Seewölfe Paket 31

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Aber eins vergaß Bonger nicht: seine Bootslaterne brannte nach wie vor, und sie würde auch in dieser Nacht noch Licht und eine Spur Wärme abgeben.
Alle Wärme war aus dem Körper gewichen. Die Branntweinkruke hatte er geleert, es gab nur noch Wasser aus dem Faß mitten in dem wirren Holzgestell. Der Bug des Wracks hatte sich weit ins Wasser gesenkt und erschien nur noch, wenn die Wellen ihn freigaben. Langsam fing alles, was auf dem Heck lag, zu rutschen an.
„Ausgerechnet heute“, stammelte Bonger und versuchte, sich an der Ruderpinne abzustützen und aufzustehen, „gibt es kein Schiff, keinen Fischer…“
Bongers Haar und Bart waren naß und salzverkrustet, die Lippen rissig und aufgesprungen. Er zitterte vor Kälte, der Wind, der von See wehte und über die Dünen strich, schnitt in seiner Haut.
Sehnsüchtig blickte er hinüber zur nächsten Düne. Er war zu schwach, um das Floß zu kippen oder über die nassen Planken zu schieben. Bonger mußte warten, bis die arme „Thyra“ restlos auseinanderbrach und mit ihr sein ganzes Vermögen unterging.
Die Sonne näherte sich der westlichen Kimm.
Der frische Wind trieb Wolken über den Himmel und an der winzigen grellen Scheibe vorbei. Bonger blinzelte, hob unter Schwierigkeiten die Hand an die Stirn und stierte, während seine Augen liefen und er zwinkern mußte, über die See.
„Nichts“, murmelte er.
Seine Knie waren wie gelähmt. Er verlor den Halt und krachte auf die zusammengenagelten und verknoteten Holzstücke zurück. Wieder ruckte das Wrack, das Heck kippte, und das seltsame, wacklige Floß rutschte knarrend zu einem Drittel ins Wasser. Bonger verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Kopf hart gegen die Ruderpinne.
Ein letzter Rest von Wut und Kraft sammelte sich. Der Däne packte den Krug mit Lampenöl und schüttete die Hälfte über die feuchten Lappen, die ihm Heck lagen. Er hob die Haube von der Lampe und versuchte, einen Lappen in die Flamme zu halten. Schließlich, nachdem er sich Handrücken und Finger verbrannt hatte, züngelte eine Flamme an dem Tuch aufwärts. Er schleuderte den Lappen auf den zusammengeknäuelten Haufen – sofort brannte das Öl, und schwarzer, erstickender Rauch stieg auf.
Nachdem Bonger die Haube wieder auf die Lampe gesetzt hatte, löste er den Knoten und hielt die Laterne in der Hand.
„Was soll ich tun?“ fragte er sich laut und merkte, daß die Bilder vor seinen Augen verschwammen. Der dicke schwarze Rauch drang in seine Nase. Er hustete lange und würgte.
Die nächste Welle schüttelte das Wrack durch. Die letzten Hölzer brachen, das Wrack riß sich vom Felsen los und versank unter dem Wasserspiegel. Nur der letzte Teil des Hecks mit den qualmenden Lumpen hob sich, als das Floß klatschend ins aufschäumende Wasser rutschte und den fast bewußtlosen Bonger halb ins Wasser tauchte.
Hustend und schluckend rappelte er sich wieder hoch, zog sich in sitzende Stellung und hielt seine Hände schließlich über die Lampe. Sie brannte, als halte er sie in ein Feuer. Dann packte er die lange Planke, benutzte sie als Riemen und versuchte, das Floß über die Entfernung von einer Kabellänge zu pullen.
Als er binnen vier Atemzüge in drei verschiedene Himmelsrichtungen schaute und erkannte, was er sah, wußte Bonger Oluvsen: Die Ebbe sog Wasser aus dem Fjord. Auf seinem knirschenden Floß, die Beine halb im eisigen Wasser, wurde er hinaus in die Nordsee getrieben. Das war das Ende. In dieser Nacht würde er sterben.
Noch immer brannten stinkend und qualmend die Lumpen.
