Seewölfe Paket 31

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„Auch für uns“, schränkte Gary ein. „Langsam wird’s mir mulmig. Ich denke, wir sollten den Kapitän wecken. Holst du ihn, Juan?“
„Bin schon dabei“, brummte der Spanier und warf, während er das Achterdeck verließ, einen sehnsüchtigen Blick zu dem kahlen Strand. Was immer sich dort in West zusammenballte, es war gut, das Land und die Häfen von Hirtshals und Skagen in der Nähe zu wissen.
Ben Brighton, Dan O’Flynn und einer der Zwillinge kamen Don Juan entgegen, als er sich unter dem dicken Stringer bückte.
„Seht euch die Wolke an“, sagte der Spanier in einem Ton, der sein größtes Unbehagen ausdrückte. „Gary und ich wissen nicht, was wir davon halten sollen. Ich wecke Hasard.“
Aus der halben Dämmerung unter Deck ertönte Hasards Stimme: „Nicht mehr nötig. Ich komme schon.“
„Besser so.“
Die Gruppe betrachtete schweigend und nachdenklich die sich nähernde Wolke, die inzwischen in die Länge und Höhe gewachsen war und ihre Farbe verändert hatte. Aus einem nebligen Grau war ein kalkiges Weiß geworden. Jeder Seewolf, der das anrückende Unwetter anpeilte, spürte eisige Kälte zwischen den Schulterblättern und kräftige Gänsehaut.
Schließlich wechselten der Erste und Hasard einen langen Blick. Ihre Gesichter hatten einen Ausdruck, der nichts Gutes versprach:
„Das ist eine Schneewolke“, sagte der Seewolf mit Bestimmtheit.
„Und sie ist in spätestens eineinhalb Stunden über uns“, pflichtete ihm Ben Brighton bei.
„Mit einem soliden Weststurm verbunden“, schaltete sich Gary Andrews ein. „Schaffen wir es vorher bis Hirtshals, Sir?“
„Darauf würde ich nicht eine Kupfermünze verwetten“, entgegnete Hasard. „Jeder Tag bringt mindestens eine Ärgerlichkeit. Freunde, wir sollten die Pfannen festbändseln und uns später auch.“
„Kurs genau Nordost, Sir?“ fragte Gary.
„Diesen Kurs halten.“
„Er bringt uns mit etwas Glück direkt in den Hafen“, meinte Ben. Er rief zur Kuhl hinunter: „Freunde! Das Schiff muß seefest gemacht werden! Alles festzurren. Wir kriegen einen saftigen Sturm, wahrscheinlich Schnee. Unter Deck gilt das gleiche. Die Ruhe ist für heute vorbei.“
„Verstanden“, tönte es von vorn. „Aye, aye, Sir.“
„Und dann zieht euch warm an.“
An Deck und unter den Planken breitete sich innerhalb kurzer Zeit starke Hektik aus. Der Schimpanse keifte und schnatterte, als ginge es ihm ans Leben. Plymmie kläffte und sprang den Seewölfen zwischen den Beinen herum. Vom Bug bis zum Heck wurde alles, was nicht verstaut, verzurrt oder belegt war, aufgeklart. Die Schlafenden wurden unsanft geweckt.
Jetzt traf ein erster, schwacher Sturmausläufer die Schebecke. Sie schüttelte sich nur, aber der eisige Hauch ließ die Männer zusammenzucken. Don Juans spanische Flüche verstand man ausgezeichnet, bis hinunter in die Bilge.
Der Seewolf überlegte, ob sie Segel bergen sollen. Als der nächste Ausläufer des eisigen Sturms heranrauschte, schüttelte er den Kopf. Das Schiff würde auch diesen Sturm aushalten, zumal er achterlichen Wind brachte.
„Wir können nur hoffen, daß der Sturm nicht bis in die Nacht hinein anhält“, murmelte Hasard. „Aber wenigstens wird er uns ein gutes Stück weit nach Norden bringen.“
Einige Schneeflocken tanzten in der Luft. Vom Bug erschienen die Seewölfe und meldeten alles klar.
