Seewölfe - Piraten der Weltmeere 641

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Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-055-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Fred McMason
Eine Handvoll verwegener Männer knackt die schwimmende Festung
Oktober 1598 – Küste von Mauretanien.
Die Zeit des Harmattan begann, ein Nordostpassat, der extrem trockenen Wind mit sich brachte.
Don Julio des Vilches, Kommandant der spanischen Kriegs-Galeone „Casco de la Cruz“ registrierte das mit sichtlichem Mißvergnügen. Er mochte diesen trockenen Wind nicht, der seine Gestalt noch mehr ausmergelte und ihn fast zur Mumie werden ließ. Er wirkte ohnehin schon mehr tot als lebendig.
Don Julio war ein schlapper, baumlanger, sehr dürrer und älterer Mann mit grauen Haaren und müden Augen, die jedoch sehr kalt, bösartig und berechnend blickten. Die tiefen Falten in seinem Gesicht ähnelten denen eines leeren Mehlsackes.
In letzter Zeit waren noch ein paar Falten mehr in seinem Gesicht, Falten, für die ein gewisser Philip Hasard Killigrew gesorgt hatte, der Mann, den sie den Seewolf nannten …
Die Hauptpersonen des Romans:
Don Julio de Vilches – der Capitán der „Casco de la Cruz“ träumt vom großen Sieg – und landet auf der Nase.
Don Eugenio Pergoza – träumt als Erster Offizier ebenfalls, und zwar davon, selber Kommandant zu werden.
Dogon – der Sprecher der befreiten Sklaven kennt die mauretanische Küste sehr genau, vor allem die Lage der Sandbänke.
Jean Ribault – als derzeitiger Kapitän der „Isabella IX.“ muß er in die Trickkiste greifen, um einen übermächtigen Gegner außer Gefecht zu setzen.
Edwin Carberry – hat eine neue Beschäftigung gefunden, die er „Kastanienfresser löschen“ nennt.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
1.
Die Stimmung auf dem Achterdeck der Kriegsgaleone war so frostig, als befänden sie sich auf einem Gletscher. Schuld daran war die mehr als üble Laune des alten Kommandanten.
Er hatte eine Niederlage einstecken müssen, die ihn nach eigener Ansicht etliche Jahre seines ohnehin nur noch karg bemessenen Lebens kosten würde. Genau genommen waren es zwei Niederlagen hintereinander.
Don Julio sollte in Santa Cruz de Tenerife einen aus elf Galeonen bestehenden Konvoi übernehmen, der von Havanna unterwegs war. Dieser Konvoi, beladen mit Gold, Silber und Kleinodien war nicht am Zielort eingetroffen. Statt dessen hatte er erfahren, daß dieser riesige Geleitzug wegen widriger Winde und anderer Unannehmlichkeiten nach Boa Vista auf den Kapverden verschlagen worden war.
Diese Geschichte hatte Don Julio ein Mann untergejubelt, der angeblich zum Konvoi gehörte und Don Esteban de Mallorca hieß. Die Dons nannten ihn El Lobo del Mar, aber das wußte Don Julio nicht, denn sein Auftrag war sehr glaubwürdig gewesen.
Um schnellste Hilfe zu gewähren, war die Kriegsgaleone mit Kurs auf Boa Vista ausgelaufen, aber dort befand sich zum Erstaunen Don Julios kein spanischer Geleitzug, nicht mal ein einziges Schiff.
Don Julio unterstellte daraufhin den Portugiesen auf Boa Vista, den Konvoi „unterschlagen“ zu haben.
Diese ungeheuerliche Unterstellung ließen wiederum die obersten Portugiesen nicht auf sich sitzen, und so zahlten sie die Beleidigung mit schweren Schiffsgeschützen umgehend zurück.
Ergebnis: Der Konvoi war spurlos verschwunden, Don Julios Seelenheil war stark in Mitleidenschaft gezogen, und seine Kriegsgaleone hatte eine Menge Beschädigungen aufzuweisen. Was das alles zusammengenommen für Konsequenzen für ihn persönlich hatte, daran mochte er gar nicht denken.
