Seewölfe Paket 31

- -
- 100%
- +
„Einige Tage. Aber heute nachmittag haben wir aufgeholt“, erklärte Dan ruhig. „Nur – der Sturm, der uns über das Meer jagte, verhalf auch ihm zu einer schnellen Reise.“
„Würde mich wundern“, brummte Hasard, „wenn wir Thorfin in Skagen treffen sollten.“
„Die Skagener wären auch nicht begeistert davon.“
Die Seewölfe, die diese Bemerkung des Kapitäns gehört hatten, brachen in Lachen aus. Es brauchte nicht viel Phantasie, um sich das vorzustellen. Die umherstreifenden Arwenacks scheuchten brütende Vögel auf. Möwen flatterten auf das Feuer zu und stießen ihre klagenden Schreie aus. Beim letzten Runenstein blieb der Seewolf wieder stehen und hob ein wenig ratlos die Schultern.
„Wir haben alles gesehen. Im Grund nichts anderes als eine weitere Spur des Wikingers. Was denkst du darüber, Dan?“
„So ziemlich das gleiche, Sir.“
„Zurück aufs Schiff? Wir warten auf die neue Flut und verholen in den Hafen von Skagen.“
„Etwas anderes fällt mir auch nicht ein. Die meisten werden rechtschaffen müde sein, Sir. Ich jedenfalls wate jetzt zurück und haue mich aufs Ohr. Dann sind wir morgen wieder klar, wenn wir über den Skagerrak segeln.“
„Einverstanden“, erwiderte der Seewolf.
Rumpelnd und polternd rollten von zwei Seiten wieder neue Baumstämme in die Glut. Ein riesiger Funkenschauer stieg in den Nachthimmel und wurde von dem kalten Sturm davongewirbelt. Das Knistern und Knacken übertönte für einige Atemzüge alle anderen Geräusche. Geblendet schlossen die Arwenacks die Augen. Grell und drohend starrten die Runensteine mit ihren undeutbaren Gesichtern und unlesbaren Zeichen die fremden Männer an.
Der nächste Windstoß, der über die ferne Brandung und das nasse Watt fegte, zeigte den Seewölfen, wie diese Steine – und vieles andere – einst verschwunden waren, dann wieder auftauchten und irgendwann auch wieder ohne Spuren versinken und verschwinden würden. Wahrscheinlich schon in kurzer Zeit. Wie der Wikinger von ihnen erfahren hatte, wie er sie fand und warum er dieses Heldenverehrungsriesenfeuer entfacht hatte, das konnte sich keiner der Arwenacks so recht vorstellen.
Vielleicht am ehesten noch Old Donegal, der irgendwo auf den Spuren von Hasen, Rehen und Luchsen durch das Unterholz stolperte und seine Elfen suchte.
Die ersten Crewmitglieder tappten zurück zum Schiff, kletterten über die Jakobsleiter auf die Kuhl und wurden von Jack Finnegan und Bob Grey abgefangen. Einige große Pützen standen da, angefüllt mit Salzwasser, und feuchte Lappen lagen auf den Planken.
„Kein Dreck ins Schiff!“ rief Jack Finnegan. „Reinigt eure Hufe. Und dann erst unter Deck.“
Unbarmherzig wachten sie darüber, daß nicht zuviel Schmutz und Sand ins Schiff getragen wurde. Der Kutscher blies in sein Feuer und sagte sich, daß in Kürze ein großes Gebrüll nach Tee und Essen ertönen würde.
Aus dem Dunkel des Waldes tauchten Batuti und Carberry auf. Mit Pfeil und Bogen hatte der Gambiamann zwei junge Rehe geschossen. Die Seewölfe schleppten die Beute in die Nähe des Feuers.
Carberry rief: „Ich habe ein bißchen gelärmt, und schon sind sie ihm vor den Bogen gerannt. Stimmt’s, Batuti?“
„Richtig so. Es gibt Rehbraten. Hilft mir jemand beim Aufbrechen?“
Sie hatten die Beutetiere über den Schultern getragen und warfen sie in den Sand. Vom Feuer einwandfrei beleuchtet, brachen Mac Pellew und Batuti die Rehe auf und schlugen sie aus der Decke.
