Seewölfe Paket 31

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Das Land war etwa eine Seemeile entfernt. Hasard beobachtete jeden Quadratfuß der Brandung, des Sandes und der Dünenhänge. Nach einiger Zeit sah er im Hintergrund der abfallenden Sandstreifen das Sternenlicht und das Mondlicht in winzigen Reflexen. Schwach zeichnete sich hinter dem ruhigen Wasserspiegel einer gerundeten Fläche hellere Vierecke ab. Es mußten Hausfronten sein. Schließlich konnte er Schatten erkennen und winzige Fenster, hinter denen schwache Lichter brannten.
„Das ist fast so spannend wie eine Weltentdeckung“, sagte der Seewolf brummig und blickte auf den Kompaß. „Dieses Fischerdorf gibt es also wirklich. Wir gehen in einer halben Stunde auf Ostkurs, klar?“
„Aye, aye, Sir“, lautete die Antwort.
Das Schiff glitt weiter nordwärts, und die Seewölfe ließen sich von Hasard darüber unterrichten, was er gesehen hatte. War es wirklich der Ort, den sie suchten? Weit und breit gab es keine andere Siedlung. Also mußte es sich um Thyborön handeln.
Zuerst wurde das Großsegel gestrichen und die Rahrute aufgetoppt. Dann schwang die Schebecke herum und näherte sich sehr viel langsamer der niedrigen Landzunge und dem winzigen Hafen.
Unter Deck schlief Bonger Oluvsen noch immer, tief und fest. So tief, daß er nicht einmal schnarchte.
Ein Fischer, der betrunken den Krug verließ, sah das hell beleuchtete Schiff zuerst.
Er blieb schwankend stehen, drehte sich dann um und torkelte auf den Krug zu. Er fing laut zu rufen an.
„Ein fremdes Schiff! Es wendet im Hafen! Kommt heraus, seht euch das an!“
Die Seewölfe erkannten im Licht der eigenen Laternen die wenigen Möglichkeiten, die sie hatten. Mit dem Bug voran driftete die Schebecke an die ersten Poller heran. Drei Leinen wurden ausgebracht und blitzschnell belegt, als die Segel killten. Majestätisch langsam beschrieb das Heck um den Drehpunkt einen Drittelkreis und stieß sanft an die Poller im hinteren Teil des Hafens.
Hasard und Ben Brighton standen achtern, schwenkten eine Laterne und ließen Nils Larsen übersetzen.
„Wir bringen Bonger Oluvsen und das, was von seiner Ladung übriggeblieben ist. Er braucht ein Bett und einen Laderaum.“
Batuti, Big Old Shane und der Kutscher schleppten Bonger an Deck. Gemeinsam hatten sie ihm die gebrauchten Kleidungsstücke angezogen. Er war immer noch nicht ganz wach. Am Strand liefen die Bewohner des Ortes zusammen. Er bestand wirklich nur aus einem Dutzend Häuser. Es stank durchdringend nach Fisch.
„Helft uns!“ rief Nils. „Es ist Bonger Oluvsen. Seine ‚Thyra‘ ist untergegangen.“
Der Name „Thyra“ weckte Oluvsen ganz plötzlich auf. Er blieb am knirschenden Steg stehen, drehte sich herum und schien zum erstenmal die Schebecke wirklich zu sehen.
„Meine Männer“, sagte er dumpf. „Sie sind beide tot. Genick gebrochen. Ertrunken. Der Felsen im Durchlaß…“
Die Seewölfe stemmten die Ballen und Packen hoch. Verwirrt halfen ihnen die Fischer und stapelten das Zeug irgendwo am Rand des Hafens, vor den Häusern, unordentlich übereinander.
„Du hast dein Schiff verloren? Weg? Untergegangen?“ rief ein Fischer.
„Ich war nicht am Ruder“, erklärte Oluvsen und ließ sich von Batuti langsam über den wackligen Steg führen. „Die da haben mich aufgefischt.“
„Bravo! Gute Leute!“ schrie der betrunkene Fischer. „Aber keine Dänen!“
„Gebt ihnen Fisch. Und Schnaps.“
Der Seewolf schwang sich über das Schanzkleid und ging mit langen Schritten auf Oluvsen zu. Unter dem Arm trug er das dicke Bündel, das sie aus der See gefischt hatten – Old Donegals „Mumie“.
