Seewölfe Paket 31

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Der Wind hatte gedreht und fauchte genau aus Nord.
Die Schebecke lag schwer nach Steuerbord über, aber noch konnte sie auf Kurs gehalten werden, allerdings waren die Rudergänger um zwei Strich abgefallen. Der Kurs würde sich, wenn der Wind anhielt, nicht lange halten lassen.
„Es wird ein schwerer Kampf“, sagte der Seewolf leise zu sich selbst. Der Sturm riß ihm die Worte von den blaugefrorenen Lippen.
Die Oberfläche des Meeres war in Aufruhr.
Die ersten schweren Wellen hatten ihre Richtung geändert und liefen aus Nord heran. Der Gischt der Schaumkronen wurde von einzelnen harten Böen waagerecht von den Wogenkämmen weggerissen und verwandelte sich in kalten Regen, der wie kleine Steine gegen die Planken knatterte. Seit der Wind derart aufgefrischt hatte, bereitete sich Hasard ernsthafte Sorgen, die das Überleben der Mannschaft und den Zustand des Schiffes betrafen.
„Ich glaube, ich muß eine Entscheidung treffen“, murmelte er.
Wenn sie versuchten, mit dem verbliebenen Besansegel sowie der Fock und der Stagfock weiterhin Nordkurs zu segeln, würden sie vielleicht tagelang mit dem Sturm und den Wellen der Nordsee zu kämpfen haben. Was brachte dieser gefährliche Kampf? Einen Gewinn von wenigen Seemeilen, der durch häufiges Kreuzen erzielt werden mußte. Crew und Schiff würde dieser Versuch bis zum Äußersten erschöpfen und entkräften.
Hinaus aufs offene Meer?
Auf keinen Fall. Dort baute sich der Sturm auf, dort würden die Wogen noch gewaltiger werden, gefährlicher und – tödlich. An Steuerbord lag das Land, auch da drohten Gefahren. Es gab flache Inseln, unbekannte Untiefen, Sandbänke und Wattflächen, die jetzt von der Sturmflut bedeckt waren, einige Deiche und winzige Ortschaften, von denen er bestenfalls den Namen kannte.
Stenmark kannte diesen Teil der Küste auch nicht besonders gut, seine Aussagen blieben reichlich vage. Von Sven Nyberg wußten sie, daß die geschützten Häfen in dieser Gegend sehr rar waren. Der Däne hatte empfohlen, Esbjerg anzulaufen, wenn es gelang. Dort würden sie zunächst in den Schutz einer Bucht gelangen, schließlich in einen gut ausgerüsteten dänischen Hafen.
Würde der Seewolf den Kurs nach Osten legen, gelangten sie auf den Kämmen der Wellenungeheuer blitzschnell unter Land. Aber wenn sie auf keine Einfahrt trafen, geriet die Schebecke entweder auf Legerwall oder würde nicht mehr gegenan segeln können, und diese Gefahr stand als wahres Schreckensbild vor Hasards innerem Auge.
„Es bleibt nur eins!“ stieß er hervor. „Zurück!“
Schwemmland erstreckte sich von Esbjerg bis hinunter zur deutschen Küste, sandiges Watt, eine tödliche Falle für alle Schiffe bei einem solchen Sturmwetter. Hasard winkte, auf den Planken taumelnd, Nils Larsen und Dan O’Flynn zu sich auf Achterdeck. Die Männer waren trief naß, und unentwegt schleuderte der Bug Wassermassen und Regenhagel über die Länge des Decks, bis hinauf zu den Rudergängern.
Sie mußten brüllen, um sich zu verständigen.
„Weißt du inzwischen“, fragte Hasard, „wo wir sind?“
„Blavands Huk liegt voraus. Elf Seemeilen!“ schrie Dan zurück.
„Das schaffen wir niemals!“ brüllte der Däne.
Für einen Augenblick riß der Nebel auf. Weiße Wolken, die in rasender Geschwindigkeit die Sonne bedeckten und wieder freigaben, jagten über den Himmel. Wieder hob sich das Heck der Schebecke weit über eine Welle, die unter dem Schiff hindurchlief, es schüttelte und umherwarf und dann den Bug steil hob. Bedrohlich knirschten Holz und Tauwerkverbindungen. Unter Deck gab es ein gräßliches Klirren.
„Bist du sicher?“
„Völlig“, antwortete Dan dem Seewolf, „und auch leewärts von Römö ist nur sandiges Watt.“
„Was schlagt ihr vor?“ brüllte Hasard und wischte sich Salzwasser aus dem Gesicht.
„Zurück! Nach Süd!“ schrie Dan O’Flynn und deutete in die Richtung, in der die Sonne wieder hinter den Nebelwolken zu verschwinden drohte.
„Welcher Hafen?“ wollte der Seewolf wissen.
Vom Bug dröhnten knirschende und splitternde Geräusche zu ihnen. Die straffen Taue schwangen wie die Saiten von schlechtgespielten Zupfinstrumenten, und sie klangen auch nicht viel anders.
„Zum Beispiel Dagebüll. Dann haben wir, vielleicht, den Windschatten von Sylt. Oder wir segeln nach Husum. Ist aber eine ganze Ecke weiter südlich.“
Der Seewolf rief halb verzweifelt: „Und bis Fanö schaffen wir es nicht mehr?“
„Nur dann, wenn dieser rasende Sturm aufhört! Und das tut er nicht so bald!“ rief Nils Larsen ebenso laut zurück.