Die weiße Riesenwolke füllte jetzt den gesamten Horizont aus, es wurde merklich kälter. In der Luft hing plötzlich ein leises, schrilles Heulen, das lauter wurde, je mehr der Sturm zunahm. Immer mehr weiße Flocken wirbelten über die Wellen. Die Sicht wurde schlechter.
„Kurs halten“, sagte der Seewolf und stellte sich neben den Rudergänger. „Auch wenn es kalt wird.“
„Es wird kalt, Sir.“
Der Sturm walzte heran, fuhr heulend in die Segel und brachte einen riesigen Schauer Schneeflocken mit. Vom achteren Grätingsdeck aus sahen die Männer nicht einmal mehr den Bugsprit. Die Seewölfe zogen die Köpfe ein und kniffen die Augen zusammen.
Die Segel waren bei dem eisigen Wind bretthart wie gefrorenes, nasses Tuch. Das Tauwerk vibrierte mit leisem Summen. Das Wasser zischte unter dem Bug und gurgelte am Heck, das Kielwasser schäumte weiß. Das Orgeln und Heulen des Sturmes begann alle anderen Geräusche zu übertönen, die Luft füllte sich mit weißen, umherwirbelnden Flocken.
Binnen weniger Atemzüge schien sich ihre Menge zu vervielfachen. Sie bildeten dichte Schleier, breite Vorhänge und weiße Wirbel. Sie tanzten in waagerechten und senkrechten Spiralen und schluckten das Licht. Die Schebecke preschte immer schneller durchs Wasser, hob und senkte sich und schüttelte immer wieder die ersten Schneesäume ab, die sich auf die Segel, die Planken und das Schanzkleid abgelagert hatten.
„Vielleicht treibt tatsächlich mitten in diesem weißen Gestöber ein Eisberg“, keuchte der Rudergänger.
Der eisige Wind riß ihm die Worte von den gefühllosen Lippen. Von allen Seiten drang die beißende Kälte auf die Männer ein, und an den Stellen, die ungeschützt dem Wind ausgesetzt waren, begann sie besonders zu schmerzen.
Auch die Richtung, aus der die Wellen anrollten, änderte sich. Mehr und mehr entsprach sie jener, aus der immer gewaltigere Schneemassen daherjagten. Die unzähligen Wirbel überschlugen sich und vermischten sich miteinander.
Die Schebecke schnitt hindurch, als wäre es Nebel.
Die Helligkeit des Tages hielt an, während sich das Schiff durch die weiße Flut dahinbewegte. Niemand erkannte Richtung oder Wellenhöhe. Vom Grätingsdeck aus konnte man nicht einmal mehr die Kuhl erkennen. Die weiße Masse hüllte alles ein und verwandelte die Luft in eiskalten Dunst.
Sie konnten nichts anderes tun: der Rudergänger hielt den Kurs, so gut er konnte, und alle anderen duckten sich unter den eiskalten Flocken, die wie Nadeln stachen.
Die Schebecke jagte, wie es schien, über die Wellen dahin. Die Stöße, die den Rumpf erschütterten und die Masten schüttelten, waren hart und folgten schnell aufeinander. Aus dem Rumpf des Schiffes erklangen dumpfe, dröhnende Schläge.
Blind, frierend und in ständig steigender Anspannung klammerten sich die Seewölfe fest und hofften, daß ihr Schiff nicht gegen ein Hindernis raste, gegen die Küste, die vielleicht schneller als geahnt und errechenbar näher rückte, gegen eine der seltenen Kalksteinklippen oder, was ebenso unmöglich wie möglich schien, gegen einen niederländischen Kauffahrer.
In Lee des Schanzkleides lagerte sich Schnee ab. Die Flocken klebten an dicken Tampen, an den Masten und anderen Holzteilen. Jedesmal, wenn sie an den senkrechten Teilen eine bestimmte Dicke erreicht hatten, fielen sie ab, wurden vom Sturm mitgerissen und wirbelten wieder zusammen mit den anderen in einem wilden Tanz davon.
„Wie lange dauert so ein Schneesturm vor Dänemark?“ knurrte Hasard in sich hinein und zog den Kopf zwischen die Schultern.
Er konnte sich keine Antwort geben. In einer halben Stunde konnte alles vorbei sein, aber der Sturm tobte womöglich noch den Rest des Tages und die Nacht über. Wohin er die Schebecke dann trieb, wußte nicht einmal Dan O’Flynn.