Oluvsen schüttelte immer wieder den Kopf, als könne er auf diese Weise seine Gedanken sammeln. Dann starrte er Nils Larsen an.
„Du hast mir geholfen, nicht wahr? Mein Kopf. Ich habe vergessen. Du kannst dir denken, daß ich ruiniert bin.“
„Nicht ganz, Oluvsen“, entgegnete Larsen. „Wir haben alles, was auf dem Floß war, gerettet. Dort drüben.“
„Wie? Gerettet? Wirklich?“ Oluvsen schrie beinahe. Dann zuckte er zusammen und preßte die Fäuste gegen die Schläfen.
„Ich erinnere mich. Das Vermögen ist weg. Ich habe etwas mitgenommen, für die Kirche von Ringköbing. So teuer – alles verloren.“
„Wir fanden deine Silberleuchter“, sagte Hasard knapp.
„Vier Leuchter?“ erkundigte sich keuchend der Schiffer.
Nils und der Seewolf nickten schweigend.
„Ihr habt sie wirklich?“
„Der Packen trieb im Wasser. Wir haben uns gewundert. An Bord haben wir wenig Verwendung dafür.“
Als Hasard dem Dänen das schwere Paket gab, ließ Oluvsen es fast fallen. Er war verwirrt und stotterte. Der Seewolf grinste, in dieser Sprache klang das Stottern besonders komisch.
Schließlich wandte sich Nils an die Fischer und erklärte, deutlich und langsam redend: „Laßt ihn ausschlafen. Er ist noch lange nicht wieder gesund. Wir haben ihn verbunden. Ach so, Sir. Bleiben wir eigentlich hier? Bis zum Morgen?“
Der Seewolf winkte ab, drehte sich um und untersuchte, wie sicher die Schebecke lag. Der betrunkene Fischer oder ein anderer, der ebensoviel getrunken hatte, beruhigte ihn.
„Euer Schiff wird nicht wegschwimmen. Die Poller halten. Bleibt bei uns. Trinkt einen Schluck im Krug.“
„Von mir aus“, sagte Hasard.
Nils, Batuti und der Gerettete schwankten über die klappernden Bretter des Steges bis auf die sandige Dorfstraße. Ein breitschultriger Fischer schob sich durch die Zuschauer und winkte Nils.
„Er kann in mein Haus. Ich habe eine Kammer frei. Natürlich kennen wir ihn gut. Er kommt mit seinem Schiff vorbei und erledigt Geschäfte von Hafen zu Hafen. Ist ein guter, ehrlicher Kerl. Jetzt weiß er nicht, was er sagt – zu lange im Wasser.“
Nils antwortete, ohne vorher übersetzt zu haben.
„Das wissen wir. Wir bleiben bis zum Morgengrauen im Hafen. Haben wir Schwierigkeiten mit der Ebbe?“
„Nein. Das Wasser bleibt hoch genug. Habt ihr noch etwas von der ‚Thyra‘ gesehen?“
„Nichts mehr.“
Sie brachten Oluvsen weg, und als der Dorfälteste später in den Krug kam, fand er nur neun Seewölfe, die beim Bier saßen. Alle anderen waren unter Deck oder gingen Wache.
Ganz plötzlich erwachte Bonger, schrak zusammen und sprang auf. Vor seinen Augen drehte sich alles. Er brauchte lange, um sich zu erinnern und herauszufinden, wo er war.
Das fremde Schiff! Seine Lebensretter. Er mußte unbedingt mit ihnen sprechen und ihnen danken.
Er torkelte durch das halbe Zimmer, riß die Tür auf und lief in dicken Socken über die Dielen und hinaus auf die Straße. Es war hell, aber die Sonne zeigte sich noch nicht. Gerade verschwand das Schiff in einem dünnen Landnebel. Er sah noch das Ruder und das Grätingsdeck.