Von Bord brachte der Kutscher zwei offene Fässer und verwickelte Mac Pellew in eine lange Unterhaltung darüber, ob das Wildfleisch in saure Milch oder in eine Tunke aus saurem, gewürztem Wein eingelegt werden solle.
„Wenn du die Kuh an Bord dazu bringst, saure Milch zu geben, dann nimm Sauermilch“, riet Dan O’Flynn. „Milch gibt es in Skagen.“
„Ihr braucht euch nicht zu beeilen. Wir sitzen noch ein paar Stunden auf Schlick.“
„Schon gut.“
Mit großer Sorgfalt zerschnitten sie die großen Fleischteile, lösten die meisten Knochen aus und rührten aus saurem Wein, versetzt mit Mac Pellews Londoner Gewürzen, eine Soße zusammen. Der Kutscher band nasse Tücher über die offenen Fässer.
Am Ufer, auf einen Stück trockenem Sand neben dem ineinanderverfilzten Wall aus Strandgut, wandte sich der Seewolf an Dan O’Flynn. Vor ihnen lag das Schiff, gespenstisch und dunkelrot von den Flammen angeleuchtet.
„Dein alter Geisterseher – sucht er noch immer nach seinen Gnomen?“
Sie musterten die Seewölfe, die sie an Bord erkannten. Old Donegal war nicht darunter. Auch hier, zwischen Feuer und Strand, war er nicht. Hasard rief seine Frage zur Schebecke hinüber.
Nach einer Weile folgte die Antwort: „Nein. Unser ‚Admiral‘ ist nicht an Bord.“
„Dann werden wir ihn und sein kleines Volk suchen müssen, fürchte ich. Vielleicht hat er eine Elfe gefangen“, sagte Dan.
Hasard nickte. Er nahm einem Seewolf eine unangezündete Fackel aus der Hand, zündete sie vorsichtig und mit abgewandtem Gesicht an und zog sich zurück.
„Gehen wir. Dort drüben, bei der Hasenspur, hat er mit dem Suchen angefangen.“
„Wir werden ihn bald haben. Er kann nicht weit sein mit seinem Holzbein“, meinte Dan sachlich.
Bei Carberry blieb Hasard stehen und erklärte, was sie vorhatten. Der Profos fragte, ob er mitgehen solle.
„Nein. Nicht nötig. Habt ihr irgendwelche Zeichen von Menschen gesehen?“
„Einen Pfad, der ins Moor führt“, sagte Batuti und reinigte seine Finger im Sand. „Wir haben nur alte Feuerstellen gesehen. Keine Leute.“
„Gut. Wir suchen ihn.“
Der Seewolf und Dan umrundeten das Feuer, sahen die erste Hasenspur und daneben die Eindrücke, die Old Donegal hinterlassen hatte. Mit großen Schritten folgten die beiden der Spur, die sich im Einschnitt zwischen Dünen hinwand und zwischen Gras, dicht an den Boden geducktem Heidekraut und kümmerlichen Nadelbäumchen halb verschwand.
Auf den Nadeln und Blättern zeichnete sich ein feuchter Streifen ab, ein dunklerer Eindruck, dem die Seewölfe schnell folgten. Der weiße Kirchturm tauchte wieder in größerer Entfernung auf, und Hasard fragte sich, wie Old Donegal in diesem struppigen Untergrund überhaupt eine Spur gefunden hatte.
„Erfrorene oder nasse Füße wird er sich holen“, schimpfte Hasard. „Aber keine ewige Jugend.“
„Vielleicht hebt er gerade einen Schatz“, meinte Dan grinsend.
Sie hasteten weiter. Über ihren Köpfen knisterte und leuchtete die Fackel. Hinter der riesigen Düne verschwand das Feuer, als sie nach links abbogen und auf ein ebenes Stück gelangten, das einen Halbkreis bildete. Dahinter erstreckte sich der Waldrand. Im Zickzack führte Old Donegals Spur, über die Sandfläche, die Spuren einer Überschwemmung zeigte: Treibgut, herausgerissene Pflanzen und Fischgräten, die unter den Schritten mit hellem Krachen zersplitterten.
