Seewölfe - Piraten der Weltmeere 625

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Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-039-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Fred McMason
Sie tauchen wie Geister aus dem Nebel – und verschwinden wie Gespenster
August 1598 – Küste von Florida.
Der Küstenverlauf in Richtung Süden hatte sich erstaunlich verändert. Weiter nördlich war die Landschaft hügelig, kühl und unfreundlich mit endlosen, fast unberührten Wäldern.
Jetzt erschienen der Küste vorgelagerte Inselchen und hin und wieder riesige Buchten, die den Blick auf Mangroven und sumpfige Lagunen freigaben. Vor den kleineren Inseln gab es tückische Riffe, die dicht unter der Wasseroberfläche lagen.
Hasard hatte daher zwei Mann als Ausgucks bestimmt, die zu jeder vollen Stunde von zwei anderen Arwenacks abgelöst wurden …
Die Hauptpersonen des Romans:
Don Jaime de Esteban – befehligt einen Konvoi von sechs spanischen Schatz-Galeonen und hat das Pech, in einen Nebel zu geraten.
Jesus Maria de Savedro – sein Erster Offizier ist ein Leuteschinder und hält sich für den Nabel der Welt.
Bengosa – ein Decksmann, der sich weigert, seine Kameraden zu schlagen – und dafür büßen muß.
Der Kutscher – zusammen mit Mac Pellew verhindert er, daß die Arwenacks in einen tödlichen Schlaf fallen.
Don Juan de Alcazar – räumt im Nebel mit seiner Jollen-Crew spanische Schiffe ab.
Philip Hasard Killigrew – der Seewolf läßt keine Gelegenheit verstreichen, um den Dons eins auszuwischen.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
1.
Das Innere des Landes war sumpfig, und ab und zu wehte ein brühwarmer Wind vom Land her. Jedesmal, wenn so ein Lüftchen herüberstrich, brachte es das Miasma von Verwesung, Moder und Sumpf mit sich.
Old O’Flynn blickte mißmutig zu einem Wald von Sumpfzypressen, die von riesigen Tillandsien bedeckt waren. Die eigentlichen Wirtsbäume waren unter der leuchtenden Pracht kaum noch zu erkennen. Die Wildnis schien undurchdringlich zu sein. Vermutlich hatte sie auch noch kein Mensch betreten, denn alles sah unberührt und jungfräulich aus.
Ein neuerlicher warmer und süßlicher Brodem strich über die Schebecke.
Daraufhin stellte Old O’Flynn verblüffenderweise fest: „Es stinkt hier ganz mächtig.“
Diese Erkenntnis war ja nun absolut neu, und so sah der Profos auch schon mit einem scheelen Blick Old Donegal an.
„Was du nicht sagst! Das ist von so großer Bedeutung, daß es unbedingt schriftlich niedergelegt werden müßte. Vielleicht als die weltumwälzenden Erkenntnisse des alten Stinkers Old O’Flynn.“
„Das nimmst du sofort zurück, du aufgegeiter Rahnockpinscher“, fauchte Old Donegal aufgebracht. „Wenn ich feststelle, daß es hier ganz mächtig stinkt, dann hat das nichts mit mir zu tun.“
„Na schön, aber erst nimmst du den Rahnockpinscher zurück“, knurrte der Profos. „Das fasse ich nämlich als Beleidigung auf.“
„Das war keine Beleidigung“, erklärte Old Donegal trocken. „Ich habe nämlich extra aufgegeiter Rahnockpinscher gesagt, und wenn was aufgegeit ist, dann ist es natürlich harmlos. Hätte ich nur einfach so Rahnockpinscher gesagt, dann wäre das ein Grund, beleidigt zu sein.“
„Na schön. Dann nehme ich den alten Stinker eben zurück. Das war wirklich beleidigend. In Wahrheit bist du nämlich ein aufgegeiter alter Stinker.“
Sie warfen sich noch weitere Artigkeiten an den Kopf und stritten wieder einmal um des Kaisers Bart, wobei sie sehr gründlich ins Detail gingen.