Als er über den Steg rannte, schrie er aus vollen Lungen: „He! Danke euch, Freunde! Danke, Nils. Sage es dem Kapitän. Ich erinnere mich an alles. Gute Fahrt, ihr alle…“
Die Antwort, die der Rudergänger durch den Nebel schrie, verstand er nicht. Als er seine Hände in die Jackentaschen steckte – er merkte, daß es ihn fror, und er lief wieder auf die Haustür zu –, ertasteten seine verschorften Finger etwas Rundes, Hartes. Er zog das Ding hervor und wog es in der Hand.
„Eine Goldmünze“, flüsterte er überwältigt. „Eine fremde Goldmünze. So schwer…“
Wie sie in die Jackentasche hineingelangt war, wußte er nicht. Aber er war ganz sicher, daß er sie den Fremden nicht gestohlen hatte. Ein neues Boot erhielt er dafür nicht, aber vielleicht reichte es als Anzahlung für ein ausgemustertes Fischerboot.
Obwohl er immer noch müde war und jeder Knochen schmerzte, jeder Muskel und jede Handbreit der Haut, konnte er nicht mehr schlafen. Sein Begreifen war sehr gründlich und ging tief, und er brauchte lange dazu. Schließlich verstand er, daß er am Vortag dank der fremden Männer zum zweitenmal geboren worden war.
Eine Stunde nach Mittag sichteten sie nach langer Zeit wieder einmal ein Schiff.
Noch während Ben Brighton versuchte, die Nationalität und die Bauart zu erkennen, erschienen hinter der Kimm die Segel von zwei weiteren Schiffen.
„Gleich drei und in Linie.“ Er wunderte sich und wich nach Backbord aus, um freies Sichtfeld zu haben. „Und nicht ganz auf Gegenkurs.“
Sie segelten seit drei Stunden einen anderen Kurs. Zuerst lag Nord an, jetzt waren sie einen Strich nach Osten abgefallen und erkannten, daß nach Hanstholm die Küstenlinie ebenfalls nach Osten zurückwich. Eine Einbuchtung schwang sich viertelmondförmig ins Land hinein und würde bei Hirtshals wieder auf die angelegte Kursgerade treffen.
Der Rudergänger rief: „Wir nähern uns dem Skagerrak! Bei Skagen runden die Schiffe das Kap. Sie kommen aus der Baltischen See.“
„Das hat Dan uns erklärt“, antwortete der Erste. „Sie sehen wie niederländische Fleuten aus.“
Es dauerte längere Zeit, bis die Seewölfe genauere Einzelheiten unterscheiden konnten.
Die Bordwände der Schiffe, die etwa viermal so lang wie breit schienen, liefen nach oben stark eingezogen zu. Ein löffelartig rundes Heck schloß das Deck ab, das nach achtern steil anstieg. Die Fockmasten und die Großmasten trugen jeweils drei Rahsegel, und es gab ein Segel am Besannest an der Schrägrah. Die Leinwand war trapezförmig geschnitten. Der Wind, der die Schebecke nach Norden schob, zwang die drei Fremden, gegenan zu kreuzen.
Sie halsten fast gleichzeitig und richteten die Klüverbäume nach Südost. Jetzt liefen sie Kollisionskurs.
„Bill!“ rief der Erste. „Wecke den Seewolf auf. Und Al Conroy soll zu mir kommen.“
„Aye, Ben.“
Zuerst erschien der Stückmeister, schaute lange durch das Spektiv und erklärte selbstbewußt und nachdrücklich: „Wir müssen damit rechnen, daß sie ohne Warnung angreifen. Sieh genau hin: sie machen ihre Culverinen klar. Nur die unteren Stückpforten sind verrammelt. Das sind aber nur bewaffnete Kauffahrer.“
„Ich sehe es. Erkennst du schon die Flaggen?“
„Noch nicht deutlich genug“, erwiderte Conroy und fuhr mit der Hand über sein stacheliges Kinn. „Ich richte die Culverinen ein.“
„Zur Vorsicht.“
Diese Niederländer, dachte Philip Hasard Killigrew, als er den Niedergang aufenterte. Auch hier waren ihre Schiffe zu finden. Er war sicher, daß es sich um Kauffahrer aus den niederländischen Nordprovinzen handelte, die auf die Schebecke zusegelten und für Aufregung und Unruhe sorgten.
Er selbst dachte nicht im Traum daran, sich mit den Niederländischen anzulegen. Aber ihre schnelle Bereitschaft, die Kanonen zu benutzen, ließ ihn aufmerken.