„Verdammte Seefahrt“, stöhnte der Seewolf.
Nach seiner Schätzung heulte und pfiff der Schneesturm mehr als eineinhalb Stunden in unverminderter Stärke. Und er hörte nicht auf. Er raste aus dem westlichen Quadranten heran, kreischte einmal aber mehr aus Südwest, dann wieder aus Nordwest. Er hatte die Schebecke eingehüllt, umgab sie wie eine Wolke und riß sie mit sich, irgendwohin in nordöstliche Richtung.
Hasards Unruhe wuchs.
Er versuchte, aus dem auf und ab schwellenden Heulen etwas herauszuhören. Das Geräusch beispielsweise, mit dem sich die Brandung am Strand oder an den Klippen brach. Oder andere Laute, die auf die Nähe des Landes hinwiesen. Es gelang ihm nicht.
Auch die halbe Helligkeit hatte sich noch nicht geändert.
Es blieb Tag, irgendwo außerhalb der gewaltigen Schneewolke, in der das Schiff gefangen war.
Plötzlich öffnete sich der Vorhang aus Flocken. Der erste Blick zeigte wieder die Schebecke vom Heck bis zum Bug. Dann erkannten die Seewölfe das dunkle Wasser, die Wellen und Gischtstreifen. Das Wimmern und Jaulen des Windes wurde leiser. Die Wolke zog in östliche Richtung davon, und an ihrer Rückseite wirkte sie ebenso bedrohlich wie gegen Mittag, als sie sich auf die Schebecke gestürzt hatte.
Der angehäufte Schnee fing zu schmelzen an. Breite Rinnsale liefen über die Planken. Hasard hob seinen Kopf zwischen dem Kragen, rückte die Mütze nach hinten und riskierte einen langsamen Rundblick. Er grinste voller Erleichterung.
„Das haben wir überstanden, Gary“, sagte er. „Was werden wir sehen, wenn sich die Wolke aufgelöst hat?“
„Einen anderen Teil der langweiligen Küste“, antwortete der Rudergänger.
Nach und nach stolperten die Seewölfe an Deck zurück. Der Schnee löste sich völlig auf, im Segeltuch zeichneten sich die nassen Flecken ab. Vom laufenden und stehenden Gut tropfte es dick auf die Planken.
„Da!“ sagte Gary und nickte, denn es hatte sich bestätigt, was er errechnet hatte. „Das muß Hirtshals sein, Sir.“
Achterlich, rund eineinhalb Seemeilen entfernt, raste der Schneesturm über die Küste dahin und gab, als er ins Landesinnere jagte, die Sicht auf die Küstenlinie frei.
„Das ist Hirtshals“, bestätigte Dan, der aufs Achterdeck enterte und sich schüttelte. „Wir sind ja förmlich geflogen, nicht gesegelt, Sir.“
„Der einzige Vorteil von diesem verrückten Sturm“, sagte kopfschüttelnd Don Juan und schaute den weißen Wolken nach. Im Westen schälte sich langsam die Sonne aus den langgestreckten Wolken, drei Handbreiten über der Kimm. Die Kälte war ebenso vergangen wie der Schnee und der Flockenwirbel. „Wir müssen längst dort sein, wo die Eisberge treiben, nicht wahr?“
Hasard lachte gutgelaunt. Er klopfte dem Spanier auf den Rücken und erklärte: „Das Tagesziel ist hiermit geändert. Wir brauchen uns nicht nach Hirtshals zu verholen.“
Gary nickte und rieb sich, die Pinne zwischen den Oberschenkeln, die kalten Finger.
„Also Kurs nach Skagen. Wir runden das Kap?“
„Bis dahin wird es allerdings finster sein“, sagte Dan O’Flynn und zeigte zum Himmel. „Aber heute nacht sehen wir vermutlich den einen oder anderen Stern.“
„Und vielleicht eine Spur unseres Freundes mit dem Kupferhelm.“
Die Seewölfe suchten die Uferlinie mit den Spektiven ab und fanden ihre ersten Eindrücke bestätigt. Der Hafen des kleinen Fischerdorfes verschwand langsam hinter der Krümmung der sandigen Bucht, dann schoben sich ein paar Bäume vor die niedrigen Masten der Fischerboote.