Mit einem Bootshaken und einem Riemen fischten die Seewölfe das schwere Paket aus den Wellen, hievten es über das Schanzkleid und schnitten das Garn auf, mit dem es zusammengebändselt war.
„Seemannsknoten“, stellte Old Donegal knapp, aber zutreffend fest. „Über Bord gefallen.“
Zwei Handbreiten stand die Sonne, die sich gelbrot zu färben begann, über der Kimm. In den langen Schatten kroch die Kälte wieder heran. Weit voraus flatterte ein Möwenschwarm gegen den Wind. Noch während der Riemen polternd verstaut wurde, schlugen Ben Brighton und der alte O’Flynn die Schaffelle auseinander.
Längliche Gegenstände waren in gewachstes Segeltuch und darunter in viele Schichten weißes Leinen eingeschlagen. Das Leinen, aus dessen Ecken Spitzen hervorlugten, wirkte vergleichsweise kostbar. Old Donegal stieß einen Pfiff aus, als er die vier schweren, silbernen Leuchter sah, die in viele einzelne, gesäumte Tücher eingewickelt waren. Die Stoffe fühlten sich trocken an, nur an den Kanten und Falten war Salzwasser durch die Schaffelle eingedrungen.
In zurückhaltendem Tonfall rief der Kutscher: „Es handelt sich einwandfrei um Leuchter für dicke Kerzen! Kirchenleuchter, schätze ich.“
„Ganz bestimmt keine Armleuchter“, sagte Old Donegal und grinste. „Wer das wohl verloren hatte?“
Hasard, Carberry und Matt Davies erschienen auf der Kuhl und betrachteten den Fund. Old Donegal und der Kutscher nahmen die Verpackung weiter auseinander. Aber sie entdeckten nichts schriftliches, keine Gravur und auch sonst nichts, das auf einen Eigentümer schließen ließ.
„Herrenloses Treibgut“, sagte Carberry begeistert.
„Gerade auf der Schebecke brauchen wir vier silberne Kirchenleuchter“, bemerkte der Seewolf grinsend. „Der richtige Platz. Sie sind wirklich schön. Und sehr wertvoll. Aber eigentlich gehören sie in eine Kirche.“
Dan O’Flynn meldete, während die Seewölfe ihren Fund begutachteten und überlegten, was sie damit tun konnten, vom Achterdeck: „Steuerbord querab muß der Stora-Fjord liegen. Wenn wir dort ankern wollen, sollten wir bald Kurs ändern.“
„Verstanden!“ rief Hasard zurück.
Er wandte sich an die Seewölfe, die noch immer etwas ratlos die Leuchter begutachteten. Die Kostbarkeiten, gleich gearbeitet und mit goldenen Verzierungen versehen, erreichten die Länge seines Unterarms.
„Unter Deck damit, Old Donegal. Wir überlegen uns, was wir damit anfangen. Schaut euch um! Vielleicht fischen wir noch mehr auf.“
Er ging zurück zum Grätingsdeck und stellte sich neben Dan. Der Rudergänger warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Der Sonnenuntergang“, meinte Hasard und zog sein Spektiv heraus, „verspricht für morgen einen klaren Tag und guten Wind.“
„Das sage ich auch, Sir“, bekräftigte Pete Ballie.
„Also segeln wir weiter. Morgen früh haben wir vielleicht schon Hanstholm querab.“
„Aye, Sir.“
Dan und Hasard beobachteten durch die Linsen den Verlauf der Küste. Sie suchten die Wellen nach anderem Treibgut ab und fanden nichts. Wind und Strömung hatten die Schebecke sicher auf Kurs halten können. Schließlich sahen sie den schmalen Durchgang zum Fjord. Von Deck aus war nicht mehr als eine winzige Unterbrechung in der Linie niedriger Dünen und eines Sandrückens zu erkennen.
Dan sagte plötzlich: „Da ist etwas! Rauch, denke ich.“
„Ein Feuer an Land?“
Scharf spähten sie in die Richtung der Dünen. Tatsächlich sah Dan zuerst einen dünnen, schwarzen Rauchschleier, der aber nicht von einem Feuer an Land stammte, sondern direkt aus dem Meer aufzusteigen schien. Im Bereich der Passage war das Meer ein wenig ruhiger, der weiße Schaum der Brandungswellen fehlte fast völlig.
