Seewölfe Paket 34

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„Alle Kerle wecken!“ befahl Garcia. „Auch die Freiwachen. An Deck wird kein Licht entzündet, verstanden?“
Der Erste bestätigte und verschwand. Kurze Zeit später erwachte die schlummernde Kriegsmaschine zu beängstigendem Leben.
7.
Die Reparaturarbeiten in der Bucht hatten unverzüglich begonnen, doch jetzt gab es ein weiteres Problem.
Der Untergrund bei den Mangroven war so matschig und morastig, daß von dort aus nicht zu arbeiten war. Entweder sackten die Männer zwischen die Stelzwurzeln, oder die Jolle hing schief auf dem Schlick.
Die Arbeit am Ruder wurde dadurch immer weiter verzögert, was die Laune der Arwenacks nicht gerade hob. Außerdem ließen sich gewisse, verräterische Geräusche nicht vermeiden.
Der Profos latschte mit mürrischem Gesicht auf den Seewolf zu, der am Heck neben einer Laterne stand.
„Der Nebel scheint sich zu lichten, Sir. Auf dem Fluß ist es schon ein bißchen heller geworden. Oben sind auch einige Sterne zu sehen.“
„Kommt mir auch so vor“, erwiderte Hasard. Er lehnte sich an die Verschanzung und blickte zum Tapti, wo ein leises murmelndes Geräusch zu hören war. Der Fluß sang leise sein Lied, eine monotone Melodie aus Rauschen und Flüstern. Manchmal war ein Gurgeln und Schmatzen aus den Mangrovenwäldern zu hören.
Carberry drehte sich um und starrte durch Dunkelheit und Nebel zur anderen Seite der Bucht. Dort wogten immer noch die Nebelgeister, die aus den Sümpfen zu steigen schienen. Aber da war auch eine Passage, die wie ein Schlund aussah. Angestrengt versuchte er Genaueres zu erkennen.
„Diese Bucht haben wir nur einmal kurz bei Tageslicht gesehen“, sagte der Profos. „Jetzt erscheint sie mir viel größer. Oder irre ich mich?“
Hasard sah auch in die Richtung, die den Profos so sehr interessierte.
„Sie scheint dort hinten weiter ins Landesinnere zu führen“, meinte der Seewolf. „Bei dem Nebel kann das allerdings auch täuschen …“
Hämmern und Klopfen unterbrachen seine Worte. Shane, Tucker und ein paar andere arbeiteten an dem Ruder. Ab und zu war auch ein verhaltener Fluch zu hören, wenn es Schwierigkeiten mit dem Untergrund gab.
„Das ist eine Passage“, sagte der Profos, „eine kleine und sehr schmale Durchfahrt. Wahrscheinlich grenzt eine weitere Bucht an diese. Wir sollten das mal erkunden, Sir. Wenn das der Fall ist, hätten wir ein vorzügliches Versteck gefunden, das vom Fluß aus nicht einzusehen ist. Ich kann ja mal mit der kleinen Jolle eine Exkursion unternehmen und nachsehen.“
„Wir brauchen die Jolle für einen anderen Zweck, Ed. Wir haben vor der Bucht noch keine Wachen aufgestellt. Solange der Nebel dicht und kompakt war, hielt ich das nicht für unbedingt erforderlich, aber jetzt sieht das etwas anders aus. Wir müssen zwei Mann dort vorn postieren.“
„Hier sieht uns kein Mensch, Sir. Wir liegen hier wie in Abrahams Schoß.“
„Wenn wir es mit einem Schurken wie Ruthland allein zu tun hätten, dann würde ich dir zustimmen. Aber wir haben noch einen Gegner vor uns, den man nicht unterschätzen darf. Der Spanier ist ein durchtriebener Bursche. Wahrscheinlich hat er schon bemerkt, daß wir in aller Stille aus der Bucht verschwunden sind. Was also wird er unternehmen?“
„Zunächst wird er sich ärgern, Sir, wenn ich das richtig sehe. Er wird erkennen, daß wir auch nicht gerade die Dümmsten sind. Und da er ein beharrlicher und sturer Bock ist, wird er sich zunächst mal an den Fingern einer Hand ausrechnen, daß wir eine andere Bucht angelaufen haben, um unsere Schäden auszubessern. Richtig, Sir?“
„Richtig. Er kann aber auf dem Tapti mit einer schweren Galeone nicht beliebig hin und her gondeln. Das erwartet er von uns ebenfalls nicht. Er wird weiter annehmen, daß wir flußabwärts verholt haben, und da bietet sich nicht allzuviel an. Um das aber ganz sicher herauszufinden, schickt er bestimmt eine Jolle mit ein paar Kerlen los, die ausspionieren sollen, wo wir liegen. Richtig, Mister Carberry?“
Der Profos grinste über das ganze narbenzerfurchte Gesicht.