Der strohblonde Piet Straaten schwang sich aufs Grätingsdeck und musterte die drei dickbäuchigen Schiffe.
„Zwei Fleuten und ein Pinaßschiff, das mit dem eckigen Heck. Was suchen meine Landsleute vor Thyborön?“
Der Seewolf schüttelte den Kopf und hob das Spektiv.
„Sie segeln wohl nach Amsterdam und London. Sie sind die uneingeschränkten Beherrscher der Meere, wenn es um den Handel geht.“
„Also haben sie Angst um ihre Ladung“, meinte Piet und strahlte den Seewolf aus seinen grünen Augen an.
„Ich habe ihre Farben gesehen. Kein Zweifel. Niederländer“, stellte der Seewolf fest.
Al Conroy und seine Crew hatten die Persenning von jedem Geschütz entfernt und füllten Pulver in die Zündlöcher.
Ben Brighton schüttelte verwirrt den Kopf und fragte: „Kann es sein, daß sie uns mit einem anderen verwechseln?“
„Natürlich!“ Der Seewolf lachte dröhnend. „Mit Piraten!“
„Aber wir könnten sie doch fragen, ob sie das schwarze Schiff gesehen haben“, schlug Piet Straaten vor.
„Das habe ich vor. Angesichts ihrer Geschütze fällt mir aber kein freundschaftliches Signal ein.“
Von der Kuhl her rief Al Conroy, seinen Arm hochreckend: „Klarschiff, Sir. Culverinen bereit.“
„Verstanden. Zuerst versuchen wir’s auf gütliche Art.“
Noch waren die Niederländer nicht auf Schußentfernung heran.
Piet Straaten wandte sich zu Hasard um und fragte: „Ich will versuchen, mit ihnen zu reden. Ich kenne ihre Signale nicht, aber ich kenne die Niederländer.“
„Versuch’s“, forderte der Seewolf ihn auf. „Viel Zeit hast du nicht mehr.“
In unzähligen Schenken sprach man davon, die Kapitäne vieler Schiffe in vielen Häfen redeten darüber, und in den Handelshöfen wußte man sehr genau, welche Handelswege die Niederländer sich und denen eröffnet hatten, die ihre Waren brauchten und kauften. Die Flotte des Königs von Spanien vermochte nicht, die niederländischen Häfen zu sperren. Selbst im Mittelmeer segelten die Kauffahrer der niederländischen Nordprovinzen.
„Soll ich den Kurs ändern?“ fragte Gary Andrews, der Rudergänger.
Hasard sah, wie Piet Straaten mit einem Spiegel und einem großen Stück weißem Tuch entlang des Schanzkleides lief und sich am Bug aufstellte, zusammen mit den Zwillingen.
„Nein. Auf keinen Fall. Wir müssen nicht kreuzen.“
Die drei Kauffahrer segelten in Kiellinie. Wenn sie im Lauf der nächsten Viertelstunde wieder einen Schlag aufs Meer hinaus fuhren, würden alle Schiffe einander die Breitseiten zeigen. Woher stammte diese Bereitschaft, angesichts eines einzelnen fremden Schiffes sofort die Geschütze auszufahren?
„Sie kommen von Skagen, nicht wahr?“ fragte Gary Andrews.
„Ganz sicher. Nachdem sie den engen Sund zwischen Seeland und Schonen passiert haben, bei Hälsingborg. Dort muß jedes Schiff den Wegezoll zahlen“, erklärte Hasard.
Leichthin meinte der Rudergänger, mehr im Scherz als im Ernst: „Vielleicht haben sie den Wikinger getroffen. Und jetzt stoßen sie schon wieder auf einen fremden Schiffstyp. Das stimmt sie mißtrauisch. Aber vielleicht sind sie wirklich von Thorfin angegriffen worden?“
„Das kann die Erklärung sein“, murmelte der Seewolf.
Das Wetter hatte sich seit den ersten Morgenstunden kaum geändert. Der Wind aus dem südwestlichen Quadranten wehte stetig, aber nicht zu stark. Die kleinen Kreuzseen wurden vom Bug der Schebecke durchschnitten, während sich das Schiff in der weiten, niedrigen Dünung wiegte. Sie würden ein gutes Etmal zurücklegen, wenigstens an diesem Tag.