„Die Elfen sind lichtscheu.“ Dan lachte. „Sie tanzen nur weit vom Feuer weg.“
„Sie wissen schon, warum“, entgegnete Hasard. „Sonst würden sich die Arwenacks auf sie stürzen.“
Nach weiteren hundert Schritten, fast am Waldrand, blieben sie stehen, holten tief Luft und riefen nach Old Donegal. In den Büschen raschelte es, aber es flüchteten nur kleine Tiere. Vögel flatterten und kreischten wütend.
„Old Donegal! Ebbe! Wir legen ab!“ schrie Hasard aus voller Kehle.
Er schwenkte die Fackel, um die Flammen anzufachen, dann drangen sie in die Schonung aus windzerzausten Pflanzen ein. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto mehr Birken mit hellen Stämmen gab es zwischen den Nadelgewächsen. Die Spur des Alten war unübersehbar, er mußte mit großer Hast über den weichen Waldboden gelaufen sein.
„Wenn er hinter einem Geheimnis her ist“, keuchte Dan, als sie sich auf einem Sandpfad zwischen unbekannten Sumpfpflanzen befanden, „kennt er nichts anderes. Wahrscheinlich rennt er bis nach Skagen.“
„So weit wohl nicht. Aber allmählich gerate ich in Sorge. Vor uns liegt Sumpfgebiet“, erwiderte der Seewolf und sagte sich, daß sie solange sicher waren, wie sie sich auf Sand befanden.
Jetzt fing das Moor deutlich zu riechen an. Als die Seewölfe hinter einer Gruppe aus Baumstämmen und abgestorbenen Gewächsen auftauchten und freien Blick auf ein paar Moortümpel hatten, blieb Hasard ruckartig stehen und brummte: „Halt!“
Dan prallte gegen Hasards Rücken. In den Moortümpeln spiegelten sich schwach die Sterne. Und es spiegelten sich auch seltsame andere Dinge im nachtschwarzen Wasser.
„Da sind deine Elfen!“ flüsterte Dan.
Von dem Bild, das sich ihnen zeigte, konnten sie nur verblüfft sein. Old Donegal, der auf einem Baumstrunk saß, war hingerissen und völlig abwesend.
Aus dem Morast, zwischen zwei länglichen Tümpeln, züngelten unterarmlange, fahle Flammen. Sie sahen aus wie die Schatten von wirklichem Feuer. Zwischen den blätterlosen Pflanzen züngelten sie in die Höhe, erloschen an einer Stelle und entzündeten sich an der anderen. Mit einem Übermaß an Vorstellungskraft konnte man in den tanzenden Flämmchen sogar leichtgeschürzte Elfen erkennen, aber keine Gnome.
„Na, wenigstens steckt er nicht bis zum Hals im Moor“, brummte Hasard.
Er hätte ebensogut schreien können, denn der Alte hatte seine Umgebung völlig vergessen. Er stützte seinen Kopf in die Hände und starrte unentwegt das Dutzend „Elfen“ an, die eine halbe Kabellänge vor ihm über dem morastigen Land ihren Schönheitstanz völlig lautlos ausführten.
Hasard stieß Dan in die Rippen und murmelte: „Holen wir den Alten, wie?“
„Ja. Sonst fällt er noch in den Modder“, antwortete Dan.
Sie gingen auf den Alten zu, der sie nicht hörte und nicht einmal die Fackel sah. Der Seewolf bückte sich, als sie dreißig Schritte von Old Donegal entfernt waren und fuhr mit der Flamme der Fackel über den Boden. Er hatte es nicht gewußt, aber eine solche Wirkung geahnt.
Aus vielen unsichtbaren Öffnungen schossen neue, grünlichgelbe Flammen in die Höhe. Eine entzündete sich an der anderen, und es gab eine Reihe puffender Geräusche.
Der Alte sprang auf und rief: „He! Warum hört ihr zu tanzen auf…?“ Er drehte sich hin und her und sah zuerst die Fackel, dann die beiden Seewölfe.