„Sehr richtig“, sagte er zufrieden. „Wenn er das weiß, der Nebel sich lichtet und genug Wind da ist, wird er es uns besorgen, und zwar mit einem blitzartigen Überfall.“
„Du sagst es, Ed. Um dem aber zuvorzukommen, müssen wir diese Burschen abfangen, damit sie nichts melden können. Und deshalb postieren wir zwei Mann am Eingang der Bucht. Das wäre zum Beispiel eine Aufgabe für dich und Jan Ranse. Der steht hier nämlich schon seit einer Weile herum und hat die Ohren am Wind. Dann brauche ich keine weiteren Erklärungen mehr abzugeben.“
Der untersetzte Holländer mit dem wüsten blonden Vollbart trat näher an die beiden Männer heran.
„Ich bin dabei“, sagte er knapp. „Ich habe alles mitgekriegt.“
„Gut. Dann nehmt die kleine Jolle und geht auf Posten. Wenn ihr die Kerle hochnehmen könnt, bringt sie an Bord. Ich habe später noch ein paar Fragen an sie. Verhaltet euch aber möglichst lautlos.“
„Das geht schwer in Ordnung“, sagte der Profos. Manchmal drückte er sich etwas seltsam aus, um kundzutun, daß alles hervorragend klappen würde. „Hättest du etwas dagegen, Sir, wenn wir einen klitzekleinen Umweg wählen? Ich will nur einen kleinen Abstecher unternehmen, wo die Bucht scheinbar endet. Kann ja nur von Vorteil sein, wenn wir etwas entdecken.“
„Einverstanden, aber beeilt euch und haltet euch nicht zu lange am Ende der Bucht auf.“
Die kleine Jolle war längst abgefiert worden. Carberry und Jan Ranse steckten sich für alle Fälle eine Pistole in den Hosenbund und hofften dabei, sie nicht gebrauchen zu müssen. Es sollte alles lautlos durchgeführt werden.
Allerdings stand nicht mit absoluter Sicherheit fest, ob vor der Bucht eine Jolle aufkreuzen würde. Es war lediglich eine Annahme, die zutreffen konnte.
Die beiden Männer enterten in die Jolle, stießen sich vom Schiffsrumpf ab und nahmen Kurs auf jene dunkle Stelle, wo Nebelschwaden wogten und die Bucht wie ein gähnender Schlund aussah.
Der Regen hatte aufgehört, aber ihre Klamotten waren immer noch klamm und feucht.
Lautlos begannen sie zu pullen. Die Umrisse des Hecks der Schebecke wurden erst milchig, dann trübe, und schließlich verschwanden sie im Dunst wie ausgelöscht. Auch die Geräusche um sie herum erstarben. Nur das leise Knarren der Riemen in den Rundsein verriet, daß sie sich bewegten.
Einen Augenblick lang hatte jeder von ihnen das Gefühl, völlig allein auf der Welt zu sein. Sie bewegten sich in einem lautlosen Meer wie auf schwebenden Wolken, wie in einer geheimnisvollen Sphäre, die sie auf unerklärliche Art und Weise forttrug.
Durch wabernde Nebelfetzen hindurch erkannten sie Sterne und Mondsichel. Die Umgebung wirkte gespenstisch, zumal aus dem nahen Dschungel und den Mangrovenwäldern immer wieder klagende Geräusche zu hören waren.
