Seewölfe - Piraten der Weltmeere 396

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De Retortilla trat ein, gefolgt von seinen Soldaten.
„Sitzenbleiben!“ befahl er, „niemand rührt sich von seinem Platz.“
Ein paar Leute aßen, andere tranken und unterhielten sich. Die Unterhaltung verstummte jedoch beim Anblick des Kommandanten schlagartig. Lähmende Stille breitete sich aus. In einigen Gesichtern stand nackte Angst.
Sie alle kannten diesen hinterhältigen, brutalen Kerl, der rücksichtslos gegen alle vorging, deren Nasen ihm nicht paßten. Sie wußten auch, daß er Leute oft zu Unrecht verdächtigte. Seinetwegen hatten schon viele Leute nicht sehr angenehme Nächte im Kerker zugebracht.
Die Soldaten schwärmten aus, während de Retortilla es beliebte, den Leuten in die Gesichter zu blicken und sie erschauern zu sehen. Blieb sein harter Blick mal länger auf einem haften, dann hatte er etwas zu beanstanden, und der Betroffene fühlte sich unangenehm berührt.
„Haben Sie einen Mann versteckt, Wirt?“ fragte der Kommandant. „Geben Sie es lieber gleich zu, das erspart Ihnen viel Ärger. Es handelt sich um einen Frauenmörder, der geflohen ist.“
„Nein, ich habe niemanden versteckt“, jammerte der Wirt. „Die Soldaten waren schon viermal hier und haben alles durchsucht. Sie hatten sogar Bluthunde dabei. Ich werde mich beschweren, denn die Soldaten haben eine Menge Schaden angerichtet. Wer ersetzt mir das alles?“
„Beschwerden nehme ich entgegen. Aber Sie haben sich nicht zu beschweren, denn Sie stehen in dem Verdacht, einem Frauenmörder Unterschlupf gewährt zu haben.“
„Das ist nicht wahr, ich verstecke keine Mörder.“
„Trotzdem sind Sie verdächtig, gerade Sie, denn Don Juan de Alcazar verkehrte auch in Ihrer Kneipe.“
„Er war noch nie hier, mein Ehrenwort darauf.“
„Ich weiß es besser.“
Aus der Küche war das Klirren von Geschirr zu hören. Eine Frau begann laut zu kreischen. Gepolter erklang, dann klirrte es wieder.
Einer der Kaufleute an dem hinteren Tisch erhob sich. Es war ein hagerer sehniger Mann mit kantigem Gesicht. Seine Lippen umspielte ein etwas spöttisches Lächeln.
„Ich kenne Don Juan“, sagte er, „aber ich glaube nicht, daß er ein Mörder ist. Das bezweifle nicht nur ich, sondern auch andere ehrbare Bürger von Havanna.“
„Wie können Sie wagen, so zu reden?“ schrie de Retortilla. „Sie bezweifeln die Worte des Gouverneurs! Es gibt Augenzeugen, die den Mord gesehen haben!“
„Trotzdem zweifle ich das an“, sagte der hagere Kaufmann gelassen. „Don Juan ist ein ehrbarer Mann und über jeden Zweifel erhaben. War er es nicht, der den Widerstand gegen die Bande Catalinas organisiert hatte? Wir erinnern uns noch sehr gut daran, Señor. Die Bürger vergessen so etwas nicht. Dieser Mann hat gekämpft, als die Bande mordend und plündernd durch die Stadt zog. Er und der deutsche Kaufherr sind es, denen die Bürger ihre Rettung zu verdanken haben.“
De Retortilla lächelte, obwohl in seinen Augen ein eiskaltes Licht schimmerte.
„Sie reden sich um Kopf und Kragen“, sagte er fast freundlich.
„Ich sage nur meine Meinung, und das werde ich wohl noch ungestraft tun dürfen.“
„Dann reden Sie nur weiter“, empfahl der Kommandant höhnisch.
„Setz dich wieder hin, Alberto“, sagte ein anderer, „reg dich nicht auf, es bringt dir nichts ein.“
Der Kaufmann hörte nicht auf die warnenden Worte. Er redete sich in Eifer. Einmal muß man dieser korrupten Bande die Wahrheit sagen, dachte er. Daß das für de Retortilla ein gefundenes Fressen war, kam ihm nicht in den Sinn.