„Ihr solltet euch lieber mal die Schönheit dieses Küstenstriches ansehen, statt herumzustänkern“, schlug der Kutscher vor, der gerade aus der Kombüse an Deck gegangen war. „Dort drüben liegen zwei riesige Krokodile.“
Er zeigte zum Ufer hinüber, wo zwei große Panzerechsen träge mit weitgeöffneten Mäulern lagen und sich von der Sonne bescheinen ließen. Dicht vor ihren gefräßigen Mäulern watschelten ein paar Pelikane herum, die sehr sorgfältig auf Abstand bedacht waren. Aber die Echsen waren faul und träge und kümmerten sich nicht um die großen Vögel.
„Wirklich sehr schön“, sagte der Profos interessiert, „aber mit Krokodilen kann ich mich nicht besonders gut anfreunden.“
„Ich auch nicht“, erklärte Old Donegal abweisend. „Außerdem brauchst du hier nicht den großen Friedensstifter zu spielen. Wir haben nur unsere Gedanken ausgetauscht.“
„Und ich dachte, ihr hättet Streit.“
„Wir doch nicht“, erwiderte der Profos entrüstet. „Wir streiten so gut wie nie. Stimmt’s, Donegal?“
„Klar stimmt das. Wir sind viel zu weise, um zu streiten. Wir stellen manchmal nur Tatsachen fest und nicht mehr.“
Der Kutscher blickte die beiden Kerle kopfschüttelnd an und ging wieder in die Kombüse zurück, um sich mit Mac Pellew um das Mittagessen zu kümmern.
Auf dem Achterdeck der Schebecke legte Philip Hasard Killigrew den Kopf lauschend zur Seite.
„Hörte sich eben nach einem leisen Rumpeln an“, sagte er, immer noch lauschend. „Hast du das nicht gehört, Juan?“
Don Juan, der Spanier, lehnte lässig am Schanzkleid und blickte zu den beiden dösenden Krokodilen. Eins von ihnen klappte gerade die Schnauze zu und watschelte in das seichte Wasser der Lagune. Die Pelikane flogen kreischend auf und erhoben sich in die Luft.
„Könnte ein entferntes Gewitter sein“, meinte der Spanier. „Geschützdonner war es vermutlich nicht.“
„Na, da bin ich mir nicht so sicher.“
Ben Brighton deutete mit dem Daumen in östliche Richtung.
„Das hier sieht auch nach einem Gewitter aus“, sagte er. „In ein paar Minuten kriegen wir einen kräftigen Guß ab. Möglich, daß es weiter in Richtung der Bahamas ein kräftiges Gewitter gibt. Das Rumpeln habe ich auch ganz schwach gehört.“
Eine langgestreckte Wolkenbank zog heran, schwarzgrau, düster und kompakt. Sie schob das Sonnenlicht weg und ließ lange blaugraue Schatten über das Wasser eilen.
Noch ein einziges Mal war das weit entfernte Rumpeln zu hören. Es ähnelte weder Kanonendonner noch einem Gewitter. Es war ein seltsames und eigenartiges Geräusch, das sich niemand erklären konnte.
Hasard gab es schließlich schulterzuckend auf, das Geräusch zu identifizieren.
Die Regenwolke war noch nicht ganz heran, als auch schon feine Schleier in langen Bahnen vom Himmel stiebten. Im Wasser sah es aus, als würden winzige Steine hineingeworfen. Ein anhaltend rauschendes Geräusch war zu hören.
Dann erreichte der Regen die Schebecke. Er war warm, brühwarm fast und nahm den Staub mit sich. Innerhalb von wenigen Augenblicken wusch er die Decks von vorn bis achtern.
Sir John schien das zu gefallen. Der Aracanga hockte krächzend auf der Rahrute und sträubte das Gefieder. Dabei duckte er sich und begann mit den Flügeln wild zu schlagen. Der warme Guß bereitete ihm sichtliches Behagen.
