben auf der Mauer machte Verundish auf eine weitere Privilegierte aufmerksam. Verundish hustete ein Lachen. Es war alles so unnütz. Diese verdammte Magierin würde das gesamte Himmelfahrtskommando und die zweite Angriffswelle auslöschen.
Die Privilegierte erhob ihre behandschuhten Hände.
Ihr Kopf explodierte in einer Blutfontäne. Es war so brutal, dass Verundish zusammenzuckte, obwohl es gute dreißig Schritt entfernt von ihr passierte. Der Körper der Privilegierten sackte zusammen, und von den Gurlanern auf den Mauern ertönten entsetzte Schreie.
Aus den Reihen der adronischen Soldaten kam eine Gestalt mit einer rauchenden Pistole in der Hand hervorgerannt. Sie erklomm den Schutt, der nach oben auf die Mauer führte, beinahe ohne an Tempo einzubüßen. Der Degen der Gestalt blitzte auf, als sie sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf die gurlischen Soldaten stürzte.
Verundish konnte ihren Augen kaum trauen. War das ein Dämon aus der Grube? Ein Engel, den Kresimir geschickt hatte?
Die Gestalt machte eine Geste mit einer Hand; plötzlich explodierten die Pulverhörner von einem Dutzend gurlischer Infanteristen und töteten ihre Besitzer.
Bei der plötzlichen Erkenntnis kamen ihr die Tränen: Das war kein Engel oder Dämon.
Das war ein Pulvermagier.
General Tamas hatte seine Befehle ignoriert und sich mit in die Schlacht gestürzt.
Endlich übermannte sie der Schmerz, und Verundish ließ ihren Kopf auf die kühlen Steinplatten des Innenhofs sinken.

Verundish erwachte in einem ihr fremden Zimmer.
Nichts kam ihr bekannt vor. Der Putz an den Wänden bröckelte, und aus einem hohen Fenster kam Licht. Das Zimmer war nicht viel größer als eine Gefängniszelle, und sie fragte sich, ob es vielleicht eine Zelle war.
War das Himmelfahrtskommando am Ende doch nicht erfolgreich gewesen? War die zweite Angriffswelle abgeschlachtet und zurückgedrängt worden? Sie meinte sich daran zu erinnern, dass sie gesehen hätte, wie General Tamas mitkämpfte. Vielleicht war er gefallen. Immerhin waren in der Festung fünf weitere Privilegierte gewesen. War sie jetzt in Darjah gefangen?
Die Gurlaner hätten sie doch mit Sicherheit einfach umgebracht.
Verundish fragte sich, wie viel Zeit seit dem Angriff vergangen war. Sie erinnerte sich daran, geschrien zu haben, bis ihr Hals wund gewesen war, und dass Ärzte ihr eine Malapfeife in den Mund gesteckt und ihr den Rauch in den Mund geblasen hatten. Der Schmerz hatte langsam nachgelassen, und die Feldchirurgen hatten angefangen, ihren Oberschenkel mit ihren Skalpellen zu bearbeiten und den blutigen Schnitt an ihrem Arm zu nähen.
Sie versuchte, ihren Kopf zu drehen – mit wenig Erfolg. Durch den Schmerz entfuhr ihr ein unfreiwilliges Wimmern.
Wieso tat alles so furchtbar weh? Sie fühlte sich, als sei jeder Knochen in ihrem Leib gebrochen.
Die Tür zu ihrem Zimmer wurde mit einem Knarren geöffnet. »Ah, Frau Oberst, Sie sind wach«, sagte eine weibliche Stimme. »Ich habe wundervolle Neuigkeiten. Der Feldmarschall wird Sie sehen wollen.«
Oberst? Sie mussten sie mit jemandem verwechselt haben. Panik kam in ihr auf, und sie versuchte, sich zu bewegen.