„Die Vorstellung ist zu Ende!“ rief Hasard. „Zurück an Deck, Geisterbeschwörer!“
„Aber…“
„Deine Elfen sind müde, Dad. Es ist ihnen zu spät geworden“, sagte Dan lachend. „Außerdem tanzen sie für jeden, nicht nur für dich.“
Hasard schlug dem „Admiral“ kräftig zwischen die Schulterblätter und erklärte: „In jedem Moor gibt es solche Flammen. Du kannst dir bei den brennenden Elfen etwas wünschen, aber es geht nicht in Erfüllung, Old Donegal. Tut mir leid.“
„Das war so schön“, mummelte der Alte. „So schön getanzt. Lauter kleine, grüne Elflein.“
Dan mußte lachen und packte seinen Dad am Arm. Er zog ihn mit sich über den Pfad und warf noch einen Blick auf die zuckenden, tanzenden und irrlichternden Flammen.
„Sieht man auch nicht alle Nächte“, meinte er knapp. „Aber mit Elfen und Gnomen hat das nichts zu tun. Ein gespenstisches Bild, Sir.“
Für einige Atemzüge war auch Hasard in das lautlose Hüpfen und Zucken der Flämmchen vertieft. Er riß sich los und folgte Dan und Old Donegal. Sie verließen den Rand des Moores und marschierten auf den Wald zu.
„Die Elfen sind genauso wirklich wie dein Kings Island, Dad“, sagte Dan beschwichtigend. „Nur du siehst die Sachen. Sonst keiner.“
„Aber ihr habt sie doch gesehen“, beharrte Old Donegal mürrisch. Er sah ein, daß sein Elfentraum ausgeträumt war.
„Wir haben irgend etwas brennen sehen“, ließ sich Hasard von hinten vernehmen. „Aber keine Elfen.“
„So was Schönes habe ich noch nie erlebt“, stellte Old Donegal fest.
„Das kannst du auch unter dem Kessel vom Kutscher sehen, wenn du fest hineinpustest, Dad“, tröstete ihn Dan.
„Quatsch. Unsinn!“
Bis eben hatte sich Old Donegal noch gesträubt, aber jetzt ging er bereitwillig mit. Aber immer wieder drehte er sich um und versuchte, einen Blick auf seine tanzenden Nachtelfen zu erhaschen.
„In Skagen kannst du wirkliche Leute tanzen sehen“, sagte der Seewolf und war froh, als er hinter der Flanke einer Düne wieder die obersten Enden der Flammen sehen konnte. Das Feuer des Wikingers loderte unverändert hoch und mächtig. Spätestens jetzt wunderte es Philip Hasard Killigrew ernsthaft, daß noch nicht Reiter aus Skagen eingetroffen waren, um nach der Ursache des Brandes zu forschen.
„Das war’s, Old Donegal“, sagte er und zeigte zum Heck der Schebecke. Zwei Männer standen noch auf dem trockenen Strand, über den die Krebse raschelten.
„Welche Dämonen haben die Steine aufgestellt?“ fragte der „Admiral“ und hielt sich an einer der unregelmäßigen Säulen fest.
„Die Vorväter von Thorfin Njal“, erklärte Hasard, ohne das Gesicht zu verziehen.
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher“, entgegnete Dan. „Alles klar, Ben?“
Ben Brighton und Carberry warteten auf die Nachzügler. An Deck der Schebecke brannten noch immer drei Laternen. Im Licht der Hecklaterne und im roten Widerschein der Flammen sahen sie die ersten, zögernden Wellen heranrauschen, die mit der steigenden Flut kamen.
„Alles an Bord?“ fragte Hasard und zog den Alten mit sich.
Sie tappten bis zur Jakobsleiter, und Old Donegal ließ sich übers Schanzkleid helfen. Die Crew hatte sich bis auf die Wache in ihre Kojen verholt. Nur Plymmie sprang begeistert auf Hasard los und weckte mit ihrem Gebell die Männer.
„Ruhe!“ sagte Hasard und säuberte seine Langschäfter. „Alles bereit zum Ablegen?“
„Wir warten nur auf mehr Wasser unterm Kiel“, lautete die Antwort des Rudergängers.
Als der letzte an Bord war, wurde die Jakobsleiter eingenommen und verstaut. Hasard setzte sich mit einem großen Becher voll Wein auf das Grätingsdeck, wartete und blickte zu den mächtigen Flammen, bis ihm irgendwann gegen Morgen die Augen zufielen.