„Und eine Art Blitzen. Das Sonnenlicht, Sir. Vielleicht gibt jemand Zeichen.“
Hasard drehte sich um und wies Pete Ballie an, so nahe wie möglich abzufallen, ohne daß Manöver nötig wären.
„Da treibt etwas direkt vor der Passage“, murmelte Dan O’Flynn und blinzelte. „Ich sehe es nicht genau. Aber wenn’s gebrannt hat, werden es wohl Leute sein.“
„Vielleicht Fischer“, meinte Hasard.
Eine Viertelstunde später konnten sie mehr und deutlichere Einzelheiten unterscheiden. Das Feuer war offensichtlich ausgegangen, und es gab daher auch keinen Rauch mehr. Die Sonnenstrahlen lagen jetzt fast waagerecht über dem Wasser und ließen den Sand rötlich schimmern. Immer wieder sank jenes Etwas, das vor dem Durchlaß schwamm, in die Wellentäler zurück. Schließlich erkannten sie es deutlich.
„Ein Floß aus allem möglichen Zeug“, sagte der Seewolf.
Und Dan setzte hinzu: „Mit einem Mann drauf. Er hat, scheint mir, eine Laterne. Im Glas spiegelt sich die Sonne.“
„Also dann“, sagte Hasard in versöhnlichem Ton, „halten wir darauf zu, damit Old Donegal doch noch eine echte Mumie aus dem Teich fischen kann.“
Er rief einige Kommandos hinunter zur Kuhl. Die Mannen eilten an die Schoten. Die Schebecke luvte zum Land hin an, die Segel wurden neu getrimmt, und kurz darauf zielte der Bugsprit genau auf die Passage, etwa eineinhalb Seemeilen entfernt.
Die Seewölfe riefen sich Fragen und Antworten zu.
„Was ist los?“
„Ein Schiffbrüchiger.“
„Wo?“
„Recht voraus.“
„Lebt er noch?“
„Kann man nicht erkennen.“
„Vielleicht doch eine dänische Mumie.“
Der Seewolf verließ das Achterdeck, schob sich zwischen seinen Männern hindurch und stellte sich aufs Vordeck. Je mehr sich die Schebecke mit Wind von Steuerbord dem Ufer näherte, desto deutlicher bestätigte sich, daß Dans scharfe Augen wieder einmal im richtigen Moment in die einzig mögliche Richtung geblickt hatten.
Ben Brighton und Dan folgten aufs Vordeck und hielten sich am Stag fest.
„Also“, sagte der Erste unruhig, „wenn der Bursche dort noch am Leben ist, hat er Glück gehabt. Verdammt viel Glück.“
Dan lachte kurz und versuchte, auf dem bockenden Deck so ruhig zu stehen, daß er das Spektiv einwandfrei ausrichten konnte.
„Glück!“ sagte er scharf. „Ausgerechnet hier, wo alle Jahre einmal ein Schiff vorbeisegelt? Soviel Glück kann ein einzelner Mensch gar nicht haben. Dieser winzige Rauchfetzen…“
„Wir holen ihn raus, ist wohl klar“, unterbrach ihn Hasard. „Das Manöver wird nicht ganz einfach sein.“
Jetzt sahen sie, was er meinte. Eine Gestalt lag zusammengekrümmt auf Latten, Spieren und Planken, die Kreuz und quer an drei Fässern befestigt waren. Auf diesem wild zusammengebastelten Floß befanden sich viele Pakete, die ähnlich aussahen wie Old Donegals angebliche Mumie. An eine Leine waren vier oder fünf Kisten geknotet, die das Floß hinter sich herzog.