So stand der Alte verbiestert, mürrisch, ausgelaugt und von einem unbeschreiblichen Zorn erfüllt auf dem Achterdeck seines Schiffes.
Er dachte nach, sehr gründlich und sehr lange und gelangte schließlich zu der beschämenden Erkenntnis, daß man ihn kräftig geleimt hatte, und zwar auf eine so infame Art, wie sie ihm nicht einmal im Traum eingefallen wäre.
Er dachte über das Auftreten von Don Esteban de Mallorca und das seines Ersten Offiziers, Don Juan de Montserrat, nach, und er sah die beiden schwarzhaarigen Männer im Geiste immer wieder vor sich.
Nein, der Gedanke war einfach zu ungeheuerlich, wenn er ihn noch weiter verfolgte. Die beiden hatten einen einwandfreien Eindruck hinterlassen, obwohl er ihnen mit allergrößter Skepsis begegnet war. Sie hatten versiegelte Dokumente von dem Generalkapitän und Befehlshaber des Konvois vorgelegt und auch weitere Dokumente, die vom Gouverneur von Havanna unterzeichnet und gesiegelt waren.
Als sie von Santa Cruz aus in See gegangen waren, war die „Isabella“ sogar direkt vor ihnen vorausgesegelt, um auf Boa Vista den weiteren Schutz zu übernehmen. Aber diese „Isabella“ mit den überlangen Masten und der starken Armierung war ebenfalls spurlos verschwunden.
Das alles war nicht nur mysteriös, es war einfach unbegreiflich. Möglicherweise lag doch irgendwo ein Irrtum vor, der sich später aufklären würde.
Der Erste Offizier, Don Eugenio Pergoza, ein Mann mit einer schiefen Nase und einem dünnen Oberlippenbart, der sehr von sich eingenommen war, warf Don Julio einen Blick unter halbgesenkten Lidern zu. Er wollte etwas sagen, doch als er den bösen Blick des alten Habichts bemerkte, verkniff er sich das und schwieg. Don Julio war zur Zeit nicht ansprechbar. Man mußte ihn für einige Zeit sich selbst überlassen, sonst gab es ein höllisches Donnerwetter.
Don Julio stand, als sei er zutiefst beleidigt, an der Schmuckbalustrade und schnüffelte mißmutig in den trockenen Harmattan, der ihm Mund und Nase austrocknete.
Die Küste Mauretaniens zog vorüber, eintönig, trostlos, von Wüstenregionen bestimmt. Hin und wieder tauchte eine kleine Oase in der Einöde auf, aber Menschen waren keine zu sehen. Der ganze Landstrich schien wie ausgestorben zu sein.
Als Don Julio sich ihm ruckhaft zuwandte, zuckte der Erste ein wenig zusammen. Er sah in das vertrocknete Gesicht mit den vielen Hautfalten am Hals, und er sah die bösartig verkniffenen Lippen, die nur noch ein Strich waren. In den sonst müden Augen lag alle Boshaftigkeit dieser Welt. Der Blick war kalt und tödlich.
„Wir sind zu hoch am Wind“, sagte Don Julio ärgerlich. „Warum sagen Sie das diesem Fettwanst von Dritten Offizier nicht! Oder haben Sie das selbst noch nicht bemerkt? Ich will so schnell wie nur möglich in Santa Cruz sein und keine unnötige Zeit vertrödeln. Legen Sie das Schiff gefälligst besser an den Wind.“
Der Erste wußte, daß das nicht stimmte. Sie lagen so gut am Wind wie es nur ging, aber der Alte mußte Dampf ablassen, und dazu war ihm jedes Mittel recht.
Er widersprach auch nicht, aber er gab den Anpfiff an den Dritten Offizier, Antonio Quieras, weiter. Der Mann mit dem gewaltigen Leib einer Riesentrommel wurde abgekanzelt, bis er fast in den Planken versank.