Er wachte erst wieder auf, als die Schebecke entlang der Küste nach Nordost segelte. Den grauschwarzen Rauch des Feuers sah er nur noch aus großer Entfernung unbedeutend und im aufgefrischten Wind zerfasert.
5.
Noch bevor die Uferlinie wieder nach Osten auslief und sich krümmte, erkannten die Seewölfe den Leuchtturm.
Er war aus weißen Steinen gemauert und bot einen unübersehbar guten Ruhepunkt für das Auge.
„Das also ist Skagen“, sagte Ben Brighton, der die ziemlich kurze Fahrt hierher bei gutem Wind genossen hatte. „Und diese niederländischen Kauffahrer werden wohl nicht auf uns zielen.“
Sieben Schiffe waren es, in Kiellinie hintereinander, die um das Kap Skagen gegen den südwestlichen Wind zu kämpfen begannen. Skagen war eine Siedlung der Fischer, ausgespannte Netze, unzählige kleine und große Boote am Strand und an den wuchtig gezimmerten Stegen deuteten darauf hin. Die Schebecke lag auf Ostkurs und fiel jetzt in einem weiten Kreis nach Süden ab.
„Wenn es brennt und bewaffnete Miliz durch die Straßen reitet, dann wartet der Wikinger auf uns“, gab Pete Ballie in bester Laune zurück. „Denkt daran, daß Dänemark und Norwegen gemeinsam eine Union bilden. Also schimpft nicht über die Norweger.“
„Ich werde mich hüten“, antwortete der Erste. „Hoffentlich nehmen sie uns gut auf.“
Pete Ballie zeigte zu den Niederländern und erklärte: „Sie sind auf Gäste eingerichtet. Wie gesagt: eine Stadt, kein Fischerkaff.“
Obwohl riesige Wolken über den Himmel zogen und der Wind stark aufgefrischt hatte, sah es weder nach Schneesturm noch nach anderen bösen Überraschungen aus. Die Crew hatte ein reichliches Frühstück hinter sich und bereitete sich Gedanken über den Ort, der sie erwartete.
Ben setzte das Spektiv ab und sagte abschätzend: „Also, wenn die Städter reich geworden sein sollten, dann nicht wegen ihrer Obstgärten oder Weizenfelder.“
„Nur vom Fisch?“ fragte Pete Ballie.
„Wird sich herausstellen. Vielleicht sind die Hafenzölle unanständig hoch“, sagte der Erste und machte sich, angesichts dessen, was er gesehen hatte und sah, seine Gedanken.
Während ruhig die Kommandos für die Wache und die neuen Kursangaben erfolgten, suchten Ben Brighton und ein wenig später auch Hasard die Küste nach Einzelheiten ab, die ihnen verrieten, wie es um Skagen stand.
Unzählige Dünen erstreckten sich hinter der niedrigen Brandungslinie. Dazwischen waren wenige Felder zu erkennen, auf denen Vieh weidete. Die Taubenschwärme waren ebenso groß wie die Möwenschwärme am Strand. Ab und zu unterbrachen Waldstücke das eintönige Einerlei aus Sand und Strandhafer.
Am Ufer war eine kleine Anlage gebaut, in der Salz gewonnen wurde, ein Unternehmen, das wegen der fehlenden Hitze schwerlich viel einbringen konnte. Aber viele Kirchen oder Häuser hatten steinerne Mauern und Dächer, die statt mit Schilf oder Stroh mit Ziegeln gedeckt waren. Der Hafen – wenigstens der Teil, den man vom Bug aus klar erkennen konnte – erweckte einen guten Eindruck.
Der Turm, den sie in der Nacht von fern gesehen hatten, schien etwa zwei Seemeilen von der Stadtgrenze aus zu stehen. Es war unzweifelhaft derselbe Turm mit dem stufenförmigen Giebel.
„Klar zum Anlegen!“ rief Hasard schließlich.