„Das Floß ist in der Strömung“, stellte Edwin Carberry fest. „Seht ihr? Aus dem Fjord drückt das Flußwasser. Der Ebbstrom hat ihn hinausgezogen. Ich sage, daß auch die Lichter aus dem Fjord stammten, Sir.“
„Durchaus möglich. Ed und Ben – bereitet die Übernahme vor. Vermutlich ist der Bursche halb ertrunken und erfroren. Wir müssen es schaffen, ohne den Anker ausbringen zu müssen, klar?“
„Klar, Sir.“
Von der Freiwache erschienen einige Seewölfe an Deck und wurden aufgeklärt, was unmittelbar anlag. Zwei Jakobsleitern wurden ausgebracht, Wurfleinen und Bootshaken aus den Laschings genommen. Der Kutscher verschwand unter Deck und bereitete eine Koje vor. Als Feldscher wußte er, wie der Mann – oder war es etwa eine Frau? – zu behandeln war. Mac Pellew hängte seinen kleinsten Kessel über die Glut und schöpfte einen Rest der Brühe hinein.
„Riemen klar?“ dröhnte die Stimme Carberrys übers Deck.
Aufmerksam beobachteten sie alle das näherdriftende Floß. Der Mann rührte sich nicht, aber um sein Handgelenk war das Ende geknotet, an dem der Griff einer brennenden Laterne angebändselt war.
„Er hat gewußt, was wichtig ist“, brummte Hasard. „Licht in der Nacht – an dieser leeren Küste fällt es auf.“
„Aber auch nur, wenn die Arwenacks vorbeisegeln“, antwortete Ben. „Der Mann bewegte sich eben. Aber er hat uns noch nicht gesehen.“
„Wer weiß, wie lange er schon auf diesem Gammelfloß treibt und die Füße in die Nordsee hängt“, setzte Hasard hinzu.
Das Schiff segelte auf das Floß zu. Pete Ballie steuerte nach Lee und verständigte sich mit Hasard durch Handbewegungen. Die Seewölfe bereiteten sich darauf vor, den Schiffbrüchigen an Steuerbord aufzunehmen. Die Zwillinge saßen neben den Jakobsleitern auf dem Schanzkleid und schlugen Knoten in die Sorgleinen, mit denen sie sich selbst sicherten. Schlingen aus Tauwerk hingen übers Schanzkleid.
„Achtung. Klar zur Wende!“ rief Hasard.
Pete legte das Ruder. Die Schebecke glitt in dreißig Fuß Entfernung am Floß vorbei, ging in den Wind und wurde vom eigenen Schwung in einem Halbkreis geschoben. Noch immer, tief im Wasser liegend, dümpelte das Floß an Steuerbord, jetzt aber in Lee des Schiffes.
Die Segel schlugen und killten geräuschvoll. Die Zwillinge enterten ab, während zwei Leinen über das Floß hinwegflogen. Die Lederbeutel und Augen verhakten sich irgendwo. Langsam wurde das Sammelsurium herangezogen, und erst jetzt, nachdem ihn ein dickeres Ende traf, richtete sich der Schiffbrüchige auf.
„Vorsichtig an die Bordwand ziehen. Sichert ihn mit Leinen!“ rief Hasard und hielt sich bereit, nach vorn zu springen und mitzuhelfen.
Seine Söhne zogen das Floß mit dem Bootshaken heran. Dann, als die Kisten an die Bordwand polterten und das Floß nicht mehr abtreiben konnte, turnte Jung Hasard hinunter und legte schnell zwei Schläge um die Brust und unter den Armen des Mannes hindurch, der ihn anstierte und unverständliche Worte lallte.
„Fertig!“
Carberry, Ferris Tucker und Big Old Shane packten das Tau und zogen mit großer Vorsicht, während Hasards Sohn auf dem Floß versuchte, den Mann aufzurichten. Das Floß schwankte und fing an, sich in Einzelteile aufzulösen.
„Weiter so! Richtig! Hierauf!“
Die Rufe gingen wild durcheinander. Der schwere Körper drehte sich, gelangte mit dem Rücken an die Bordwand und rutschte dort Handbreit um Handbreit höher. Auch Jung Philip packte an, hängte sich den linken Arm des Mannes über die Schulter und zog sich an den Sprossen der Jakobsleiter hoch. Schließlich saß der Fremde auf der Brüstung des Schanzkleides und kippte langsam nach hinten.
Ein halbes Dutzend Hände fingen ihn auf. Die Tauschlingen wurden gelöst. Aus den Kleidern des Mannes lief und tropfte Seewasser.