Doch es änderte sich so gut wie gar nichts. Jedenfalls lief die riesige Galeone deshalb nicht schneller.
Dicht unter der Küste und bei nur leicht bewegter See waren fast alle Rohre des gewaltigen Dreideckers ausgerannt. Auf dem Schiff wurde pausenlos ausgebessert und geflickt, denn die portugiesischen Stücke hatten beachtliche Schäden hinterlassen.
Don Julio wollte in seinem heiligen Zorn gewappnet sein, falls „irgendein Bastard“ auftauchte. Daher befand sich ein Großteil der Mannschaft ständig auf dem Sprung.
Für Pergoza war es allerdings unwahrscheinlich, daß hier in dieser Einöde andere, oder gar feindliche Schiffe auftauchten.
„Ich unternehme einen Rundgang“, sagte er hastig.
„Sie unternehmen gar nichts“, fauchte der Alte zurück. „Ihr Platz ist hier auf dem Achterdeck, verstanden?“
So standen sie wie bisher fast reglos herum wie abgeschlaffte Marionetten. Don Julio hüllte sich weiter in schweigenden Zorn.
Mehr als zwei Stunden vergingen in eisigem Schweigen. Jeder fühlte sich unbehaglich, und jeder vermied die geringste Berührung mit einem anderen. Hin und wieder war nur ein Räuspern zu vernehmen, und das leise Ächzen des Kolderstocks, wenn der Rudergänger ihn bewegte.
Nach einer endlos scheinenden Ewigkeit wandte Don Julio seinem Ersten wieder ruckhaft das verkniffene Gesicht zu.
Pergoza schluckte, denn er rechnete erneut mit einem Donnerwetter.
„Was erwartet uns in Santa Cruz, Señor Pergoza – haben Sie darüber schon nachgedacht?“
Die Frage erfolgte ganz überraschend. Pergoza rang sichtlich um Fassung.
„Ihre Meinung will ich hören!“ blaffte der Kommandant. Er hatte sich von der Schmuckbalustrade halb zur Seite gewandt und sah den Ersten mit seinem kalten Fischblick an.
„Ich habe mir noch keine Meinung gebildet, Don Julio.“
Pergoza wollte sich ätzenden Spott oder einen neuerlichen Wutausbruch ersparen, deshalb hielt er mit seiner Meinung vorerst auch noch hinter dem Berg. Der Alte würde seine Meinung zerpflücken oder ihn der Lächerlichkeit preisgeben, wenn sie sich nicht mit seiner eigenen Meinung deckte.
„Keine Meinung gebildet“, wiederholte Don Julio verächtlich. „Sie sollten sich zumindest darüber eine Meinung bilden oder wenigstens nachdenken, daß wir demnächst vor einem Kriegsgericht stehen, falls dieser dreimal verfluchte Geleitzug nicht wieder auftaucht. Wenn die Krone die Schatzschiffe als Verlust abbuchen muß, können Sie Ihren Kopf ebenfalls als Verlust abbuchen – und ich den meinen auch. Wahrscheinlich wird man uns vorher aber noch ein bißchen foltern und uns unterstellen, wir hätten den Konvoi verschwinden lassen. Und da haben Sie sich noch keine Meinung gebildet, Señor? Vielleicht denken Sie spätestens dann darüber nach, wenn man Ihnen die Garotte um den Hals legt. Die Würgeschraube wird Ihr Gedächtnis schlagartig aktivieren, aber nicht lange.“
„Es ist nicht unsere Schuld, wenn der Geleitzug nicht aufzufinden ist“, sagte Pergoza lahm. „Wir haben getan, was in unseren Kräften steht und uns sogar noch mit den Portugiesen angelegt.“
„Auch das könnte Konsequenzen nach sich ziehen. Wir befinden uns schließlich nicht im Kriegszustand mit Portugal. Aber ich habe nun einmal die Verantwortung für die Silberschiffe, und einen gewissen Teil dieser Verantwortung tragen Sie mit. Daran führt kein Weg vorbei. Ich will jetzt endlich ihre Meinung hören. Was ist mit dem Konvoi geschehen? Was hat das Auftreten dieser Männer von der ‚Isabella‘ damit zu tun, und warum war der Konvoi nicht auf den Kapverden, obwohl wir alle Unterlagen darüber in Händen hielten? An dieser Sache ist etwas oberfaul, sie stinkt zum Himmel.“
„Es muß alles auf einem fürchterlichen Irrtum beruhen, Don Julio. Ich habe keine andere Erklärung für den unglaublichen Vorfall. Ich bin aber sicher, daß sich in Santa Cruz alles aufklären wird.“
„So, das glauben Sie in Ihrer stillen Einfalt. Ich bin sicher, daß sich gar nichts aufklären wird und wir weiterhin mit leeren Händen dastehen wie bestellt und nicht abgeholt.“
„Was sollte denn sonst geschehen sein?“ fragte Pergoza fast flüsternd und mit zuckenden Lippen. Seine Blasiertheit war wie weggeblasen.