„Genau voraus“, raunte Carberry. „Wir halten darauf zu, wo es stockfinster ist.“
„Da ist absolut nichts mehr zu sehen“, sagte Jan Ranse. „Sieht aus, als würden wir dort in einen tiefen Abgrund fallen.“
„So schnell fällt es sich nicht.“
Carberry versuchte einen Lichtschimmer zu erblicken. Doch die außenbords angebrachten Laternen auf der Schebecke waren aus dieser Distanz nicht mehr zu sehen. Ein Späher, der hier eindrang, mußte sich schon ziemlich dicht heranpirschen, wenn er etwas bemerken wollte.
Alle beide zuckten zusammen, als ganz überraschend etwas nach ihren Köpfen griff. Es schienen lange, tastende Arme zu sein, die ihnen durch die Gesichter fuhren wie riesenhafte Spinnenbeine.
Gleich darauf gab es einen leichten Ruck. Die Jolle saß fest.
Jan Ranse stieß erleichtert die Luft aus.
„Wir sind in die Mangroven geraten“, knurrte er, „und liegen irgendwo zwischen den Stelzwurzeln.“
„Hab ich auch schon gemerkt. Dann einen Schlag zurück.“
Sie pullten ein paar Schläge zurück, bis sie von den schleimigen und feuchten Armen der Mangroven frei waren. Unter der Jolle blubberte leise der Morast.
Beim Weiterpullen entdeckten sie tatsächlich eine schmale Durchfahrt. Genau erkennen konnten sie die Passage nicht, aber sie wußten, daß sie aus der Bucht heraus waren und sich in anderem Wasser bewegten.
„Scheint ein kleiner See oder ein Flußarm zu sein“, meinte der Profos. „Die Schebecke müßte hindurchgehen. Nur schade, daß man nichts Genaues erkennen kann. Wollen wir noch ein paar Schläge pullen oder lieber umkehren?“
„Laß uns umkehren“, meinte Jan. „Wenn wir uns hier verirren, finden wir die Durchfahrt nicht mehr, und dann gibt es ein Donnerwetter, wenn wir in anderen Regionen herumkrebsen.“
„Ja, da hast du recht“, erwiderte Carberry. „Aber die Luft riecht hier irgendwie anders. Schon möglich, daß es ein kleiner See ist.“
Es stellte sich heraus, daß sie schon jetzt Mühe hatten, die schmale Durchfahrt zu finden. Um sie her war von den Seiten alles zugewuchert. Es roch modrig und faulig wie in einem riesigen Sumpfgebiet.
Der Profos nahm den Riemen und steckte ihn lotrecht ins Wasser. Es war kein Grund festzustellen. Erst als er ungeduldig weiterstocherte, stieß er auf Grund. Das bedeutete, daß sie wieder dicht bei den Mangroven waren.
Der Profos wurde schon kribbelig und stieß die ersten Verwünschungen aus. Ein paar saftige Worte waren darunter.
Abermals tasteten lange Arme nach ihnen. Dazwischen war ein heller Fleck, und jetzt glaubte er auch, einen leisen Windhauch zu verspüren, der ihm ins Gesicht wehte.
„Wir sind durch“, sagte er nach einer Weile. „Wir sind wieder in der Bucht, wo die Schebecke liegt.“
Als die Mangroven sie freigaben, begannen sie zügig weiterzupullen. Nach etlichen bangen Minuten entdeckten sie den Schimmer am Heck ihres Schiffes.
„Gott sei Dank“, murmelte der Profos. „Da vorn ist es zum Glück etwas heller geworden.“ Er zog das Genick ein, als sie an der Schebecke vorbeipullten, und zuckte leicht zusammen, als eine Stimme irgendwo aus der Dunkelheit fragte: „Etwas entdeckt, Ed?“
„Aye, Sir. Es gibt da eine schmale Durchfahrt. Dahinter ist offenbar eine weitere Bucht, ein kleiner See oder ein Nebenarm des Flusses. Leider war das nicht genau zu erkennen.“
„Gut, dann pullt jetzt zum Fluß hinüber.“
„Aye, aye, Sir.“
Carberry pullte verbissen weiter, bis sie außer Sicht- und Hörweite waren.