„Das mag durchaus so sein“, brummte der Profos. „Und von Skagen geht es dann in die Heimat Thorfins, nicht wahr?“
Hasard nickte und freute sich, daß die Kraft des Windes nicht abgenommen hatte. Die Schebecke würde gut in Fahrt bleiben, und ein halber Tag in Skagens Hafen konnte dazu benutzt werden, Essen und ein paar Faß des guten norwegischen Bieres zu übernehmen. Wahrscheinlich hörten sie dort auch etwas vom Wikinger.
„So ist es geplant“, antwortete der Seewolf. „Ich denke, es ist die beste Zeit für ein ordentliches Essen. Das Schiff liegt einigermaßen ruhig.“
„Der Kutscher ist schon dabei, Sir.“
„Gut. Schneesturm macht hungrig.“
Die Arwenacks hatten schon viele Stürme abgeritten, und auch ein solcher Schneesturm konnte sie nicht zu Tode erschrecken. Trotzdem blieb eine solche Fahrt ohne jede Sicht ein gefährliches Unternehmen. Sie zeigte den wetterharten Arwenacks, daß jede Küste ihre eigenen Gefahren hatte.
Drei Stunden vor Mitternacht sprang Don Juan auf das Achterdeck hinunter, lief zum Niedergang und rief: „Kapitän an Deck! Da gibt es etwas!“
Vier Mann waren Ruderwache gegangen. Der Spanier, Jack Bowie, Ferris Tucker und Old Donegal. Sie hatten nichts anderes zu tun, als die Küste anzustarren, durch die Spektive oder mit dem bloßen Auge. Während der letzten Stunden zeigte die Linie, die durch nichts anderes als schmale, weiße Brandungsstreifen zu erkennen war, fast schnurgerade nach Nordosten. Vor dem Kap, hinter dessen Dünenlandschaft der nördlichste Hafen Dänemarks lag, schwenkte die Düne nach Osten, dann krümmte sie sich wie ein Haken nach Südwesten zurück.
„Was ist los?“ Schläfrig tappte der Seewolf zum Niedergang.
Wortlos deutete Don Juan nach Steuerbord voraus.
„Das ist tatsächlich ein bemerkenswert mächtiges Feuer“, sagte Hasard, ließ sich ein Spektiv geben und peilte hinüber. Im flackernden Licht der riesigen Flammen erkannte er trotzdem nichts anderes als Dünen, nackt und bewachsen, sowie die Spuren von Sturmfluten und riesigen Verwehungen, die von Sandflächen gebildet wurden.
Das Feuer loderte in einer winzigen Bucht. Die Flammen spiegelten sich im ruhigen Wasser zwischen den Dünen.
„Ich sehe ein Feuer. Und eine riesige Menge von Holzstücken, halbe Baumstämme. Aber keine Leute“, sagte der Seewolf nachdenklich und hob die Schultern. „Habt ihr eine Erklärung?“
„Thorfin hat einen Bauernhof angezündet“, sagte Old Donegal sofort. „Er hat nach Schinken und frischen Eiern gesucht, und sie wollten ihm nicht geben, was er brauchte.“
„Das ist eine erstklassige Erklärung“, antwortete Don Juan.
„Nach Skagen traut er sich nicht hinein“, sagte lachend der Seewolf. „Um dich zu beruhigen, Old Donegal, da drüben brennt Holz. Kein Bauernhof. Es hat andere Gründe.“
„Rätselhaftes Dänemark“, meinte Don Juan. „Wollen wir nicht nachsehen, ob dieses Feuer nicht für Schiffe angezündet wurde? Zum Beispiel für die niederländischen Händler?“
„Schon möglich.“
„Wir haben hohe Flut“, erklärte Old Donegal. „Elfen und die Leute vom Kleinen Volk tanzen um das Feuer. Sehen wir nach, Sir. Siehst du die große Düne?“
Nach kurzem Zögern entschied Hasard: „Wir gehen so nahe wie möglich an das Feuer heran. Das hat etwas zu bedeuten. Weit und breit gibt es keine Siedlung, aber plötzlich diese Flammen. Vergeßt nicht, Skagen ist kein kleines Dörfchen, sondern hat fast zweihundert Jahre Stadtrecht. Und wir haben in Dänemark einen guten Ruf.“
„Ob der bis hierher gedrungen ist, wage ich zu bezweifeln“, meinte Don Juan. „Ich bin auch dafür, daß wir nachsehen, was das Feuer zu bedeuten hat. Ich sage dir, es hat etwas zu bedeuten.“
„Kurs auf das Feuer. Und nicht zu nahe an den Strand. Einer zum Bug, um die Tiefe zu loten!“ rief der Seewolf.