Don Julio maß ihn von oben bis unten mit einem langen Blick.
„Vielleicht hat man uns angeschissen“, sagte er drastisch. „Richtig nach Strich und Faden übers Ohr gehauen.“
„Sie glauben, es gibt den Konvoi gar nicht?“
„Idiot“, knurrte der Alte. „Man sollte Sie in einem Faß alten Olivenöls ersäufen. Natürlich gibt es den Konvoi. Wir haben die Namen der Schiffe, der Kapitäne, der Ladungen und noch eine Menge mehr. Wir wissen, daß er losgesegelt ist, aber er traf nicht ein, und er war auch nicht auf den Kapverden, obwohl man uns das vorerzählen wollte. Heiliger Antonius, starren Sie mich nicht so dämlich an und überlegen Sie gefälligst mit, wie wir unsere Hälse aus der Schlinge ziehen. Kann es noch eine andere Möglichkeit geben?“
„Haben Sie denn noch eine andere in Betracht gezogen, Don Julio?“ fragte Pergoza hilflos.
„Das will ich von Ihnen wissen, verdammt noch mal!“
Pergoza, der die drastische Ausdrucksweise des Kommandanten nicht gewohnt war, zuckte jedesmal zusammen.
„Es könnte eine geben“, sagte er dann zögernd, „aber sie klingt sehr abenteuerlich und unwahrscheinlich.“
„Reden Sie endlich. Hier ist sowieso alles abenteuerlich und unwahrscheinlich, also heraus damit!“
„Gehen wir einmal davon aus, daß ein oder zwei Kapitäne … Nein, das ist doch zu unwahrscheinlich, Don Julio.“
„Ach so, ich beginne zu verstehen.“ Im faltigen Gesicht des Alten erschien die schwache Andeutung eines Lächelns. Es war mehr ein boshaftes Grinsen. Dann lachte er einmal stoßartig auf. Es hörte sich so an, als sei ihm die Galle bis in den Hals hochgestiegen.
„Gut, gut“, sagte er, „wahrhaftig sehr ergötzlich. Das ist ja eine gänzlich neue Perspektive. Hm, Sie sind gar nicht so dumm, wie ich dachte. Sie glauben also, ein oder zwei Kapitäne hätten sich abgesprochen und den Konvoi einfach geklaut, was? Hahaha – hahaha!“
Auf dem Achterdeck der Kriegsgaleone schien Hochstimmung zu herrschen, von einem Augenblick zum anderen.
Don Julio de Vilches lachte, er lachte wahrhaftig. Noch niemand hatte ihn lachen sehen, und so lachten auch der Rudergänger und ein paar andere pflichtschuldigst mit, weil der Kommandant sich kaum noch beruhigen konnte.