„Mann, der Sir hat vielleicht Augen“, sagte er dann anerkennend. „Ich habe kaum das Schiff gesehen, aber er hat uns entdeckt. Und ich dachte immer, nur Dan sei mit Adleraugen ausgestattet.“
Er war sehr beeindruckt, der Profos, und er wunderte sich noch eine ganze Weile darüber.
Die nächste Überraschung erlebten sie dann direkt am Tapti. Sie hörten den Fluß rauschen und konnten an einzelnen Stellen sogar das Wasser erkennen. Die Mondsichel spiegelte sich in einigen Stellen im Wasser, und lange Nebelschwaden krochen an den Ufern entlang.
Weiter flußaufwärts waren ebenfalls offene Stellen zu sehen. Ein Wind wehte ganz zaghaft und spielte mit dem Nebel, den er in lange Streifen zerfaserte.
Dort, wo die Bucht in den Fluß überging, war sie auf einer Länge von fast zwanzig Yards einigermaßen gut zu überblicken. Im Inneren der Bucht war jedoch nicht zu erkennen, daß da ein Schiff lag. Auch die Geräusche waren nur dann zu hören, wenn man sehr aufmerksam und angestrengt lauschte.
Carberry hielt nach einem Versteck Ausschau, wo die Jolle nicht gleich entdeckt werden konnte. Sie fanden eins hinter der Einfahrt, wo zwei hohe Palmen standen und alles von Gebüsch und Verhau zugewuchert war.
„Dort legen wir uns auf die Lauer“, sagte er. „Wenn die Kerle hier wirklich aufkreuzen, müssen sie dicht daran vorbei, denn sie werden versuchen, sich unauffällig anzuschleichen. Wir können sie dann sogar von der Jolle aus hoppnehmen.“
Sie pullten in den Verhau und blickten aus ihrem sicheren Versteck flußaufwärts.
Die Zeit schien sich endlos lange zu dehnen. Auf dem Tapti tat sich nichts. Nur der Wind frischte auf, und der Nebel zog sich zuerst in der Höhe zurück. Auf dem Fluß lag er teilweise noch wie ein gigantischer, ausgebreiteter Schleier.
„Schade, daß wir nicht herausgefunden haben, was es mit der anderen Bucht auf sich hat“, sagte der Profos. „Hinter den Mangroven wäre ein ideales Versteck gewesen. Da hätten wir in aller Ruhe und unbeobachtet die Reparatur zu Ende führen können. Und danach wäre es den Halunken an den Kragen gegangen.“
„Ja, leider, aber vielleicht ist es noch nicht zu spät“, entgegnete Jan Ranse. „Wenn die Kerle sich weiterhin Zeit lassen und keinen Wind haben, können wir das noch nachholen, vorausgesetzt, die Sicht in der Bucht wird besser. Eine Galeone kann durch die Mangroven wegen ihrer Größe nicht hindurch, und die Karavelle allein traut sich nicht. Ruthland würde das nie riskieren, der Feigling.“
„Ist nicht zu ändern“, sagte der Profos, „obwohl ich gerade diesem Bastard liebend gern eins übergebraten hätte.“
Den Fluß oberhalb der Bucht ließen sie keine Sekunde lang aus den Augen. Mitunter schimmerte das Wasser samtweich, dann wieder dunkel und geheimnisvoll, wenn ein paar Sterne sich darin spiegelten.
Der Wind hatte noch ein bißchen mehr zugelegt, war aber nichts weiter als eine laue Brise. Zur Not konnte er ein Schiff bewegen, aber das Manövrieren würde schwierig sein.
Carberry erzählte ein paar Witze, um die Langeweile zu überbrücken, und war gerade so richtig in seinem Element. Es ging um die Arche Noah, den Schiffsbohrwurm und um ein paar Termiten, da unterbrach ihn der bärtige Holländer.
„Da tut sich was“, raunte er. „Ganz oben, wo der Nebel eine Lücke hinterlassen hat. Du mußt zur anderen Flußseite blicken. Ich glaube, da bewegt sich ein Schatten.“
Carberry vergaß die Arche und Noahs Probleme. Sehr konzentriert peilte er die Stelle an und kniff die Augen zusammen.