„Aye, aye, Sir.“
Die Schebecke schwang herum und richtete den Bug auf die fernen Flammen.
Hinter dem Feuer ragte eine riesige Düne auf. Das flackernde Licht ließ einen Teil der rund hundert Fuß hohen Sandverwehung aus der Schwärze hervortreten. Am südlichen Ende der Düne schien sich ein Turm zu erheben. Das Schiff war auf dem direkten Weg zum Feuer, und die Neuigkeit hatte mittlerweile alle Seewölfe geweckt. Sie erschienen an Deck und peilten hinüber zum Feuer.
„Merkwürdig“, sagte Jack Bowie kurz. „Keine Kerle zu sehen.“
„Elfen und Gnome sind unsichtbar“, erklärte Old Donegal begeistert. „Aber wenn wir sie packen können, dann erfüllen sie uns jeden Wunsch.“
„Was willst du denn von ihnen?“ fragte Ferris Tucker. „Gold? Oder einen Adelstitel?“
„Weiß ich noch nicht“, erwiderte der „Admiral“. „Werde ich mit ihnen an Ort und Stelle klären.“
Das Schiff ging, eine Kabellänge vor der Brandung, in den Wind und drehte sich.
„Fünfzig Fuß!“ rief Matt Davies vom Bug.
„Weiter.“
Langsam schoben und drückten die Wellen die Schebecke auf den Sand zu.
„Vierundvierzig Fuß!“
Das Feuer brannte noch immer. Eine riesige Menge Holz war kreuz und quer übereinandergeworfen worden. Die riesigen Abschnitte von Baumstämmen rutschten langsam in die Flammen. Der Turm einer Kirche, ein weißes Bauwerk mit stufenartig ansteigendem Doppelgiebel, schien immer kleiner zu werden und verschwand schließlich in einiger Entfernung hinter den Dünen.
„Zwanzig Fuß!“ tönte es vom Bug.
„Wollen wir an Land nachsehen?“ rief Ferris Tucker.
„Ja“, antwortete der Seewolf. Er hatte hinter dem Feuer, dem Rauch und den Funken seltsame helle Steine gesehen. Sie ragten aus dem windgepeitschten Gras.
„Fünfzehn Fuß!“
In zehn Fuß Wassertiefe würde der Kiel über den sandigen Schlick schrammen. Wenn die Ebbe eintrat, konnten die Seewölfe an Land, ohne völlig durchnäßt zu werden.
Die wenigen Laternen an Bord und das Feuer genügten, um einen breiten Abschnitt des Strandes so gut zu beleuchten, daß die Arwenacks erkannten, in welche Lage sie sich brachten. Langsam schwang die Schebecke herum, nachdem der Profos und Batuti mit den Riemen das Heck erreicht und im Schlick gestakt hatten.
Die Segel knatterten und knallten, bis sie neu belegt wurden.
„Neun Fuß“, meldete Matt Davies jetzt vom Bug. Er selbst war überrascht und warf das Lot noch einmal aus.
Als er aussingen wollte, knirschte der Bug und saß fest. Deutlich waren am Strand die ineinandergeschichteten Wälle aus Treibgut zu sehen. Jede Welle, die ablief, hinterließ einen Schaumstreifen und rückte ein wenig mehr auf die Schebecke zu.