Der Erste wollte auch grinsen, in der irrigen Annahme, den Alten etwas aufgeheitert zu haben, doch er verkniff es sich gerade noch, denn das welke Gesicht vor ihm wurde augenblicklich wieder ernst, als hätte es dieses Lachen nie gegeben. Die alte Boshaftigkeit kehrte in die Augen zurück, der Mund verkniff sich erneut zu einem dünnen Strich.
„Sie – Sie sind ja verrückt, Señor“, sagte der Alte kalt. „Wie stellen Sie sich das in der Realität vor? Glauben Sie ernsthaft, daß zwei Kapitäne beschließen, die Silberschiffe an sich zu reißen, um damit auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden? Und glauben Sie weiter, die anderen Kapitäne sind ebenfalls Verbrecher und haben nur auf eine derartige Gelegenheit gewartet? Und alle, alle spielen mit, weil das ja die einfachste Sache von der Welt ist? Mann, was geht in Ihrem Kopf nur vor sich? Der Gedanke ist lächerlich, absurd. Das hat es in der ganzen Geschichte noch nie gegeben.“
„Ich habe nur einen abenteuerlichen Gedanken geäußert“, erwiderte Pergoza eingeschnappt. „Aber ich werde meine Zunge in Zukunft hüten, weil Sie ja doch alles lächerlich und absurd finden.“
Wider Erwarten zeigte Don Julio doch Interesse.
„Wie passen denn dieser Esteban de Mallorca und dieser Juan de Montserrat in die Rolle, wenn wir schon davon ausgehen wollen?“
„Das weiß ich nicht“, entgegnete Pergoza störrisch.
Da griff Don Julio ganz überraschend zu und packte die blauen Aufschläge seiner Uniformjacke. Sein Atem berührte Pergozas Gesicht, und er stieß heiser hervor: „Das will ich jetzt auch ganz genau wissen. Raus damit!“
„Sie werden wieder über mich lachen, Don Julio.“
Don Julio ließ ihn los. Er atmete heftig, als habe diese kleine Anstrengung ihn sehr erschöpft.
„Sagen Sie es. Ich werde nicht lachen, ich kann gar nicht lachen.“
„Die beiden Männer könnten Verschwörer gewesen sein, die sich mit den Kapitänen schon in Havanna abgesprochen haben. Man schickte sie vor, um alles sehr glaubwürdig erscheinen zu lassen. In Wirklichkeit ist der Konvoi längst zu einem Land unterwegs, in dem Spanien keine Machtbefugnisse hat. Die beiden Kerle sind natürlich mit ihrem Schiff bei Nacht und Nebel ebenfalls verschwunden.“
„Und dann?“
„Sie nehmen die Ladung, verteilen sie und zerstreuen sich in alle Winde.“
„Welches Land?“
Der Erste zuckte mutlos mit den Schultern.
„Brasilien vielleicht, dort sitzen die Portugiesen, und keiner würde ihnen etwas tun. Natürlich nur eine Annahme, Don Julio, die durchaus nicht zutreffend sein muß. Sie werden ganz sicher darüber lachen.“
Don Julio lachte jedoch nicht. Sein Gesicht nahm eine etwas kränkliche Farbe an, und er schluckte ein paarmal heftig.
Pergoza entdeckte zu seinem Erstaunen, daß Don Julio das Wasser in den Augen stand. Der Kommandant wandte sich um und wischte sich verstohlen über das Gesicht.
„Ist Ihnen nicht gut, Don Julio?“ fragte er besorgt.
Er erhielt keine Antwort. Don Julios Gesicht verlor jede Farbe. Er wurde bleich und schwankte. Dann stützte er sich hart auf den Handlauf der Balustrade. Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn, die der Harmattan sofort trocknete.
Der Erste brüllte nach einem Feldscher, und Augenblicke später erschien ein hagerer Mann mit einem unrasierten Gesicht.
Aber da war Don Julio wieder Herr über sich selbst. Er blies die Wangen auf und herrschte den Feldscher grob an.