„Können Nebelfetzen sein“, meinte er nach einer Weile ratlos.
Am anderen Ufer des Flusses tanzten seltsame Dämonen und Kobolde ihren bizarren Reigen. Mal waren sie dunkel, mal verzerrten sie sich zu hellen Gestalten mit großen Augen, und schließlich zerflossen sie wieder.
Aber da war doch eine ständige und fließende Bewegung, die sich nicht in Luft auflöste. Das Ding schien mitunter über dem Wasser zu schweben, doch es näherte sich langsam und wanderte zur Flußmitte hin, bis die Konturen deutlicher zu erkennen waren.
„Eine Jolle“, sagte Carberry schließlich. „Einwandfrei eine Jolle. Das Ding scheint Flügel an den Seiten zu haben.“
So sah es tatsächlich aus. Die Jolle war zu erkennen, nur die Gestalten darin nicht. An beiden Seiten drehte sich etwas, das wie kleine Windmühlenflügel aussah. Der Nebel schuf diese seltsame Form, die sich ständig um ihre Achse zu drehen schien.
Das Boot wurde weiter flußabwärts gepullt. Dann beschrieb es einen Bogen zum diesseitigen Ufer und näherte sich etwas schneller.
„Zwei Mann“, flüsterte Jan Ranse.
Carberry bemerkte die beiden Gestalten jetzt ebenfalls.
Einmal verschwanden sie wieder in einer Nebelwolke und wurden vorübergehend unsichtbar. Als sie wieder auftauchten, hatten sie sich um ein beträchtliches Stück der Bucht genähert.
„Na dann“, raunte der Profos und rieb sich die Pranken.
8.
Zwei Kerle waren es, wie jetzt einwandfrei für die beiden Beobachter feststand. Sie ließen sich ein Stück in der Jolle ganz dicht am Ufer entlangtreiben, drehten alle Augenblicke die Köpfe und hielten Ausschau nach einer Buchteinfahrt.
Jan Ranse und Edwin Carberry rührten sich nicht mehr. Die Jolle war bis fast auf zehn Yards heran, als sie zum erstenmal Stimmen hörten. Sie klangen sehr gedämpft, waren aber in Wassernähe gut zu hören.
„Dort vorn ist die Bucht, Stan“, sagte der eine. „Nicht mehr pullen, wir lassen uns treiben.“
„Engländer“, hauchte der Profos. „Rübenschweine von Ruthland, diesem räudigen Bastard.“
Die Jolle war jetzt fast auf gleicher Höhe mit ihnen. Die Gesichter konnte man nicht erkennen, dazu war es zu dunkel.
Vor dem Verhau legten sie lautlos am Ufer an. Der eine verließ die Jolle und sprang an Land. Dann ging er ein paar Schritte und linste vorsichtig hinter dem Palmenstamm in die Bucht.
„Das ist sie“, sagte er zu seinem Kumpan. „Kein Zweifel, Stan.“
„Können wir zu Fuß weiter?“ fragte der andere.
„Nein, hier ist alles glitschig und modrig. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten.“
„Bist du sicher, daß wir hier richtig sind?“
„Klar, Jonny, kein Zweifel.“
„Dann komm zurück, wir pullen langsam weiter. Kannst du Licht sehen oder etwas hören?“
„Nein, noch nicht. Die Bucht ist ziemlich groß. Oh, verdammt!“
Es krachte leise. Der Kerl war ausgerutscht, wie der Profos erkannte. Er rappelte sich gerade wieder auf.
„Was ist los?“
„Bin nur ausgerutscht.“
Carberry langte blitzschnell von der Jolle aus zu. Dieser Stan war nur noch eine Armeslänge entfernt und würde gleich im Wasser landen, wenn er sich noch einen Schritt weiter bewegte.
Der Profos schlug nur einmal zu, und zwar mit seinem berüchtigten Profoshammer, der einen Ochsen gefällt hätte. Stan landete bewußtlos vor der Wasserrinne und blieb liegen. Es krachte erneut, aber der Untergrund dämpfte den Fall.