„Soso“, sagte der Kommandant, „Don Juan hat also die Stadt gerettet. Sehr interessant. Und die anderen haben geschlafen, das wollten Sie doch sagen, oder?“
„Genau das meine ich. Als nämlich die Mordbande durch die Stadt zog, haben sich der Gouverneur und seine Günstlinge feige in die Residenz zurückgezogen und verbarrikadiert. Für die Stadt haben sie jedenfalls nichts getan.“
Die Soldaten kehrten zurück und meldeten, sie hätten nichts gefunden.
Don Ruiz de Retortilla nickte. Dann zog er seine Pistole und richtete sie auf den hageren Kaufmann.
„Nehmt ihn fest. Er ist ein Verschwörer. Er hat den Gouverneur als Feigling bezeichnet. Er hält zu Don Juan. Wir werden alles aus ihm herausholen, was wir wissen wollen. Feststellen, wo er wohnt. Sein Eigentum wird beschlagnahmt, sein Haus durchsucht.“
„Nur weil ich die Wahrheit sagte?“ fragte der Kaufmann empört.
„Weil Sie ein Verschwörer sind und mit schändlichen Frauenmördern paktieren“, erklärte der Kommandant kalt.
Bei dem Kaufmann rastete etwas aus. Seine Augen funkelten wild.
„Ihr korruptes, vollgefressenes Pack!“ schrie er. „Ihr habt Don Juan den Mord in die Schuhe geschoben. Ihr verdammten Intriganten! Da steckt eine grenzenlose Schweinerei dahinter.“
Er holte tief Luft, um sich weiter seine Wut von der Seele zu reden, doch Don Ruiz nickte einem der Soldaten schnell zu.
Der Spanier holte mit der Muskete aus und schlug sie seinem Landsmann hart über den Schädel. Wie vom Blitz getroffen, brach der Kaufmann zusammen.
Zwei Soldaten ergriffen seine Beine und schleppten ihn wie ein Stück Vieh aus der Kneipe. Die anderen blieben betroffen und von ohnmächtigem Zorn erfüllt zurück.
„Bringt ihn in den Kerker“, befahl Don Ruiz, „ich werde mich später persönlich um ihn kümmern. Ihr drei bleibt bei mir, wir suchen weiter, und wir werden diesen Kerl auch finden.“
Die anderen zogen ab. Sie trugen den Kaufmann nicht, das fiel ihnen gar nicht ein. Sie schleppten ihn einfach hinter sich her und rissen dabei gemeine Witze.
Unterwegs begegneten dem Kommandanten weitere Trupps, die Kneipe um Kneipe und Haus um Haus durchsuchten. Auf einen weiteren Trupp mit Bluthunden stießen sie weiter unten am Hafen. Die Hunde hechelten, als hätten sie bereits eine Spur aufgenommen.
Aus den Fenstern der Häuser drang mitunter Gebrüll. Bürger beschwerten sich lautstark über die rücksichtslose Behandlung und die ständigen Durchsuchungen. Doch das ließ die Soldaten kalt. Sie wollten sich die hundert Goldtaler verdienen und waren eifrig bei der Sache. Die gesamte Stadt wurde rigoros auf den Kopf gestellt.
Eine knappe halbe Stunde später passierte dem übereifrigen Stadtkommandanten ein peinliches Mißgeschick.
Sie hatten ein paar Häuser durchsucht und bogen in die Calle hispanola ein, als aus einem Hauseingang ein hochgewachsener schlanker Mann trat.
Er sah sich nicht um und bemerkte auch die Soldaten nicht. Er hatte einen Geschäftsfreund besucht und wollte nach Hause gehen.
Don Ruiz durchzuckte plötzlich das Licht der Erkenntnis, als er diesen hochgewachsenen breitschultrigen Mann im schwarzen Umhang sah.
Das muß der gesuchte Don Juan sein, schoß es ihm durch den Kopf. Außerdem hatte der Kerl es ziemlich eilig und wollte wohl ungesehen verschwinden. Kein Wunder, er wurde ja auch dringend gesucht.
„Halt, stehenbleiben!“ rief der Kommandant erregt.
Die Soldaten rissen ihre Musketen von den Schultern. Don Ruiz griff zu seiner Pistole und zog sie.
Der Mann im schwarzen Umhang war so in Gedanken versunken, daß er nichts hörte. Er hatte einen guten Abschluß getätigt und dachte an seine Frau und die Kinder, die sich über die gute Nachricht sicherlich ebenso freuen würden.
Jetzt wurde ihm seine entfernte Ähnlichkeit und die Haltung mit Don Juan zum Verhängnis. Er hörte die Aufforderung nicht, denn in der Stadt wurde gebrüllt, geschrien und gerufen, als hätte die Hölle sich aufgetan.