„Verschwinden Sie, und lassen Sie sich auf dem Achterdeck nur dann blicken, wenn ich Sie persönlich rufe. Kümmern Sie sich um andere, mir fehlt nichts.“
Der Feldscher verschwand nach einem furchtsam-neugierigen Blick wieder.
Der Rudergänger lauerte auf seine Ablösung. Er konnte es kaum erwarten, die Neuigkeiten unter das Decksvolk zu streuen. Was er da alles mitgekriegt hatte, war eine Ungeheuerlichkeit, und er würde schon dafür sorgen, daß es bald die Möwen von den Rahen pfiffen.
Als seine Ablösung dann endlich erfolgte, nahm ihn der Erste Offizier zur Seite und packte ihn am Arm.
„Ein Wort an das Decksvolk von dem, was hier gesprochen wurde, und ich lasse Ihnen zweihundert Hiebe verabreichen“, sagte er. „Wenn Sie die überleben, werden Sie zusätzlich gekielholt. Ab jetzt!“
Pergoza wandte sich wieder dem Alten zu, doch dessen Gesichtsausdruck war völlig abwesend. Er sah und hörte nichts, er starrte nur auf die silbrige Fläche des Wassers und wirkte, als sei er im Stehen gestorben. Nur seine durchsichtigen Hände mit den blauen Adern lagen wie die Krallen eines Geiers auf dem Handlauf, und an seiner linken Halsseite zuckte wild eine Ader.
Eine halbe Stunde verging, bis in Don Julio wieder das Leben zurückkehrte. Er sah um Jahre gealtert aus.
2.
Der Küstenverlauf hatte sich nicht geändert, und auch der Harmattan blies unverändert sein unangenehm trockenes Lied. Er blies in den Wanten und Pardunen und ließ sie schauerlich aufklingen, und er fuhr mit seinem wilden Geräusch den Männern in die Gesichter.
„Brasilien“, sagte Don Julio in die fast geisterhaft wirkende Stille hinein. Er sprach zu sich selbst und erwartete offensichtlich auch nicht, daß ihm jemand zuhörte. „Das könnte durchaus passen, dort würde ihnen niemand etwas tun, wahrhaftig nicht. Sie geben einen Teil der Beute an die Portugiesen ab und führen danach ein beschauliches Leben bis an ihr unseliges Ende.“
„Es ist nur eine abenteuerliche Annahme“, sagte Pergoza leise. „Sie muß ja nicht stimmen.“
Er hatte das Gefühl, als müsse er Don Julio Trost zusprechen, obwohl er Trost jetzt selbst bitter nötig hatte. Aber der Alte tat ihm auf irgendeine unerklärliche Art leid.
„Nein, sie muß nicht stimmen“, sagte Don Julio. „Ich muß jetzt jedoch eine Entscheidung treffen. Wir können nicht vor die spanische Admiralität hintreten und sagen: ‚Es tut uns außerordentlich leid, ihr ehrenwerten Señores, aber den Konvoi konnten wir nicht finden. Wir bedauern das zutiefst.‘ Nein, das geht nicht, das wäre wahnsinnig.“
„Was können wir dann tun, Don Julio?“
„Wir segeln zunächst nach Santa Cruz zurück.“ Der Alte, der Pergoza um mehr als Haupteslänge überragte, versuchte seine Schultern zu straffen, doch die Geste bewirkte, daß er nur noch schlapper und hinfälliger aussah. „Es gibt immerhin noch die eine Möglichkeit, daß sich wirklich alles als Irrtum herausstellt. In Santa Cruz werden wir mehr erfahren, da bin ich ganz sicher.“
„Dann bleiben wir auf dem Kurs?“
„Ja, natürlich.“
Die Gedanken der beiden Männer bewegten sich im Kreis. Don Julio grübelte verzweifelt über diese mehr als peinliche Sache nach, gelangte jedoch zu keinem brauchbaren Ergebnis. Er versuchte, die beiden Männer zu analysieren, die ihm die Geschichte mit dem Konvoi aufgetischt hatten, doch auch das brachte nichts ein.