„Wir warten noch!“ rief der Seewolf. „Nehmt ein paar Fackeln und Waffen mit, wenn wir an Land gehen!“
„Aye, Sir.“
Schweigend standen die Seewölfe achtern und am Schanzkleid und schauten in die Flammen, die nicht kleiner wurden. Ob das Feuer von Skagen aus zu sehen war, wußte niemand. Wenn es so war, dann hielten sie es für sehr verwunderlich, daß die Dänen noch nicht zusammengelaufen waren. Auch in den nächsten Stunden zeigte sich kein Mensch.
Nach Mitternacht stapften die Seewölfe durch den nassen Schlamm und Sand des Watts auf den Fuß der Dünen zu. An dieser Stelle gab es keine deutlichen Zeichen von Verwüstungen durch Sturmflut, aber der ständige Wind verwehte auch diese Spuren.
Neben Hasard stolperte Jung Philip aufs Land zu. Jeder Schritt erzeugte ein nasses Schmatzen. In den Stiefelspuren sammelte sich das Wasser. Der brennende Holzstoß war etwa zwei Kabellängen entfernt.
„Das Feuer ist mit einiger Kunst angelegt worden“, sagte Philip. „Die dicken Stämme rollen in die Flammen, wenn die anderen verbrannt und verglüht sind.“
Ein großer Kreis aus Asche, schwarzen Brocken und dunkler Glut bewies, daß das Feuer schon sehr lange brannte. Ungewöhnlich lange sogar.
„Was schätzt du?“ fragte Hasard seinen Sohn. Die Flammen strömten bis hierher ihre Hitze aus.
„Vielleicht sogar zwei Tage, Dad“, meinte Philip. „Und es brennt noch lange weiter, bis das alles dort hinuntergerollt ist.“
„Wahrscheinlich hast du recht.“
Hintereinander wateten die Seewölfe an den Strand und stampften den Schlamm von den Stiefeln. Hinter Hasard folgte Ferris Tucker und zog die Zimmermannsaxt aus dem Gürtel.
„Niemand zu sehen, wie?“ brummelte er und kletterte bedächtig den ersten flachen Dünenhang hinauf. An einer Stelle landeinwärts, wo sich drei Sandhänge trafen, war das Feuer vorbereitet worden. Vom Strand führten breite Schleifspuren bis an diese Stelle. Zuerst waren also große Mengen von Treibholz hierhergeschleppt worden. Woher die Baumstämme stammten, wußten die Seewölfe noch nicht.
Hasard umrundete in achtungsvollem Abstand die Feuersäule und ging auf den ersten der vielen hellen Steine zu, die er von Bord aus schon erkannt hatte.
Sie umstanden in einem weiten Kreis das Feuer. Hasard zählte zwölf Steine von unterschiedlicher Höhe. Sie waren wie dicke Säulen geformt oder kamen in der Natur in dieser Form vor, und irgend jemand hatte sie vor langer Zeit hierher geschleppt. Einst waren sie wohl senkrecht und gerade aufgestellt worden, jetzt schienen sie in alle Richtungen gekippt zu sein. Licht und Schatten ließen ihre Oberflächen auf seltsame Weise aufleben.
Hasard und sein Sohn gingen näher an den ersten heran. Die Hitze brannte in ihren Rücken.
„Das ist keine natürliche Aufstellung“, sagte der Seewolf. „Siehst du, daß der Abstand immer gleich groß ist?“
„Ja. Wäre es ein voller Kreis, hätte er einen Durchmesser von vielleicht einer Kabellänge.“
Hinter und zwischen den gekippten Steinsäulen erkannten die ausgeschwärmten Seewölfe die Wurzeln und Stammteile abgeschlagener Bäume. Überall lagen die herausgeschlagenen Holzspäne im dürren Gras. Hasard ließ seine Finger über die Vorderseite des Steines gleiten. Tiefe Rillen zeichneten sich ab, die ein böse starrendes Gesicht ergaben. Darunter waren kantige Zeichen eingehämmert. Der Stein schien uralt zu sein, denn Sturm und die Reibung des Sandes hatten die Umrisse geglättet.
Nils Larsens Schatten fiel auf den Stein.
„Das sind Runen. Uralte Schriftzeichen“, erklärte er und fuhr die Linien nach. „Aus der Vergangenheit von Dänemark. Man sagt, daß die Wikinger diese Steine gemeißelt und aufgestellt haben. Du mußt wissen, daß es große Burgen gegeben hat, damals, als sie aufbrachen mit ihren Drachenschiffen.“
Hasards Sohn hörte nicht weniger aufmerksam zu als sein Vater.