Jonny schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. Er hielt die Jolle am Gestrüpp mit beiden Händen fest und spähte in das Dickicht.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“ fragte er ungeduldig.
Jan Ranse hatte die Jolle verlassen und bewegte sich auf das andere Boot zu. Jonny konnte ihn ganz sicher nicht erkennen. Statt einer Antwort gab er nur ein mißmutiges Knurren von sich.
Dann sprang er in die Jolle, die gefährlich zur Seite krängte, und noch bevor Jonny etwas sagen oder fragen konnte, spürte er, wie eine riesige Faust auf seinem Schädel landete. Der Schlag war so hart, daß es ihn fast durch die Jolle trieb.
Wie vom Blitz getroffen, sank er zusammen.
Jan Ranse umklammerte ihn, damit er nicht über Bord ging. Es sah wie ein ungleicher Ringkampf aus. Dann legte er den Kerl zwischen die Duchten und griff ebenfalls nach dem Gestrüpp, damit die Jolle nicht weiter abtrieb.
„Alles klar?“ fragte der Profos.
„Alles klar“, versicherte Jan. „Jonny ist restlos bedient.“
„Der liebe Stan auch“, sagte der Profos. „Ich habe ihn gerade in die Jolle gehievt. Der Kerl stinkt übrigens nach Fusel.“
Das hörte sich fast ein bißchen neidisch an, wenn Jan das richtig deutete. Oder empörte sich der Profos etwa darüber? Das war bei ihm schlecht festzustellen.
„Ich pulle jetzt in die Bucht“, sagte Jan. „Es ist ja nicht zu erwarten, daß noch mehr Jollenrutscher hier auftauchen.“
Der Profos gab keine Antwort, aber Jan hörte ein merkwürdiges, wenn auch sehr vertrautes Geräusch. Das war ein Gluckern, und es stammte ganz sicher nicht aus dem morastigen Untergrund.
Jan lauschte noch einmal und legte sich dann in die Riemen. Als er bei dem Profos anlangte, setzte der gerade eine Buddel ab.
„Hat der Fuselmann dabei gehabt“, sagte er zufrieden. „Schmeckt nach gutem Schottischen. Und so was soll man ja nicht unbedingt verkommen lassen. Wäre ein Jammer.“
Jan teilte grinsend diese Ansicht. Sie hatten vollen Erfolg gehabt, und warum sollten sie darauf nicht einen kleinen Schluck trinken, wenn Stan und Jonny so großzügig bemessene Rationen bei sich trugen! Also gluckerte er auch einen weg. Die beiden Kerle mußten schon kräftig gelenzt haben, denn nach dem Schluck war die Buddel leer. Oder der liebe Edwin hatte zu tief reingesehen, was noch wahrscheinlicher war.
Sie vergewisserten sich noch mal, ob sich auf dem Fluß keine weiteren nächtlichen Gestalten herumtrieben. Niemand war zu sehen.
Dann schauten sie nach den beiden Engländern. Stan und Jonny rührten sich nicht. Sie würden sich wohl noch eine ganze Weile lang nicht bewegen, denn was ihnen da um die Ohren geflogen war, verkraftete bestenfalls ein Elefant.
„Na, dann an Bord“, meinte der Profos aufmunternd. „Der Schluck hat mir richtig gutgetan. Schade, daß die Kerle nicht noch ein paar Buddeln dabeihaben.“
Jan Ranse blieb gleich in der fremden Jolle und pullte zügig in die Bucht. Carberry folgte mit dem reglosen Stan, der nicht mal ein Ächzen von sich gab.
Die Nebel auf dem Fluß zerflossen immer mehr. Hin und wieder fuhr ein leichter Windstoß über ihre Köpfe. Im Tapti spiegelte sich silbern die Sichel des Mondes.