»Holen Sie den Feldmarschall«, rief die Stimme in den Flur. Sie erkannte die Stimme wieder aus ihrer fiebrigen Erinnerung an die Operation. Sie gehörte einer der Ärztinnen. »Na, na. Bewegen Sie sich lieber nicht«, sagte die Ärztin. »Ihr Körper ist steif und ihre Muskeln schwach, weil Sie sie so lange nicht benutzt haben. Sie waren lange Zeit bewusstlos.«
»Wie …« Verundishs Stimme brach ab, und die Ärztin kam in ihr Sichtfeld. Es war eine ältere Frau in einer adronischen Uniform, über der sie einen weißen Kittel trug. Sie lehnte sich über Verundish und gab ihr Wasser.
Verundish musste husten, schaffte es aber, ein wenig herunterzuschlucken. Als die Ärztin von ihr wegtrat, fragte sie: »Wie lange?«
Die Ärztin legte Verundish sanft eine Hand auf die Schulter. »Der Angriff auf Darjah war vor vier Wochen.«
»Vier Wochen?« Verundish konnte die Dringlichkeit in ihrer Stimme nicht verbergen. Der Brief von ihrem Ehemann, der vor dem Himmelfahrtskommando angekommen war, war bereits fünf Wochen alt gewesen. Genevie würde in weniger als einem Monat an die Sklavenhändler verkauft werden. Verundish bemühte sich, aufzustehen. Ihr ganzer Körper zitterte.
Die Ärztin zwang sie sanft zurück ins Bett. »Warten Sie, Frau Oberst. Bitte beruhigen Sie sich.«
»Ich muss aufstehen.«
»Der Feldmarschall wird jeden Moment hier sein, Frau Oberst.«
Feldmarschall Beravich war auf dem Weg, um sie zu sehen? Warum um alles in der Welt wollte er sie sehen?
»Verundish. Ich bin Captain Verundish.«
»Da liegen Sie leider falsch«, sagte eine männliche Stimme von der Tür. »Frau Doktor, würden Sie uns einen Moment alleine lassen?« Die Ärztin nickte und verschwand von Verundishs Seite, wo General Tamas ihren Platz einnahm. »Guten Morgen, Frau Oberst.« Tamas setzte sich neben ihr Bett.
»Sir?«, fragte sie schwach.
»Sie sind jetzt Oberstleutnant, Verundish. Die erforderlichen Papiere wurden schon vor drei Wochen ausgefüllt, aber ich werde erst Ihre Genesung abwarten, bevor ich Ihnen ein Bataillon zuweise.«
Das war unmöglich. Sie konnte es nicht glauben. Sie war zwei volle Ränge befördert worden. Mit Sicherheit hatte sie das nicht verdient, nicht mal nachdem sie ein Himmelfahrtskommando angeführt hatte. »Ich … vielen Dank, Sir.«
Tamas wischte ihre Worte mit einer Hand beiseite.
»Sir, war ich wirklich vier Wochen lang ohnmächtig?«
»Die meiste Zeit über waren Sie in einem Malarausch, um die Schmerzen zu betäuben. Wenn man so wie Sie von Privilegierten-Feuer verbrannt wird, fügt das einer gewöhnlichen Person großen physischen und mentalen Schaden zu.«
»Ich verstehe.«
Tamas nickte. Seine Gedanken waren eindeutig woanders.
»Feldmarschall Beravich?«
Tamas’ Mundwinkel zuckte nach oben. »Was soll mit ihm sein?«
»War er auf dem Weg hierher?«
»Ich fürchte, Beravich ist tot. Zwei Tage nachdem wir Darjah eingenommen hatten, wurden seine eigenen Streitkräfte von gurlischen Partisanen überrannt. Ich kann Ihnen versichern, dass sein Tod gerächt wurde.«
»Oh.« Verundish brauchte ein paar Momente, um die Nachricht zu verarbeiten und ihre Bedeutung nachzuvollziehen. »Glückwunsch, Sir.«
Feldmarschall Tamas senkte den Kopf zu einer bescheidenen Verbeugung.