Der Kommandant schoß, ohne einen Augenblick zu zögern. Der Schuß krachte überlaut in der nur schwach erhellten Straße.
Der Mann im schwarzen Umhang blieb stocksteif stehen, dann wankte er ein paar Schritte zur nächsten Hauswand und hielt sich schwankend daran fest. Ein paar Augenblicke stand er so da, dann brach er zusammen und fiel in den Staub der Gosse.
Der Schuß hatte die Bürger aufgeschreckt. Fenster wurden geöffnet, ein paar Männer tauchten auf, weitere Neugierige gesellten sich hinzu.
„Wir haben ihn!“ schrie der Kommandant. „Wir haben ihn erwischt!“
Er war heiser vor Aufregung.
Seine Rufe trieben noch mehr Bürger aus den Häusern auf die Straße, und jetzt drängten sich die Neugierigen um den Mann, der reglos in der Gosse auf dem Gesicht lag, die Arme ausgebreitet.
„Sie haben den Frauenmörder!“ schrien hysterische Stimmen.
„Sie haben Don Juan erschossen!“ brüllten andere, und diese Rufe trieben immer mehr Leute auf die Straße.
Don Ruiz sah nur verschwommen wirkende Schemen um sich herum. Die Aufregung, Don Juan erwischt zu haben, schnürte ihm fast die Kehle zu.
Mit klopfendem Herzen und nervös wirkenden Schritten, hastete er auf die Stelle zu, wo der Mann lag.
„Weg hier, weg hier!“ schrie er die Gaffer an, die einen weiten Halbkreis bildeten und auf die kleine Lache starrten, die dunkel unter dem Umhang hervorsickerte. Die eine Hand des Mannes bewegte sich etwas und schien im Staub der Gosse verzweifelt Halt zu suchen. Doch noch bevor Don Ruiz und die Soldaten heran waren, entkrampften sich die Finger. Durch die stumme Gestalt ging ein kurzes Zucken. Dann bewegte sie sich nicht mehr.
Der geiergesichtige Kommandant deutete auf den Reglosen.
„Dreht ihn um!“ befahl er.
Einige der aufgescheuchten Bürger hatten Laternen dabei, die sie jetzt hochhoben. Milchiges Licht beleuchtete die Szene. Ein paar Gaffer hatten die Mäuler aufgerissen und blickten schaudernd auf die Soldaten, die den Toten auf den Rücken drehten.
„Kein Mörder entgeht der Gerechtigkeit“, sagte Don Ruiz und sah dabei die Umstehenden an, als hätten sie alle schwere Schuld auf sich geladen. „Seht ihn euch an. So sieht ein Frauenmör…“
Der Rest des Wortes blieb ihm im Hals stecken. Seine Augen quollen ihm fast aus den Höhlen. Er schluckte ein paarmal hart und aufgeregt. Dabei wechselte seine gelbliche Gesichtsfarbe in ein schmutziges Grau.
Der Mann, der aus gebrochenen Augen durch den Dunst der Laternen in die Ewigkeit starrte, war nicht Don Juan de Alcazar. Er hatte auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm. Er ähnelte ihm lediglich in Statur und Haltung.
Die Szenerie wirkte wie erstarrt. Don Ruiz’ Bauchmuskeln verkrampften sich. Er hatte das Gefühl, als müsse er sich gleich übergeben. Die Menge um ihn herum blieb mucksmäuschenstill, bis sich ein spitzer Schrei von den Lippen einer Frau löste.
„Das ist der Kaufmann Enrico!“ rief sie schrill und hysterisch.
Es war erstaunlich, wie schnell sich die Gesichter der Gaffer veränderten. Eben noch hatten sie mit leichtem Schauer auf den Toten geblickt und sich still verhalten. Jetzt trafen harte, fragende und fassungslose Blicke den übereifrigen Kommandanten, der sich unbehaglich räusperte. Seine Soldaten starrten abwechselnd ihn und dann wieder den Toten an.
Der Name des erschossenen Kaufmannes ging von Mund zu Mund. Empörte Schreie wurden laut, haßerfüllte Worte flogen hin und her.
„Saubande!“ wetterte ein Mann. „Der Kerl hat einfach geschossen, ohne sich zu überzeugen, wen er vor sich hatte. Man sollte ihn an seinem verdammten Hals aufhängen.“
„Jawohl, aufhängen!“ brüllte die Menge. „Sonst erschießen sie uns auch noch!“
„Ruhe!“ brüllte Don Ruiz, der schnell erkannte, wie bedrohlich die Lage jetzt für ihn wurde. Er wedelte mit den Armen in der Luft herum.