„Zieht ihm das Zeug aus. Und dann runter zum Kutscher“, sagte Hasard.
Die Seewölfe legten den riesigen Fischer oder Seemann auf zwei zusammengefaltete Decken, schnitten die Segeltuchjacke auf, rissen die Ärmel ab und versuchten, die Stiefel von den Beinen zu zerren. Schließlich mußten sie das aufgequollene Leder mit Messern aufschneiden.
„Lebt er überhaupt noch?“ fragte Old Donegal.
„Natürlich. Und nach Schnaps stinkt er auch“, erwiderte Big Old Shane.
Die Seewölfe sagte sich, daß die vielen Packen, Ballen und Kisten wohl der wichtigste Besitz des Mannes waren. Sonst hätte er sie nicht auf dem Floß gestapelt und befestigt, so gut es ging. Hasard junior schnitt die Tampen durch und hob ein Bündel nach dem anderen hoch. Die leichteren Packen warf er einfach über das Schanzkleid. Die Lampe splitterte, als er mit dem Absatz dagegenstieß und rollte klappernd über die Planken. Mit leisem Zischen versank sie im Wasser.
„Hier!“ rief Jan Ranse. „Für die Seemannskisten!“
Hasard junior legte jeweils ein paar Schläge um die treibenden Kisten und schlang einen Knoten. Die Truhen wurden an Bord gezogen und auf den Planken abgesetzt. Selbst die Fässer wurden belegt, und schließlich war auch der letzte Packen an Bord. Mit einem Schwung packte Hasard die Sprosse der Leiter und zog sich hoch.
Die Schebecke hatte, sehr langsam durchs Wasser schiebend, wieder ihre Drehung beendet.
Krachend und polternd wurden die Fässer an Bord gehievt, während die Zwillinge die Jakobsleiter wieder einrollten. Das Heck des Schiffes schwang weit herum, während die Dreieckssegel knallten und sich dann wieder mit Wind füllten.
„Auf Kurs, Sir!“ rief der Rudergänger nach wenigen Atemzügen.
An Steuerbord leuchteten noch einmal die Dünen auf, vom letzten Sonnenlicht getroffen.
„Verstanden. Wir gehen heute nach Thyborön, Pete.“
„Aye, aye, Sir.“
Die Schoten wurden dichtgeholt und neu belegt. Im spitzen Winkel strebte die Schebecke vom Ufer weg und fuhr zunächst präzise Nordkurs, später fiel das Schiff um einen Strich nach Osten ab, um die Küstenlinie nicht ganz zu verlassen. Noch herrschte Zwielicht, aber in einer halben Stunde würden Mond und Sterne die einzigen Lichter sein.
Die Zwillinge und der Kutscher kümmerten sich, so gut und schnell sie konnten, um den Halbertrunkenen.
Mit erheblicher Mühe hatten sie die starre, nasse Kleidung aufgeschnitten und dem Schiffbrüchigen vom Körper gezogen. Sie hatten Erfahrung, wie in solchen Fällen zu helfen war.
Jetzt lag der nach atmende Mann, in mehrere Decken eingepackt, auf der Koje. Zuerst hatte er immer wieder versucht, sich zusammenzurollen und die Arme über die Knie zu legen.
Der Kutscher hatte den Kopf des Mannes angehoben und flößte ihm mit einem Löffel heiße Brühe ein. Es gab keine Schwierigkeiten, der Fremde schlürfte und würgte die dünne Suppe herunter, ohne die Augen zu öffnen.
„Mac. Hole noch eine Schale voll“, sagte der Kutscher, ohne sich umzudrehen.
Drei Laternen brannten in der kleinen Kammer und verbreiteten Helligkeit und Wärme. Hasard junior zog den linken Arm des Mannes unter den Decken hervor und tupfte die zerschundene, aufgerissene und bleiche Haut mit einem Lappen ab, den er in warmes Süßwasser getaucht hatte. Auf die ärgsten Schnitte, Risse und Abschürfungen strich er vorsichtig eine gelbe Salbe, die ihm der Kutscher gegeben hatte.