Wenn sich nicht die Kauffahrer ihnen in den Weg stellten.
Piet Straaten blinkte mit dem Spiegel aus Venedig zu seinen Landsleuten hinüber. Dann stellte er sich gut sichtbar vor die Fock und schwenkte das weiße Tuch hin und her. Als er bemerkte, daß die Steuerleute und die Kapitäne der Schiffe ihn gesehen hatte, klemmte er das Tuch wieder unter die Achsel und blinkte weiter.
Einige Atemzüge später sahen die Seewölfe, wie die Decksleute zu arbeiten anfingen. Noch hallte kein Laut über das Wasser. Die drei Fleuten änderten den Kurs, führten das nächste Manöver durch, würden bald vor dem Bug der Schebecke kreuzen und in der besten Feuerposition sein.
„Al! Keine voreiligen Grüße!“ rief Hasard warnend.
„Aye, aye, Sir. Bin aber bereit dazu.“
„Das glaube ich gern.“
Unentwegt blickten Hasard und Ben Brighton durch die Spektive. Die Männer trimmten die Segel, belegten die Schoten und stellten sich an die Geschütze. Rauch der glimmenden Lunten kräuselte sich an Deck. Ebenso unentwegt versuchte Piet, den Niederländern zu signalisieren, daß die Schebecke keinen Angriff beabsichtige.
„Seltsam“, brummte Hasard. „Sie sind auch nicht ganz sicher, was sie tun sollen.“
„Was haben wir davon, wenn wir hier einen Kauffahrer voller Kornsäcke entern oder versenken?“ meldete sich Gary Andrews.
Trotz des Winkens gerieten die Niederländer im falschesten Augenblick in helle Aufregung. Sie zündeten ihre Geschütze in überraschend kurzen Abständen. Stichflammen und grauer Rauch fuhren aus den Mündungen, und die Geschosse der vier Backbordstücke heulten über die Schebecke weg oder schlugen harmlos ins Wasser. Sie waren mehr als schlecht gezielt.
„Ruder hart Backbord!“ schrie der Seewolf. „Wir bekalmen sie. Dann kann Piet reden.“
In blitzartiger Geschwindigkeit führten die Seewölfe die einzelnen Segelmanöver aus. Die Schebecke legte sich schwer über, fing sich wieder und segelte einen Kurs in Luv des Niederländers. Mitten im verwehenden Rauch aus den Mündungen rauschte das Schiff mit den Lateinersegeln heran und nahm dem Handelsfahrer den Wind aus den Segeln. Auf Rufweite heran, begannen die Seewölfe zu winken. Sie zeigten, daß sie unbewaffnet waren, obwohl Al Conroy mit rauchender Lunte hinter der Culverine stand. Ihre Mündung deutete genau auf das Heckkastell der Fleute.
Piet Straaten begann zu brüllen. Er unterbrach seine Schilderung mit drastischen niederländischen Flüchen. Begeistert hörten die Seewölfe zu. Langsam rauschten beide Schiffe aneinander vorbei. Die Seeleute des Niederländers waren über die Menge der Crewmitglieder des anderen Schiffes erschrocken, kaum mehr als ein gutes Dutzend befand sich auf dem Kauffahrer.
Der Kapitän der Fleute schrie ebenso laut wie Piet Straaten.
Der Seewolf glaubte, zumindest drei Worte richtig verstanden zu haben. Pirat. Nicht feuern.
Dann waren die Schiffe aneinander vorbei. Die Schebecke ging zwischen dem Heck des ersten und dem Bug des zweiten Kauffahrers in Lee, der Abstand wuchs, und wieder bewegte der Rudergänger die Pinne.
Sie liefen wieder mit achterlichen Wind. Piet hastete zum Grätingsdeck und rief schon vor dem Niedergang: „Ein Mißverständnis, Sir. Sie sind vom Wikinger beschossen worden.“
„Sie hielten uns für Piraten?“ rief Hasard und grinste.