„Aye, aye, Sir!“
Nacheinander wurden die Segel losgeschlagen, die Rahruten in die Senkrechte gebracht und die Leinwand mit vielen halben und ganzen Schlägen belegt. Nur mit der kleinen Fock und dem Besansegel manövrierten die Arwenacks ohne Schwierigkeiten auf einen Steg zu, an dessen Seite ein Bauwerk stand, das genauso aussah, wie es einem bezahlten Hafenkommandanten zustand.
„Ruder hart Steuerbord.“
„Ruder liegt hart Steuerbord!“
An einem Platz, wo das Schiff nichts und niemanden behinderte und sehr geschützt lag, wurden die Leinen ausgebracht. Eine Gruppe bärtiger Fischer mit zerfurchten Gesichtern, dick angekleidet, fing die Wurfleinen auf und half, die Schebecke längsseits zum Kai aus Holz und Bruchstein zu bringen.
„Segel bergen!“
Hasard, Nils Larsen, Stenmark und Dan O’Flynn sprangen übers Schanzkleid an Land. Der Däne sprach die Fischer an, während die Crew die Leinen ausbrachte, Fender setzte und die Schebecke für einen Aufenthalt von einem Tag oder länger aufklarte.
Aufmerksam hörten die anderen zu, was Nils übersetzte, und was sie selbst nicht ganz verstanden, denn jeder kannte einige Brocken aus vielen Sprachen.
„Wir sind auf dem Weg nach Norden, nach Bergen zu.“
„Schön für euch“, murmelte ein Fischer. „Im Sommer ist die Nordsee milde und zerstört nur wenige Schiffe.“
„Müssen wir Gebühren zahlen, wenn wir nur einen Tag oder ein bißchen länger bleiben wollen?“
„Natürlich. Geht zu Bo Soderholm, hier entlang.“
Der Fischer deutete zu der schreiend bunt bemalten Tür des nächstgelegenen Hauses.
„Wir suchen einen Verrückten. War er hier?“
Die Antwort ließ erkennen, daß die Männer offensichtlich viele Verrückte gesehen und erlebt hatten. Sie waren nicht im geringsten überrascht, wußten aber noch nicht, wen Dan O’Flynn meinte.
„Vor wenigen Tagen – war hier ein schwarzes Schiff mit einem Kapitän darauf, der sich für einen echten und wirklichen Wikinger hielt?“
„Nein. Aber es gibt Gerüchte.“
Es wurde schnell deutlich, daß hier viele Schiffe anlegten und einige Zeit blieben. Die Fischer verstanden nicht wenige fremde Sprachen und waren weder mürrisch noch wortkarg. Sie sahen nicht verwahrlost oder ärmlich aus, ihre Kleidung roch durchdringend nach Fisch, war aber sauber und bestand aus gutem Stoff. Nähte, Taschen und Knöpfe ließen erkennen, daß sie nicht billig gewesen waren.
„Gerüchte? Welcher Art?“
„Wir haben von Niederländern gehört, daß man ihre Schiffe bedroht habe. Jemand ist erschienen und hat gesagt, daß ein Wahnsinniger an der Westküste Bäume gefällt und ein Feuer angefacht habe, drüben, bei den verschwundenen Runensteinen.“
„Verschwundenen? Keineswegs. Wir haben sie gesehen“, erklärte Nils. „Und das Feuer natürlich auch.“
Die Fischer wirkten völlig uninteressiert. Sie winkten ab, als die Rede auf die Hinterlassenschaft der echten Wikinger kam.
Einer sagte gelangweilt: „Einmal soll es diese Steine geben, dann wieder nicht – niemand weiß es genau. Und: was sollen wir mit solchen Steinen anfangen? Höchstens zu Trümmern zerhacken und Häuser damit bauen. Aber dazu sind sie zu weit weg.“
„Diese große Düne – dort war es.“
„Ah! Rabjerg Mile nennen wir sie. Sie wandert und wird eines Tages das Moor ausfüllen. Aber das ist etwas für unsere Enkel.“
Hasard zog Nils mit sich und ging über die knarrenden Bohlen auf die Tür des Hafenkommandanten zu.
„Bringen wir es hinter uns“, sagte er. „Wir sind arme, unwissende Seeleute und können nicht viel zahlen. Aber wir brauchen Proviant. Erkläre das diesem Mister Soderholm.“
„Geht klar, Sir.“
Hasard war einerseits froh darüber, daß sie nicht mit dem Wikinger ausgerechnet hier zusammenstießen, andererseits wollte er ihn so schnell wie möglich treffen.