Auch der Schimpanse Arwenack genoß den Regenschauer. Er hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und blickte nach oben. Dabei bleckte er das Gebiß und schien zu grinsen. Den Regen verteilte er schließlich mit den Händen auf seinem Fell und strich es glatt. Danach sah er aus, als hätte ihn jemand angestrichen.
Der bunte Papagei dagegen schrumpfte immer mehr zusammen und wurde zusehends kleiner. Sein Hals schien länger zu werden, und schließlich sah er wie ein hungriger Geier aus.
„Kanalratten!“ zeterte er lauthals und krächzend, was der Profos mit einem wohlgefälligen Kopfnicken zur Kenntnis nahm.
Schließlich fiel der Regen so dicht, daß die Wasseroberfläche nur noch als eine graue Masse zu erkennen war.
„Von oben nichts mehr zu sehen, Sir!“ rief Jack Finnegan, der zusammen mit seinem dicken Freund Paddy Rogers Ausguck hatte.
Seine Worte wurden von einem Dröhnen überlagert, das in ein heftiges Trommeln überging. Ein Schauer, so dicht, daß er den Männern fast den Atem nahm, prasselte nieder. Dicke schwere Tropfen klatschten schräg an Deck und die Gesichter.
„Wir segeln in die Bucht“, sagte Hasard zu Piet Straaten, der am Ruder stand. „Nehmt auch gleich die Segel weg und setzt den Anker. Wir kennen die Strecke nicht. Der Küstenverlauf ist hier sehr tückisch. Sobald der Schauer vorüber ist, segeln wir weiter.“
Das Letztere war an den Profos gerichtet, der sein „Aye, aye, Sir“, brüllend durch den Regen schmetterte.
Ein leichter Schwenk nach Steuerbord folgte. Die Schebecke nahm Kurs auf die Bucht, von der wiederum andere Lagunen und kleinere Buchten abzweigten. Alles war jetzt grau in grau, das Ufer ließ sich kaum noch erkennen.
Die Rahruten wurden abgefiert, dann gab der Profos den Befehl zum Ankersetzen.
Er hatte das Wort noch nicht ausgesprochen, als ein leichter Ruck durch das Schiff ging. Da keiner darauf vorbereitet war, fielen ein paar Arwenacks Unerwartet auf die Planken. Carberry landete auf der Nase, denn er hatte gerade die Hände in die Hosentaschen geschoben und konnte sich nicht mehr abstützen. Ein derber Fluch war zu hören, der besagte, daß sie den Anker nicht mehr zu setzen brauchten.
Sie lagen fest.
„Sehr lustig“, sagte Hasard spöttisch. Der Regen troff ihm von den Haaren und weiter in das am Hals offene Hemd. „Ich dachte immer, das Aufbrummen sei nur Donegal vorbehalten, der es darin ja zu einer gewissen Perfektion gebracht hat. Jetzt passiert uns das auch.“
„Kein Wunder“, brummte Dan. „Man hat ja die Hand vor den Augen nicht mehr gesehen. Nicht einmal das Land ist jetzt noch richtig zu erkennen. Was jetzt, Sir?“
„Gar nichts. Wir warten den Schauer ab. Offenbar sind wir auf weichen Sand gelaufen, es kann also nicht so schlimm sein.“
„Alles halb so wild!“ rief Don Juan. „Das Land ist ziemlich weit zurückgetreten. Es herrscht also Ebbe, und die wird bekanntlich durch die auflaufende Flut bald wieder ausgeglichen. Wir sitzen auch nicht sehr fest, sonst wäre der Ruck stärker gewesen. Ein paar Stunden im Schlick, und wir können wieder weitersegeln.“
Das Aufbrummen wurde ziemlich gelassen hingenommen. Es waren ja keine Korallen, die ihnen den Rumpf aufgeschlitzt hätten, es war weicher Untergrund – Sand oder Schlick. Mit etwas Geduld würden sie von ganz allein wieder aufschwimmen.