„Ja, natürlich. Aber sie waren nicht sicher. Vor einigen Tagen hat sie Thorfin im Skagerrak überfallen. Sie entkamen mit Mühe und Not.“
Piet steckte den Spiegel wieder ein und berichtete weiter: „Sie bringen Getreide und Felle nach London. Sie kommen aus Narwa, weit im Osten.“
„Und warum haben sie geschossen?“
Die beiden anderen Kauffahrer befanden sich achterlicher als dwars auf der Steuerbordseite. Sie zeigten keine Anstalten, die Schebecke mit Fernschüssen einzudecken. Hasard hatte einigen Respekt vor den bewaffneten Kauffahrern, meist verstanden sie hervorragend, sich zu wehren, denn die Kapitäne waren oft Besitzer der Schiffe oder der Ladung, und für sie ging es um riesige Summen.
„Sie wollten uns auf Abstand halten. Der Kapitän hat sich entschuldigt und wünscht gute Fahrt. Er hat einen Eisberg gesehen, sagt er.“
„Das ist denkbar, aber sehr unwahrscheinlich“, meinte Hasard und beobachtete die Fleuten durch das Spektiv. Die Niederländer waren unruhig, aber sie schienen nicht mehr zu glauben, daß das Schiff mit den Mittelmeersegeln ihnen gefährlich werden konnte.
„Also sind wir auf dem richtigen Kurs. Wikinger voraus“, sagte lachend Gary Andrews.
„So ist es.“
Al Conroys Hand beschrieb eine Geste, die besagen sollte, daß alle seine Anstrengungen sinnlos gewesen waren. Er kniff die Lunte ab und winkte seiner Crew. Bedächtig fingen sie an, auf der Backbordseite wieder die Schutzhüllen über die Culverinen zu ziehen, nachdem sie die trockenen Sandsäcke in die Mündungen gesteckt hatten.
Etwas weniger laut erklärte Piet Straaten dem Kapitän: „Sie waren zu Tode erschrocken, schon wieder ein Schiff zu sehen, das nicht in diese Gewässer paßt. Ihre Felle sind mächtig teuer, deswegen sind sie besonders wachsam. Pfeffersäcke also. Aber gute Seeleute, wenn sie so lange Reisen riskieren.“
„Immerhin hat Cornelius Houtmann vor drei Jahren mit Hilfe portugiesischer Karten, die bisher geheim gehalten wurden, den Seeweg nach Indien für die Holländer gefunden. Die Spanier ärgern sich zu Tode über ihre einstigen Untertanen.“
„Außerdem hilft den Niederländern die englische Königin“, meinte Piet. „Alles klar, Sir?“
„Sieht so aus. Jedenfalls gibt’s bei uns wenig Langeweile“, antwortete der Seewolf und rief ein paar Kommandos.
Die Freiwache verzog sich bis auf wenige Ausnahmen unter Deck. Die Wache und der Rudergänger brachten die Schebecke auf einen Kurs, der etliche Grade weiter nach Osten führte.
Irgendwo voraus – Dan O’Flynn fing zu rechnen und zu peilen an – lag der nächste Hafen: Hirtshals, der letzte Ort vor Skagen, in dem an diesen leeren Küsten Menschen wohnten.
Die Handelsfahrer liefen alle Häfen des Baltischen Meeres an. Neun von zehn Schiffen waren in diesen Jahren Niederländer, denn die Hansekoggen wurden von Jahr zu Jahr seltener. Man sagte, daß der gesamte Handel zwischen Nord und Süd in diesen westlichen Ländern fast nur von Niederländern abgewickelt würde.
„Die Mutter der Kommerzien“ nannten die Holländer den Handel in der Ostsee.
Narwa und Reval, Riga und der Hafen Königsberg, Danzig oder Stockholm – von dort kamen sie, dorthin segelten die dickbauchigen Schiffe mit kleiner Besatzung und geladenen Geschützen.
Die Laderäume waren voller Holz oder Flachs. Eisenbarren und Kupferbarren ersetzten die Steine, die sonst als Ballast gefahren wurden. Hanf und die kostbaren Felle seltener Tiere kamen aus Rußland nach London und Amsterdam. Und viel Getreide aus den fruchtbaren Ackern der Länder an den Küsten des „Balticums“.