Er kam einfach nicht weiter. Schon irgendwo auf dem Atlantik mußte sich die Spur des Konvois verloren haben. Die Annahme, die Kapitäne hätten sich abgesprochen und tatsächlich nach Brasilien abgesetzt, erschien ihm längst nicht mehr so abenteuerlich.
„Angenommen“, begann der Erste nach einer Weile, „wir erfahren auch in Santa Cruz nichts Neues. Wie soll es dann weitergehen, Don Julio?“
„Dann werde ich diese Halunken auf eigene Verantwortung jagen, ohne mir dazu die Erlaubnis in Spanien zu holen“, entgegnete der Kommandant entschlossen. „Wir können ohne die Schatzschiffe nicht mehr zurückkehren, das ließe mein Stolz nicht zu. Ich werde die südamerikanischen Küsten solange abfahren, bis wir eine Spur finden.“
Don Julio hieb wütend mit der Hand durch die Luft. „Ich glaube es trotzdem nicht“, fügte er störrisch hinzu. Aber das sagte er nur, um sich selbst zu beruhigen.
Wieder vergingen etliche Minuten in dumpfem Schweigen. Die Mannschaft war anders als sonst. Fast alle wirkten verkrampft oder ängstlich, denn kaum einer von ihnen wußte genau, was hier überhaupt vor sich ging.
Die wildesten Gerüchte wurden in Umlauf gesetzt. Die Mannschaft wurde allerdings auch nicht aufgeklärt. Was hier passiert war, ging nur die oberen Chargen etwas an.
Pergoza hatte alle Ausgucks doppelt besetzen lassen, und ihnen eingeschärft, auf alles zu achten, was irgendwie von der Norm abwich. Auch gesichtete Leute in Küstennähe sollten sofort gemeldet werden, selbst kleine Fischerboote waren davon nicht ausgenommen.
Noch am Vormittag dieses Tages wurden sie fündig. Einer der Ausgucks schrie sich die Kehle heiser.
„Masten Steuerbord voraus dicht unter Land!“ brüllte er.
Dieser Ruf riß den Alten schlagartig aus seinem lethargischen Zustand. Sofort ließ er sich ein Spektiv geben und blickte angespannt zu der angegebenen Stelle.
„Ich sehe nichts!“ rief er wütend und ungeduldig.
Pergoza sah auch noch nichts, denn der Ausblick, den die Männer da oben hatten, war wesentlich weitflächiger und größer.
Aber nach einer Viertelstunde entdeckte er ebenfalls die Masten eines Schiffes hinter einer Landzunge. Sie waren noch ganz dünn und kaum zu bemerken.
Seine Finger zitterten so stark, daß er das Spektiv kaum halten konnte. Das Bild verwackelte und verschwamm vor seinen Augen. Es dauerte lange, bis er die Masten wieder entdeckte.
Das Schiff selbst war nicht zu sehen. Eine Landzunge verbarg es vor seinen Blicken.
„Gefechtsbereitschaft anordnen, Señor Pergoza“, befahl er. „Kurs halten auf die Landzunge. Ich glaube, wir haben eine erste Spur, denn was bewegt eine Galeone, diesen öden Küstenstrich anzulaufen? Es muß eine Galeone sein, ich kann mir nichts anderes vorstellen.“
„Es muß so sein“, sagte der Erste zögernd. „Vermutlich ist es nur ein Portugiese.“
„Ein Portugiese soll mir auch recht sein“, knurrte Don Julio. Er mußte seinen Zorn und seine riesengroße Enttäuschung abreagieren. Aber dieses Schiff wollte er sich genau ansehen.
Das Schiff, das hinter der Landzunge lag, war die „Isabella“, die zur Zeit der Franzose Jean Ribault befehligte. Sie hatten fünf Dutzend Sklaven an Bord, die ihnen der Kapitän der Kriegsgaleone „Aguila“ regelrecht aufgedrängt hatte.