Aus dem harten Trommeln wurde leises Rauschen. Ganz übergangslos hörte der tropische Schauer auf. Der Rest der abgeregneten Wolke zog langsam weiter zum Landesinnern.
Dort wallte jetzt Brodem auf. Das morastige Küstengebiet begann zu dampfen und zu kochen. Riesige Nebelwolken ballten sich zusammen und zogen über das Land.
Hasard wischte sich die Nässe aus dem Gesicht und strich sich über die Haare. Zusammen mit Ferris Tucker ging er zur Backbordseite am Schanzkleid und warf einen Blick aufs Wasser.
„Wirklich nicht schlimm“, meinte Ferris nach einem kritischen Blick. „Unter uns befindet sich fast reiner Sand mit ein paar Muscheln.“
Das Land in der Bucht war jetzt wieder klar und deutlich zu erkennen. Der Strand war merkwürdig gelb und mit Muschelschalen dicht an dicht übersät. Ein paar klatschnasse Vögel hockten auf den Bäumen, die mit Tillandsien durchsetzt waren. Träge begannen sie damit, ihr Gefieder zu putzen. Der Anblick der Männer schreckte sie nicht auf. Sie nahmen sie gar nicht zur Kenntnis.
Die Bucht war sehr seicht, wie der Seewolf feststellte. Mangroven säumten die Ufer, aber jetzt standen sie fast auf dem Trocknen. Es war deutlich zu sehen, daß der Tidenwechsel folgte. In etwa ein oder zwei Stunden, so schätzte Hasard, konnten sie wieder flott sein.
„Also warten wir ab“, entschied er. „Nach dem Mittagessen geht es weiter.“
Er sog tief die Luft ein und rümpfte die Nase. Ein etwas stechender Geruch lag in der Luft, mehr ein pestilenzartiger Gestank, der aus dem Wasser und gleichzeitig vom Land zu stammen schien. An etlichen Stellen in der ruhigen Lagunenbucht sprudelte es, und dann stiegen immer wieder kleine perlende Blasen hoch. Ein Schwall brühwarmer Luft drang an Bord. Die Regenwolke bewegte sich genau entgegengesetzt wie die warme Luft. Es gab zwei verschiedene Strömungsrichtungen.
Die Sonne knallte jetzt heiß vom Himmel und spiegelte sich im Wasser, aus dem pausenlos Luftperlen aufstiegen.
„Ich weiß nicht“, motzte Old O’Flynn, „aber bei diesem Geruch vergeht mir der Appetit aufs Essen. Hier stinkt es, als lägen überall tote Fische herum. Was, zum Teufel, ist das nur?“
„Da kann einem kotzübel werden“, sagte Bill. „So einen ähnlichen Gestank habe ich mal in die Nase gekriegt, als es einen Vulkanausbruch gab. Das roch genauso entsetzlich.“
„Wird sich schon wieder legen“, brummte Hasard. „Vielleicht stinkt die ganze moorähnliche Gegend so. Da verfault alles, und wenn ein warmer Regen fällt, wird es noch schlimmer.“
Über den Muschelstrand stolzierte ein langbeiniger Vogel mit einem langen gebogenen Schnabel. Er äugte zur Schebecke, verlor aber gleich das Interesse an dem ungewohnten Anblick und beschäftigte sich eifrig damit, einzelne Muscheln umzudrehen.
Fand er etwas Eßbares, dann trug er die Muschel zu einem größeren Stein, legte sie sorgfältig darauf und hackte mit seinem langen Schnabel auf sie ein, bis sie zersprang. Danach begann er gierig zu fressen und zu würgen. Die Arwenacks ergötzten sich etliche Minuten an dem Anblick, doch dann lenkte sie etwas anderes von dem großen Vogel ab.