Der kürzeste Weg führte durch den gefährlichen Öresund. Helsingborg auf schwedischer und Helsingör auf dänischer Seite, zwei Städte, bewachten die enge Passage und stritten sich um den Zoll, den die Handelskapitäne zu entrichten hatten.
Gegenwärtig, hatte Philip Hasard Killigrew erfahren, gab es keinen Streit, denn beide Städte schienen fest in dänischer Hand zu sein. Ob es so war oder nicht, die Arwenacks blieben von diesen Streitereien unberührt. Sie würden weder für den einen noch für den anderen Partei ergreifen. Sie waren frei und legten ihre Kurse, wie es ihnen paßte – mit sehr wenigen Ausnahmen.
Überdies befand sich die Schebecke an einer Küste, die mit alledem nichts zu tun hatte. Hier lebten nur Fischer und Bauern. Hinter Lökken und Hjörring sollte sich, glaubte Hasard den Gesprächen und Schilderungen aus den Wirtsstuben, ein riesiges Moor ausbreiten. Die Küste vor Hirtshals war ebenso langweilig und öde wie der Abschnitt zwischen diesem Hafen und Skagen, dem letzten Ort auf dieser Halbinsel im Norden.
Würden sie etwa dort auf Thorfin Njal stoßen?
Sicher nicht. Er war bestimmt weitergesegelt und ärgerte die Norweger.
Don Juan de Alcazar fror trotz der dicken Segeltuchjacke. Seit er zugehört hatte, wie der Niederländer den Eisberg erwähnt hatte, fröstelte es ihn jedesmal, wenn er das blauschwarze Seewasser sah, den fahlgrauen Himmel, der sich noch immer nicht blau färben wollte, obwohl seit zwei Stunden die Sonne strahlen sollte, und wenn er an den Eisberg dachte, schüttelte es ihn förmlich.
„Eisberge“, murmelte er und beobachtete die seltsam aussehende Wolke, die sich im Westen über der Kimm zusammenballte. Eine solche Farbe und Form hatte er noch niemals gesehen. Jedenfalls erinnerte er sich nicht daran. „Eisberge. Was ist das für eine Weltgegend, wo das Eis in Bergen daherschwimmt. Und wann haben wir endlich einen warmen Wind?“
Natürlich, sagte er sich, war zu dieser Jahreszeit keine Hitze wie in der Karibik zu erwarten. Aber in diesen nördlichen Gewässern zog er es vor, möglichst oft und lange unter Deck zu bleiben und mit Dan O’Flynn die Karten zu sichten und einzutragen, was sie wußten oder was an Neuigkeiten zu erfahren gewesen war.
Während seiner Ruderwachen hatte es, zum Glück, nicht den geringsten Zwischenfall gegeben. Ruhige Stunden in den Nächten, in denen die Schebecke gut am Wind und ebenso gut auf Kurs lag. Er drehte sich herum und nickte Gary Andrews zu, der wieder an der Pinne stand.
„Was hältst du von dieser herrlichen Naturerscheinung?“ fragte der Spanier. „Ich kenne derlei nicht. Aber sie sieht für mich so aus, als würde sie eisige Kälte bringen.“
Daß die Nordsee für ihr schnell wechselndes Wetter bekannt und wegen ihrer haushohen, wütenden Wellen gefürchtet war, das wußte ausnahmslos jeder an Bord der Schebecke.
Welche anderen Überraschungen sie bereithielt, das würde sich vermutlich noch zeigen. Den ersten wütenden Sturm hatten sie schon hinter sich.
Aufmerksam studierte Gary Andrews die Wolke, die sich ausdehnte und mit dem Wind näherrückte.
„Sieht sonderbar aus“, bemerkte er knapp. „Und wenn etwas sonderbar ist, das habe ich gelernt, dann wird’s meist auch gefährlich.“
„Natürlich nicht für uns Seewölfe“, versuchte Don Juan einen grimmigen Scherz.
Die Männer der Wache kauerten, eingemummt in dickes Zeug, im Windschutz des Schanzkleides und unterhielten sich leise. Auch an diesem Morgen gab es außer der eintönigen Küste nichts zu sehen. Der größte Teil des Firmaments war von dünnem Hochnebel bedeckt, und aus dem Westen näherte sich jene seltsame, niedrige Wolke.