Die Tür schwang knarrend nach außen auf, und sie gelangten in eine niedrige Stube, angefüllt mit Möbeln, erdrückend heiß und völlig menschenleer.
„Hallo! Hafenkommandant! Wir wollen uns anmelden!“ rief Nils und schaute sich ebenso neugierig um wie der Seewolf.
Sie befanden sich mitten in einer Ansammlung seltsamer Dinge, die im Lauf langer Zeit aufgefischt, angetrieben, geschenkt oder in Zahlung gegeben worden waren.
Auf schmalen Wandbrettern standen und lagen faustgroße und kleinere Figuren. Sie sahen aus, als wären sie aus Elfenbein geschnitzt. Hasard wußte es besser. Sie bestanden aus Walroßzähnen oder Knochen von Walen. Dargestellt waren Fische und Fischer, Meeresungeheuer, einfache Schiffchen und Tiere, die in diesen Breiten lebten. Die Umrisse waren gerundet und glattpoliert wie das Material, aus dem die Figuren bestanden. Sie glänzten in dem matten Licht, das durch einige winzige Fenster hereinfiel.
„Sehr hübsch“, sagte Nils und strich mit den Fingern über einige Figuren. „Und wahrscheinlich kein Kinderspielzeug.“
Am besten gefiel ihm ein pelzvermummter Mann, der eine Harpune schwang. Hasard betrachtete die großen, ausgestopften Fische, die an hölzernen Wandhaken hingen und ihn aus hohlen Augen ausdruckslos anstierten. Zwischen den alten, schartigen Stichwaffen hingen Schiffsmodelle von der Decke, über deren Balken – schwarz gebeiztes und verwittertes Treibholz, sorgfältig geglättet und verfugt – sich das Dach aus dunklem Reet erstreckte. Die Steine des Kamins schienen zu glühen.
Nils duckte sich unter einer ausgestopften Möwe mit hackbereitem gelbem Schnabel und rief ein zweites Mal nach dem Hafenmeister.
„So eilig kann es gar nicht sein“, erwiderte eine tiefe Stimme aus dem Inneren des Gebäudes. Ein mittelgroßer Mann, breitschultrig und mit einem wuchtigen Bauch, der mit dem weit vorspringenden Brustkasten wetteiferte, schob sich durch eine Tür.
„Von Eile keine Spur“, erwiderte Nils Larsen. „Wir sind arme Schiffer und wollen bis zur nächsten Flut in eurem Hafen bleiben.“
„Nichts dagegen. Ihr seid von diesem fremdartigen Schiff mit den dreieckigen Segeln?“
„Man nennt es eine Schebecke“, sagte Nils. „Sprichst du auch englisch?“
„Ein paar Brocken. Wollt ihr handeln? Bringt ihr Waren mit?“ fragte Bo Soderholm.
Nils und Hasard schüttelten die Köpfe.
„Wir wollen Wasser an Bord nehmen und, wenn wir etwas finden, gutes Essen. Wir sind unterwegs nach Norwegen“, erwiderte Nils.
„Keine Handelswaren? Dann braucht ihr nur ein paar Kronen zu zahlen.“
Er nannte eine vertretbar geringe Summe. Er versuchte sie auch nicht zu betrügen und rechnete die englischen Silbermünzen korrekt um, soweit Hasard das kontrollieren konnte.
„Wo ißt man gut?“ wollte Nils wissen.
„Im ‚Mädisterpolse‘“, erklärte Bo.
Nils runzelte die Stirn und fragte erstaunt: „Das heißt ‚lange Bratwurst‘, wenn ich nicht irre.“
Bo lachte dröhnend und freundlich. Er schlug auf seinen mächtigen Bauch und erklärte: „Genauso heißt der Krug, wo es diese trefflichen Würste gibt. Morgen früh ist Fischmarkt, gleich hinter dem Hafen. Da könnt ihr alles kaufen, was ihr braucht. Und das beste Bier gibt’s im Kro.“
„Das Haus mit den zwei Kaminen?“ fragte Nils.