Das in der Bucht jetzt spiegelglatte Wasser wurde plötzlich getrübt. Ein Zittern durchlief die Bucht, und für einen Lidschlag lang schien die ganze Landschaft zu beben. Gleichzeitig war erneut ein dumpfes Grollen zu hören. Es mußte aus großer Tiefe unter der Erde stammen.
Winzige Wellen breiteten sich aus, die zitternd zum Muschelstrand liefen. Die kleinen Wellen liefen kreuz und quer durcheinander.
„Ein Beben, ein leichtes Beben“, sagte der Kutscher. „Das hat überhaupt nichts zu bedeuten. Die Erde bebt immer irgendwo ein bißchen. Das war auch mit dem weit entfernten Grollen von vorhin identisch. Irgendwo wird es kleine Vulkane geben.“
Sie konnten beobachten, daß der Muschelknacker am Strand regelrecht nervös wurde. Er begann, auf einem Bein zu hüpfen und mit den dunklen Flügeln zu schlagen. Dabei gab er ein paar heisere Krächzlaute von sich.
Auch die anderen Vögel in den Bäumen und Mangroven wurden unruhig, als der reiherähnliche Vogel am Strand über die Muscheln rannte; immer schneller wurde und schließlich abhob.
„Wenn die Tiere so unruhig werden, stimmt meist etwas nicht“, sagte Hasard, „und ausgerechnet jetzt sitzen wir fest. Laßt mal die Jolle zu Wasser, für alle Fälle.“
Der Kutscher zeigte auf Sir John und Arwenack. Die Bordhündin Plymmie hockte auf der Gräting und sah aufmerksam zum Land hinüber. Ihre Ohren spielten unruhig.
„Unsere Tiere merken nichts, Sir. Die benehmen sich ganz normal. Sir John scheint nach dem Regenguß eher etwas schläfrig zu sein, und Arwenack gibt sich ganz unbekümmert.“
„Mag sein, aber das Verhalten der anderen Tiere finde ich doch recht merkwürdig. Sie geraten fast in Panik.“
Am Strand, dort wo es noch ein wenig Wasser gab, zischte es. Wieder stiegen Blasen auf, diesmal weitaus größere, die an der Oberfläche mit sattem Knall zerplatzten.
Die Zwillinge, Carberry und ein paar andere hatten inzwischen die Jolle abgefiert. Sie tanzte leicht auf dem gekräuselten und bewegten Wasser, das aus unerklärlichen Gründen immer stärker in Wallung geriet. Das Phänomen war ihnen allen unerklärlich, obwohl der Kutscher darauf beharrte, es müßten winzige Beben sein.
Von den Tieren war jetzt nichts mehr zu sehen. Ausnahmslos alle waren verschwunden. Bucht und Strand waren verlassen, und auch weiter zum Landesinneren hin schwieg die Tierwelt, als stünde eine schreckliche Katastrophe bevor.
„Ich weiß nicht“, murmelte Smoky etwas unbehaglich und hob die Schultern hoch. „Das erscheint mir hier wie eine verwunschene Welt voller Geister.“
„Jetzt fang du auch bloß noch damit an“, sagte Old Shane, dem große Wasserperlen im grauen Bart hingen. „Das liegt ganz einfach an der Witterung. Von Geistern ist weit und breit nichts zu entdecken.“
„Die sind ja auch unsichtbar“, entgegnete der Decksälteste.
An etlichen Stellen in der Lagune begann es jetzt laut zu zischen. Dort, wo die Mangroven begannen, stieg eine Säule aus dem Flachwasser. Auf den ersten Blick wirkte es so, als blase ein Wal aus. Sie drehten sich zur Seite und blickten zu der Stelle. Das Zischen und Brodeln legte sich gleich darauf wieder.
Dafür drang ein intensiver und recht eigentümlicher Geruch in ihre Nasen. Er ließ sich mit nichts vergleichen.