„Schon König Godfred hat solche Steine aufgestellt, habe ich gelernt“, sagte der Däne fast ehrfürchtig. „Runensteine nennt man diese Brocken hier. Es gibt sie in vielen Formen.“
Die Männer gingen von einem Stein zum anderen. Der letzte Sturm hatte einen Teil von ihnen freigelegt. Eine ernsthafte Überschwemmung würde sie in dem Sandmeer verschwinden lassen, das sich an die Nordsee anschloß und ebensolche Wellen bildete.
„Dann wissen wir ja auch, wer dieses Feuer angelegt und gezündet hat“, mischte sich Ferris Tucker ein.
„Der Wikinger! Thorfin Njal hat die Elfen und Gnome beschworen. Sie sollen ihm helfen“, meinte Old Donegal. „Hier, seht ihr ihre Spuren?“
Carberry stieß ein gewaltiges Gelächter aus und schaute zu Boden. Dort, wo der Wind den Sand geglättet hatte, zeigten sich deutlich die Spuren. Aber es waren Abdrücke von Hasen oder ähnlichen Tieren.
„Ich sehe sie. Du mußt versuchen, die Gnome im Spiegel zu sehen. Dann kannst du sie packen. Und wenn sie zappeln, dann müssen sie dir etwas versprechen. Einen Wunsch erfüllen. Ewige Jugend oder so etwas, klar?“
Der Profos bemühte sich, sein Gesicht nicht zu verziehen. Old Donegal hörte ihm aufmerksam zu und trug einen verzückten, durchaus gläubigen Ausdruck zur Schau.
„Er hat recht, Granddad!“ rief Philip junior. „Du mußt nur suchen.“
Old Donegal heftete seinen Blick auf die Hasenspuren und ging ihnen nach, vor Aufregung das Hinken vergessend. Wie einer der Geister oder Gespenster, die er suchte, verschwand er in der rot durchglühten Dunkelheit.
„Ich kann mir wirklich vorstellen“, sagte schließlich der Seewolf halblaut und eindringlich, „daß Thorfin dieses Feuer angezündet hat. Woher wußte er von den Runensteinen? Und wie fand er sie? Aber diese monumentalen Flammen – sie sind Ausdruck seiner Art. Wir werden ihn finden und fragen, denke ich.“
Das riesige Feuer war ein Zeichen, das niemand übersehen konnte. Die Flammen erhellten einen großen Teil der Umgebung. Selbst in den Schatten, die von den Dünenkämmen und den Bäumen stammten, konnte man den Weg zurück ohne die geringsten Schwierigkeiten finden. Die ansteigende Flut ließ noch lange auf sich warten, es eilte nicht im geringsten.
Die Seewölfe steckten ihre Waffen zurück und zerstreuten sich voller Neugierde in alle Richtungen. Hin und wieder leuchteten in der vagen Dunkelheit gelb und groß die Augenpaare von kleinen und größeren Tieren auf.
Carberry sagte sich, daß ein gut gewürzter Braten für Mac Pellews Kochkünste eine willkommene Abwechslung sein würde und dachte darüber nach, was es hier zu schießen gäbe. Er winkte Batuti zu sich heran und redete leise auf ihn ein. Grinsend nickte der Gambiamann.
Hasard und seine Zwillingssöhne stolperten durch den rankenartigen Bewuchs von einem der Runensteine zum anderen. Die uralten Gesichter von Kriegern oder Stammesfürsten schienen in den flackernden Flammen zu zwinkern und reden zu wollen. Ausnahmslos blickten sie alle grimmig oder bestenfalls noch würdevoll drein. Keines der Gesichter trug die Zeichen eines Lächelns oder einer größeren Bewegung des Gemüts.
„Sehr weit vor uns kann der Wikinger nicht sein“, brummte Hasard und schaute Carberry und dem Gambiamann nach, die in einem weiten Bogen die Dünen umrundeten. Wie eine Mauer ragte die riesige Düne auf. Sie sah aus, als würde sie alles unter sich begraben, wenn der Wind den Sand vor sich hin trieb.