„Wird bald soweit sein“, knurrte Carberry. „Noch ein bißchen mehr Wind, und die ganze Bande steigt uns aufs Dach. Die werden sicher keine Zeit versäumen.“
„Vielleicht sind unsere beiden Helden etwas genauer darüber informiert“, sagte Jan Ranse. „Wir werden sie ganz höflich fragen, und dann werden sie auch ganz höflich antworten.“
„Weil es Gentlemen sind“, sagte der Profos. „So wie wir auch.“
Die Schebecke, eben noch unsichtbar, zeigte sich ganz plötzlich in den Umrissen. Um sie her war das Wasser an vereinzelten Stellen pechschwarz. Kleine Nebelkobolde geisterten um den Rumpf herum.
Leises Klopfen und Hämmern war zu hören.
Carberry drehte den Kopf, und schaute zu der Lücke, die in die andere Bucht führte. Dort war der Nebel jedoch noch beständig, und er sah nur eine wallende Wand mit den Geisterfingern von Mangrovenwurzeln darin. Aber irgendwo dort war der Durchschlupf, wo es weiterging.
„Ah, die Fischer sind zurück“, sagte Dan O’Flynn grinsend, als die Jolle an der Jakobsleiter anlegte. „Wie ich sehe, habt ihr auch etwas gefangen.“
„Ja, zwei einsame Stinte“, tönte der Profos zurück. „Sie schwammen ganz unbesorgt auf dem Fluß, und da haben wir sie geangelt.“
Carberry reichte den einen „Stint“ nach oben. Dort beugte sich der Gambiamann Batuti über das Schanzkleid, packte den bewußtlosen Kerl am Genick und zog ihn wie einen nassen Sack nach oben. Der andere folgte eine halbe Minute später und landete auf den Planken.
Hasard betrachtete die beiden Männer. Die Nacht war jetzt stellenweise so klar, daß er die Gesichter erkennen konnte.
Das eine war bärtig mit dicken Wangen. Der andere hatte eine hagere, verderbte und liederliche Visage mit Bartstoppeln. Obwohl er tief und fest im Traumland weilte, wirkte er hundsgemein und verschlagen.
„Das verluderte Bürschchen heißt Jonny“, sagte der Profos, „der andere Stan. Wir erfuhren ihre Namen, als sie sich ziemlich sorglos vor der Bucht unterhielten. Sieht aber nicht so aus, als kämen sie bald wieder zu sich. Versuchen wir es mal mit Wasser.“
Reglos lagen die beiden Kerle mit ausgebreiteten Armen auf dem Deck.
Der Profos füllte eine Pütz mit Seewasser und leerte sie Jonny in die verderbte Visage. Eine zweite Pütz schüttete er über dem anderen aus.
Es erfolgte keine Reaktion. Alle beide rührten sich nicht und lagen wie tot auf den Planken.
„Ihr habt wohl ein bißchen zu hart zugeschlagen“, sagte der Seewolf.
„Nur ein Profoshammer, Sir“, erwiderte Carberry. „Der hält aber meist etwas länger vor.“
Der Kutscher beugte sich über die Gestalten und horchte sie ab.
„Immerhin leben alle beide noch“, verkündete er. „Aber sie scheinen sehr weit weg zu sein.“
Mac Pellew gab den beiden leichte Ohrfeigen als unterstützende Massage, um die Lebensgeister wieder zu wecken, doch auch das nutzte nichts.
„Wie wär’s denn mit dem Riechöl?“ fragte er nach seinen erfolglosen Bemühungen. „Mit dem Zeug kann man Tote aufwecken. Wir haben noch etwas davon.“
„Das würde ich nicht mal meinem schlimmsten Feind unter die Nase halten“, sagte der Profos schaudernd. „Ich hab mal daran gerochen und noch heute, Jahre später, wird mir kotzübel von dem Zeug.“
„Wir sollten sie aber möglichst bald zum Reden bringen“, meinte Hasard. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, und mit dem beschädigten Ruder stehen wir auf verlorenem Posten.“
Mac Pellew handelte, denn die Zeit drängte wirklich. Das sogenannte „Riechöl“ hatte er einmal von einem Quacksalber erhalten, und seitdem schwor er darauf. An Bord konnte er es allerdings nicht anwenden, denn der Profos hatte ihm bereits einmal angekündigt, wenn er die „Stinkbombe“ jemals wieder öffnen sollte, würde er gekielholt werden.