Aber er konnte sich keine Ruhe verschaffen. Die Leute waren gereizt, übernervös und von Haß auf die Obrigkeit erfüllt. Jetzt ergab sich die Gelegenheit, der Obrigkeit einmal selbst an den Kragen zu gehen, denn das Maß war voll.
Die Soldaten warteten keinen Befehl mehr ab. Sie rissen ihre Musketen herum und wollten die Bürger zwingen, die Straße zu verlassen.
Da flog der erste Stein.
Er wurde aus der Anonymität der Menge geworfen und traf den ersten Soldaten, der die Muskete hochriß, ins Genick.
Er schrie laut auf, die Muskete entglitt seinen Händen. Durch die Menge drängte ein Mann und schlug mit einem großen Knüppel nach den Soldaten.
Im Nu war eine gewaltige Keilerei im Gange. Auch der nächste Soldat wurde überrannt und zu Boden geworfen. Schreiend und kreischend hieb die Menge auf ihn ein.
Don Ruiz sah das alles mit flackernden Blicken. Panische Angst erfaßte ihn, von dem Pöbel überrollt und aufgehängt zu werden. Am Ende der Straße stand ein Kranbalken, und da drängte jetzt alles hin. Vier Kerle schleppten einen Soldaten in die Richtung. Was ihm bevorstand, konnte der Kommandant an zwei Fingern abzählen. Der Mob wollte ihn hängen.
Er kniff aus, stieß in die Masse wogender Leiber und ruderte wild hindurch. In ihrer Aufregung schenkten ihm die meisten keine Beachtung, denn alles stürzte sich auf die verhaßten Soldaten.
„Hier ist er, er hat ihn erschossen!“ keifte eine Frau. Sie packte zu und erwischte Don Ruiz an den Haaren. Sie zerrte daran, bis ihm die Tränen in die Augen traten.
Der Feigling jammerte und schrie, doch da traf ihn der erste Faustschlag auf die Nase, und die Luft blieb ihm weg. Ein zweiter Hieb traf seinen Nacken. Dicht neben seinem Schädel zerplatzte eine Lampe, die brennendes Öl über die Straße ergoß. Ein flackerndes Rinnsal rann brennend durch die Gasse.
Don Ruiz kroch auf allen vieren davon. Fußtritte trafen ihn, ein Kerl riß ihn hoch und verpaßte ihm zwei schallende Ohrfeigen.
Aus seiner Nase lief Blut, die Pistole hatte er verloren, und jetzt war er am Ende, als kräftige Hände erneut nach ihm griffen.
„Ich will nicht hängen!“ schrie er.
Er trat und schlug um sich, kriegte wieder Luft, entwich den zupackenden Händen und rannte blindlings davon. Noch im Laufen stieß er Schreie der Angst aus, hastete weiter und bog um die nächste Ecke.
„Da vorn läuft der Hund! Hinterher!“ vernahm er Stimmen.
Die erregte Meute setzte sich in Bewegung.
Don Ruiz hastete keuchend an dem Kranbalken vorbei, flitzte in einen Hauseingang, gelangte in einen Hinterhof und überkletterte in panischer Angst eine Ziegelmauer. Seine spitze Nase stach wie ein Degen in die Luft. Er schnappte nach Luft, rannte, stolperte, raffte sich wieder auf und hörte immer noch das Geschrei hinter sich.
Ein kleiner Kläffer sprang ihm nach und biß ihn ins Bein. Schmerzgepeinigt lief der Kommandant weiter, gefolgt von dem kläffenden Köter, der ihn wie ein Stück Wild hetzte.
Die Schreie wurden leiser, heiserer und verloren sich. Der Köter drehte ab, als er hastig eine weitere Mauer überstieg.
Hier brannten keine Laternen mehr. Auf der anderen Seite stand der kläffende Köter und verbellte die Mauer. Dann waren auch die Stimmen wieder zu hören.
Seine Lungen brannten vom ungewohnten Laufen, sein Herz hämmerte wild in der Brust, und in seinen Lenden bohrten glühende Messerspitzen herum. Er hechelte wie ein Hund, lauschte auf die Stimmen, die sich wieder näherten, und hastete weiter.
Nach einer Ewigkeit erreichte er die Residenz des Gouverneurs. Hämisch kichernd verschwand er darin. Jetzt konnten sie ihn suchen, solange sie wollten. Er war in Sicherheit.
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