Hasards Bruder wickelte breite Leinwandstreifen um den Arm und verknotete die Enden unter der Achsel. Dann schoben sie den Arm wieder unter die warmen Decken.
Hinter ihnen tauchte der Seewolf auf und fragte besorgt: „Kommt er durch? Alles in Ordnung?“
„Er wird es überstehen“, erwiderte der Kutscher. „Hunger ist das beste Zeichen. Er ißt für zwei. Daß er todmüde ist, kannst du sehen.“
„Ihr macht das schon ganz richtig“, lobte der Seewolf. „Wenn er aufwacht, könnt ihr ihm sagen, daß wir ihn in Thyborön an Land setzen und auch seine Habseligkeiten geborgen haben. Klar?“
„Alles klar, Sir.“
Während die Zwillinge den anderen Arm versorgten und die übel zugerichteten Finger besonders dick einschmierten, verfütterte der Kutscher auch die zweite große Schale voller dickerer Suppe mit Fleischbrocken. Zwischen den Schluckbewegungen atmete der Fremde jetzt tiefer und langsamer. Die Gesichtshaut verlor etwas von ihrer Blässe.
„Morgen wird er sich die Suppe aus dem Bart kämmen müssen“, sagte Hasard junior sachlich. „Ich dachte schon, Big Old Shanes Bart wäre der längste aller Bärte.“
„Morgen hat der Unbekannte andere Sorgen. Ich denke, er wird erst einmal einen Tag lang schlafen.“
Auch der zweite Arm war verbunden. Brust und Rücken des Mannes sahen aus, als habe sie die dicke Kleidung geschützt. Die Haut fing an, wärmer zu werden. Dennoch zitterte der Schiffbrüchige noch immer.
„Noch ein Napf heiße Suppe, Kutscher, und unser Freund hier beginnt zu dampfen“, meinte Philip. „Jetzt sein rechtes Bein, Brüderchen.“
Sie versorgten die eiskalten Zehen, massierten den Fuß, verbanden einige unbedeutende Wunden und strichen Öl auf die vielen entzündeten Stellen.
Einige Zeit später erschien Nils Larsen und erkundigte sich: „Hat er schon gesprochen? Ich war in der Kleiderlast und denke, die Sachen passen ihm.“
„Also, Nils“, entgegnete der Kutscher, „zuerst wird er die Überlebenssuppe essen, dann, vielleicht, sagt er uns seinen Namen. Dann wird er lange unter den warmen Decken schlafen. Und erst dann können wir daran denken, ihn neu einzukleiden.“
„Immerhin ist er mein Landsmann“, sagte Nils.
„Danke für die Kleider“, sagte Hasard junior und rüttelte, nachdem der Fremde auch den letzten Löffel Suppe heruntergeschluckt hatte, ohne seine Retter überhaupt anzusehen, ihn sachte an der Schulter.
„He, Mann, du kannst aufwachen. Bist in Sicherheit.“
Nils schob sich näher heran und wiederholte die Worte in dänischer Sprache.
„Drukne – bevidstlös drikkevand…“, lallte der Fremde. „Thyra…“
Nils übersetzte: „Er hat Angst, daß er ertrinkt und ohnmächtig wird. Sein Trinkwasser ist zu Ende. Und Thyra war eine dänische Königin, die Frau von König Gorm, wenn ich richtig aufgepaßt habe, damals.“
„Königin Thyra, das war vielleicht der Name des Schiffes“, meinte der Kutscher.
Plötzlich schrak der Fremde zusammen, riß die Augen auf und stierte die Männer an.
„Was – wo bin ich?“ fragte er.
Nils beruhigte ihn. „In Sicherheit. Wir haben dich aufgefischt. Und deine Bündel und Kisten auch.“
Kraftlos sank der Mann wieder zurück und flüsterte etwas.
„Er sagt, er heißt Bonger Oluvsen. Seine beiden Decksleute sind tot. Das Schiff, die ‚Thyra‘, ist zerbrochen. Felsen.“
„Sage ihm, wo wir als nächstes anlegen“, bat Philip junior. „Und dann soll er ausschlafen.“
Nils übersetzte und sprach eindringlich auf den Dänen ein.