Er stand auf, streckte sich und schaute zu dem Lichtstrahl hoch, der durch das Fenster über ihnen hereinschien. »Jetzt, wo Sie wieder bei Sinnen sind, verschaffen wir Ihnen ein ordentliches Zimmer. Sie werden langsam vom Mala loskommen müssen. Mir wurde gesagt, dass es mehrere Monate dauern wird, bis Sie bereit sind, Ihr Kommando anzutreten.«
Verundish bemühte sich, sich aufzusetzen, schaffte es aber nicht. Die Anstrengung ermüdete sie. Mehrere Monate? Sie musste sofort zurück nach Adro. Sie musste zurück, bevor ihr Ehemann seine Drohung wahrmachen konnte. Selbst das schnellste Schiff würde es womöglich nicht schaffen, sie rechtzeitig nach Hause zu bringen.
Tamas beobachtet ihre Bemühungen mit hochgezogener Augenbraue. »Wollen Sie irgendwo hin, Oberst?«
»Sir.« Verundish versuchte, nicht verzweifelt zu klingen. »Ich muss nach Adro zurückkehren. Um mich um persönliche Angelegenheiten zu kümmern.«
»Das kann ich leider nicht erlauben«, sagte Tamas. »Sie werden gebraucht. Ich habe vor, diesen verdammten Krieg bis zum Winter zu beenden, und dann können wir alle nach Hause.«
Bis dahin würde Genevie nicht mehr da sein. Sie würde weg sein, verkauft in die Sklaverei, und benutzt wie eine … Verundish drückte ihre Augen zu in dem Versuch, die Tränen zurückzuhalten.
»Oberst?«
»Sir?«
»Gibt es irgendwas, was Sie mir sagen wollen, Oberst?«
»Nein, Sir.«
Einige Momente lang herrschte Stille; Tamas schaute weiterhin nicht zu ihr, sondern hoch zu dem Fenster. »Stolz«, sagte er, »ist schon etwas Seltsames.«
»Sir?«
»Wir lassen zu, dass wir und die Menschen, die wir lieben, so viel Leid erfahren, nur um dieses Gefühl in unserer Magengrube zu besänftigen. Manchmal beneide ich die Menschen, die sich ihr Urteilsvermögen nicht von ihrem Stolz trüben lassen.«
Verundish traute es sich selbst nicht zu, etwas zu sagen.
Tamas fuhr fort. »Der Erzdiözel von Adro schuldet mir einen Gefallen. Ihre Scheidungspapiere sollten in etwa«, er hielt inne, so als müsse er über das genaue Datum nachdenken, »ein bis zwei Wochen genehmigt werden. Ihre Tochter wird bis zu Ihrer Rückkehr in der Obhut Ihrer Eltern bleiben. Wenn ich jetzt in Adro wäre, würde ich Ihren Ehemann selbst zum Duell herausfordern und töten. Meiner Meinung nach sollten Kinder nicht unter den kleinlichen Streitigkeiten von Erwachsenen leiden müssen.«
Verundish spürte, wie die Anspannung von ihrem Körper abfiel und sie die Tränen nicht länger im Zaum halten konnte. »Da stimme ich Ihnen zu, Sir. Vielen Dank.«
Tamas tat einen tiefen Atemzug. »Normalerweise mische ich mich in solche Dinge nicht ein, aber wie Sie vielleicht wissen, habe ich selbst einen Sohn, der gerade mal zwei Jahre alt ist. So etwas nehme ich … persönlich.«
»Wenn ich fragen darf, Sir, wie haben Sie es herausgefunden?«
»Können Sie sich das nicht denken?«
Constaire. Natürlich. Ein Mann ohne Stolz. Der dämliche Narr hatte ihr gerade das Leben gerettet. Irgendetwas regte sich in Verundish.
»Oh«, fügte Tamas hinzu, als er die Tür öffnete, um zu gehen. »Major Constaire hat mich darum gebeten, Sie beide zu verheiraten. Wenn Sie das ebenfalls wünschen, könnten wir uns darum kümmern, sobald Ihre Scheidung offiziell ist.«
Major Constaire. Er hatte seine Beförderung dafür erhalten, dass er die zweite Angriffswelle gegen Darjah angeführt hatte.
Verundish konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Es wäre mir eine Ehre.«
»Gut.« Ein Lächeln huschte über Tamas’ ernstes Gesicht, und dann war er verschwunden.

DAS MÄDCHEN VON HRUSCH AVENUE
Zehn Jahre vor den Ereignissen aus »Blutschwur«
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