„Ich bin froh, wenn wir aus dieser Schlickecke wieder raus sind“, sagte Carberry, wobei er mißtrauisch das Umfeld musterte. „Hoffentlich dauert es mit der Flut nicht mehr so lange.“
„Wir könnten das abkürzen“, schlug Ben Brighton vor, „indem wir die Jolle vorspannen und die Schebecke herausziehen. Oder wir bringen einen Anker aus und hieven das Schiff über Anker vom Grund.“
Hasard schüttelte den Kopf.
„Das würde zu lange dauern. Außerdem wäre es eine Knochenarbeit bei dieser brütenden Hitze. Hat jemand Lust dazu?“
Es stellte sich heraus, daß keine große Begeisterung aufkam, zumal es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Flut sie wieder aufschwimmen ließ. Träge wurden ein paar Köpfe geschüttelt, die anderen, denen sogar das noch zuviel Arbeit war, sagten gar nichts und starrten nur zu den Mangroven hinüber. Auch ihre Begeisterung hielt sich sehr in Grenzen.
„Also warten wir es ab“, sagte Hasard gleichmütig. „Es ist ja nicht so, daß wir keine Zeit hätten.“
Die Hitze wurde noch drückender. Kein Lufthauch bewegte sich mehr. Alles war wie erstarrt, als befände sich die Natur in einem tiefen Schlaf.
Hasard ging nach achtern in seine Kammer. Ein paar andere verschwanden ebenfalls unter Deck, obwohl die Hitze da noch schlimmer war und die Luft trotz offener Grätings nicht mehr zirkulierte. Schließlich befanden sich nur noch ein paar dösende Männer an Deck, die nichts weiter taten als zu warten.
Carberry beobachtete aus halbgeschlossenen Augenlidern Old Donegal, der sich halb in den Schatten eines Niederganges gehockt hatte und ständig mit dem Kopf wackelte, als sei er kurz vor dem Einnicken.
Der Profos konnte nicht sagen, daß ihm schlecht war, aber ein sehr flaues Gefühl breitete sich in ihm aus. Er war dösig und doch gleichzeitig hellwach, und er fand es belustigend, wie Donegal immer mit dem Kopf wackelte. Wie aus weiter Ferne hörte er den Kutscher und Mac Pellew in der Kombüse hantieren, aber das waren Geräusche, die immer leiser wurden, bis sie schließlich ganz verebbten.
Der Profos riß noch einmal mühsam die Augen auf, doch die Umwelt verschwand in flirrenden Linien vor seinen Blicken. Das Bild wurde immer unschärfer. Er registrierte lediglich, daß Old Donegal leise schnarchend zur Seite kippte und vor dem Schanzkleid liegen blieb.
Daß er selbst abnippelte, wurde ihm nicht mehr bewußt. Ihm wurde auch nicht schwarz vor den Augen. Ihn befiel nur eine riesige Müdigkeit, und er schloß wieder die Augen.
Ähnlich erging es den anderen Seewölfen, die sich irgendwo ein halbschattiges Plätzchen gesucht hatten. Kaum einer vermochte noch, die Augen offenzuhalten.
Smoky plierte ständig zu Will Thorne und Jan Ranse, die dicht nebeneinanderhockten und sich gerade etwas erzählt hatten. Der alte Segelmacher Will Thorne hörte scheinbar mit geschlossenen Augen zu, was Jan Ranse zu berichten hatte. Er rührte sich jedoch nicht.
Jans Erzählung wurde dann auch immer träger. Er brachte kaum noch ein Wort heraus und schwieg plötzlich. Smoky fand das sehr sonderbar, daß einer mitten beim Erzählen einfach einschlief, aber es lag wohl an der verdammten Hitze oder dem merkwürdigen Geruch, der die Schläfrigkeit verursachte.
Faul und träge ließ er seinen Blick noch einmal über das Deck gleiten. Irgend etwas alarmierte ihn. Er wollte aufspringen, um den anderen eine Warnung zuzurufen, doch ihm wurde alles total gleichgültig. Ist ja nicht schlimm, dachte er, mal ein halbes Stündchen einzunicken. Nachher würde man weitersehen.