Bonger öffnete mit viel Mühe die Augen einen Spalt und antwortete: „Thyborön – gut. Dank für alles. Ich bin – so müde…“
Er drehte den Kopf zur dunklen Seite der Koje und schlief augenblicklich ein. Nils schob sich rückwärts aus der Kammer.
„Holt mich, wenn ihr mich wieder braucht“, sagte er. Auch Nils war beruhigt. Sein Landsmann schien das Unglück einigermaßen gut überstanden zu haben.
„Natürlich. Tun wir. Seht ihr zu, daß ihr nicht an dem Kaff mit dem unaussprechlichen Namen vorbeisteuert“, mahnte ihn der Kutscher und lehnte sich zurück. „Der erste nach langer Zeit, der sich nicht über das Essen beschwert hat.“
„Für lange Zeit der einzige“, bekräftigten die Zwillinge. Sie wischten sich die salbentriefenden Finger ab und ließen Bonger Oluvsen in Ruhe schlafen. Als sie an Deck standen, herrschte bereits tiefe Dunkelheit.
„Auf nach Thyborön“, meinte Jung Philip. „Dort wird uns Bonger wohl auch erzählen, was er mit seinem Boot angestellt hat.“
„Mir wäre schon recht, wenn Mac uns sagen würde, ob es noch etwas zu essen gibt.“
„Hast recht. Mir knurrt auch der Magen.“
Das Schiff, durch drei helle Laternen hinreichend gut sichtbar, lief vor raumem Wind nach Norden. In einigen Stunden sollten an Steuerbord Thyboröns Häuser auftauchen. Die Seewölfe wußten, daß Hanstholms Hafeneinfahrt von Feuern gekennzeichnet war. Ob dies auch für den nächsten, viel kleineren Hafen zutraf, wußte niemand.
4.
Einige Stunden später tränten die Augen des Seewolfes vor Anstrengung. Er setzte das Spektiv ab, schob seine Mütze in den Nacken und kniff die Lider zusammen.
„Wenigstens ein winziges Licht könnten die Fischer ausbringen“, beklagte er sich. „Stockduster. Nichts zu sehen. Und da soll man noch Spaß an einer guten Tat haben.“
Stenmark stand jetzt an der Pinne. Der Schwede hob die Schultern, spuckte nach Lee und entgegnete: „Du siehst, daß es hier kaum Welthäfen gibt. Die Fischer sind nicht auf Besuch in der Nacht wild.“
„Ich hab’s schon gemerkt“, brummte Philip Hasard Killigrew. „Trotzdem müssen wir den Ort finden.“
„Spätestens am Tag sehen wir, wo’s hineingeht“, tröstete ihn der Rudergänger.
„Das habe ich eigentlich nicht vor.“
Die Schebecke lief noch immer Nordkurs. Nach den niedrigen Dünen vor dem kleinen Stora-Fjord sollten sich nach der Karte bis zum „Limfjorden“ nichts anderes als flache Uferzonen erstrecken, unbesiedelt und sandig, gelegentlich vor der Kulisse der Wälder, die sich dahinter ausbreiteten.
Der Nachthimmel war einigermaßen klar, es gab keinen Nebel. Im Mondlicht sah Hasard hin und wieder den weißen Sand einer Düne oder das kalkige Gestein einer niedrigen Klippenwand. Mehr nicht. Jütlands Westküste blieb auch in dieser Höhe dünnbesiedelt und wenig aufregend.
„Harboör Tange, so nennen sie die Landzunge. Soll flach sein“, erklärte der Seewolf und spähte wieder durch das Spektiv. „Und noch immer kein Licht.“
Er wartete nicht gerade auf riesige Leuchttürme, aber zumindest im Hafenbereich sollte es einige beleuchtete Fenster oder Wirtshausschilder geben. Oder vielleicht Fischer, die im Fjord mit Licht fischten, um größere Fische anzulocken.
„Wir sind ganz in der Nähe“, meinte Stenmark. „Kannst du wirklich nichts erkennen, Sir?“
„Ich habe nicht Dans Augen, und der hat Freiwache“, antwortete der Seewolf. „Aber wenn es etwas zu sehen gibt, werde ich es sehen.“