Mit diesem Gedanken sank sein Kopf auf die Brust, und er stieß tief und seufzend die Luft aus.
Auf dem erhöhten Achterdeck hielt sich zu dieser Zeit nur noch Dan O’Flynn auf, der das große Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. Ben und Don Juan waren den Niedergang abgeentert und hatten sich im Schatten niedergelassen. Beide starrten vor sich hin und sprachen kein Wort. Sie stierten nur auf die Planken.
„Verdammte Hitze“, murmelte Dan. „Zum Ersticken ist das.“
Wieder gähnte er laut und ausgiebig. Er lehnte sich mit den Ellenbogen auf den Handlauf des Schanzkleides und blickte müde über das Deck.
Die Kerle dösten ausnahmslos alle oder pennten. Da hatte keiner mehr Saft in den Knochen. Er sah in gähnende Gesichter und ärgerte sich, daß das Gähnen so ansteckend war. Auch die Müdigkeit schien ansteckend zu sein.
„Verflucht noch mal“, murmelte er träge.
In seinen eigenen Knochen war auch kein Saft mehr, denn jede Bewegung ermattete ihn. Am liebsten hätte er sich der Länge nach auf den Planken ausgestreckt.
Warum eigentlich nicht? Ein paar Minuten nur, bis er wieder neue Kräfte gesammelt hatte. Nur ein paar Minuten …
Er blickte sich aus halbgeschlossenen Augen noch einmal um. Ben und Don Juan stierten immer noch die Planken an, aber jetzt hatten sie die Augen geschlossen, wie er erkannte. Sie genierten sich keineswegs, eine Runde zu schlafen.
Vermutlich tat Hasard das in seiner Kammer auch. Dann wurde ihm ganz entfernt bewußt, daß zumindest einer wach bleiben müsse, oder? Konzentriert versuchte er, die Landschaft zu mustern.
In den düsteren Mangroven lastete absolutes Schweigen. Er glaubte, die Muscheln am Strand leise knistern zu hören, als seien sie in Bewegung geraten. Kein noch so leichter Lufthauch bewegte Bäume und Sträucher.
Das einzige eintönige Geräusch war das Blubbern des Wassers, das keine Ruhe gab. Überall sprangen diese winzigen Bläschen hoch und sprudelten munter drauflos. Es war eine schweigende Welt, in die er blickte, eine unwirkliche Welt. Sonnenglast hing in dichten Schlieren weiter hinten im Land. Die Luft flimmerte wie in der Wüste, wenn es unheimlich heiß war.
Doch, da gab es noch ein paar andere leise Geräusche. Ein Klappern, ein Klirren, ein paar gemurmelte Worte. Die beiden Köche hantierten in der Kombüse, wo es noch heißer war als an Deck.
Dan beneidete sie nicht um die Arbeit. Er nahm sich vor, hinunterzugehen, um ihnen zu sagen, sie sollten das Essen verschieben und auf später verlegen, denn jetzt würde doch niemand essen. Er selbst hatte auch keinen Hunger, nicht einmal Appetit.
Dann wieder blickte er auf die Zwillinge Hasard und Philip, die mit entblößten Oberkörpern in der Nähe der Kombüse an Deck hockten. Auch sie schliefen, genau wie Plymmie, die den Kopf zwischen die Pfoten gelegt hatte und sich nicht bewegte.
Sehr seltsam war das alles. Er hatte das noch nie erlebt und fand auch keine Erklärung dafür.
Er konnte sich nicht vom Schanzkleid losreißen. Seine Ellenbogen waren auf dem Handlauf wie festgeleimt. Hat alles noch Zeit, überlegte er immer wieder, im Augenblick ist gar nichts wichtig, höchstens, daß er noch ein paar Augenblicke schlafen konnte. Zumindest wollte er sich ein wenig hinsetzen.