Die Insel Fanö lag südwestlich vor Esbjerg. Zwischen der Küste und der niedrigen Insel wäre das Schiff vermutlich eine Spur sicherer, denn die Wellen würden in dieser Zone weniger steil sein und sich nicht überschlagen. Aber der Sturm pfiff, heulte und kreischte auch in diesem Gewässer ungehindert. Immerhin hatten sowohl Esbjerg als auch Fanö einen Hafen. Dies war in Dan O’Flynns neuen Karten deutlich vermerkt.
„Also Südkurs?“ brüllte der Seewolf.
„Unbedingt“, antwortete der Däne. „Carberry meint auch, daß der Sturm ein paar Tage dauert.“
„Das glaube ich auch“, sagte Hasard. „Und es wird immer härter.“
Die erste wirklich schwere Welle rauschte von achtern heran, während die Schebecke einen endlos langen Augenblick in der Luft hing und, obwohl der Bug hoch in die Wolken deutete, schwer nach Steuerbord krängte. Die Riesenwoge, deren Flanke zuerst fast senkrecht stand, sich dann schäumend und prasselnd auf das Schiff zuneigte und schließlich mit donnerartigem Getöse überkippte und zusammenbrach, traf den achterlichsten Teil des Schanzkleides und verwandelte das Heck in einen Wirbel aus Wasser, kleinen Holztrümmern und Gischt.
Ächzend richtete sich die Schebecke wieder auf. Die Segel knallten und knatterten, das Wasser wurde aus der Leinwand herausgepeitscht.
Hasard holte tief Luft und hielt die linke Hand an den Mund. „Achtung! Alle Mann herhören! Wir gehen auf Südkurs! Haltet euch bereit auf mein Kommando!“
Die Seewölfe hoben die Arme und zeigten klar. Sie hatten verstanden. Die beiden Rudergänger schüttelten sich und fluchten. Die Welle hatte tatsächlich einen Teil des Schanzkleides in Splitter zerschlagen. Das Ruder ließ sich ebenso bewegen wie die Pinne, aber schon die nächste brechende Welle konnte das Ruder teilweise oder ganz zerstören. Die Folgen würden vernichtend sein.
„Nur einen Moment Ruhe“, keuchte der Seewolf und zog sich am Sicherheitstampen zu den angeseilten Rudergängern. Er schrie: „Wir gehen weit vor den Inseln auf Südkurs, klar? Wenn es etwas ruhiger wird …“
„Sieht nicht danach aus, Sir“, sagte Jan Ranse.
„Und du, Dan befragst noch einmal deine Karten. Vielleicht finden wir auf der Höhe von Föhr einen Hafen. Oder eine geschützte Bucht? Versuche es herauszufinden.“
„Selbstverständlich!“ schrie Dan O’Flynn und duckte sich unter einer überkommenden Welle, bevor er unter Deck huschte.
Der Seewolf wartete einige Atemzüge lang voller Spannung. Als er sah, daß sich die nächsten Wellenberge mit weniger Wut heranbewegten, schrie er seine Kommandos.
Die Leinen flogen los, die Rahruten hoben sich in die Senkrechte. Die Schoten wurden auf den anderen Bug genommen und mit klammen Fingern fieberhaft schnell belegt. Die Schebecke tanzte hin und her, die Masttopps pendelten, die Männer wurden umhergeschleudert und versuchten gleichzeitig, sich festzuhalten und die Manöver auszuführen. Die nächste Welle warf das Schiff halb herum, der Wind fing sich in der Fock und riß die Leinwand fast aus den Fäusten der Mannschaft.
„Vorsicht!“ schrie der Takelmeister und stemmte sich gegen das Tauende.
Zwischen überkippenden Brechern, hilflos stampfend und bockend wie ein verrückter Gaul, schwang die Schebecke langsam herum. Der Bugspriet, von dem der vorderste Teil abgesplittert war und nur noch an zwei Enden hing, zeigte eben noch nach Norden. Jetzt beschrieb er einen zitternden und schwankenden Halbkreis und gelangte, als die Schoten neu belegt waren und der Wind wieder in die Segel stieß, nach Süden deutend wieder zur Ruhe. Die Schebecke vollführte einen Satz und schüttelte sich, als wolle sie das Wasser von sich abstreifen.
„Fertig!“
„Zurück, unter Deck!“
„Belegt den Kram!“ dröhnte der Profos.
Jetzt kamen Wind und Wellen von achtern. Das Heulen war noch lauter geworden. Scheinbar aus dem schwarzen Nichts der unergründlichen Tiefe bildeten sich Kreuzseen. Sie hämmerten mit furchtbarer Kraft gegen die Planken des Schiffs. An Backbord und Steuerbord krachten schwere Brecher über das Schanzkleid und liefen gurgelnd ins Innere.
Die Schebecke arbeitete sich an der Flanke einer dahinstürmenden Welle aufwärts und hob sich. Das Heck schnitt für einige Augenblicke unter. Dann wurde es in die Höhe katapultiert, und die nachfolgende Woge brach genau über dem Ende des Grätingsdecks. Mit schmetterndem Splittern brach ein vier Schritte langes Stück des Schanzkleides heraus. Die Trümmer wurden an den Rudergängern vorbei bis zum Niedergang geschleudert.
Auf dem Kamm der Welle zögerte die Schebecke, wiegte sich hin und her und fing zu gleiten an. Der langgestreckte Schiffskörper blieb waagerecht im Wasser, das von beiden Seiten gierig über Deck leckte. Lange, zitternde Schwingungen durchliefen die Schebecke vom Bugspriet bis zum Ruderblatt.
Unter Deck gab es eine Reihe dumpfer Schläge, dann ertönten in einer kurzen Pause im Gebrüll des Sturms die Flüche der Crew. Das heisere Fauchen der Lenzpumpe wurde deutlicher. Sie spie durch die Lederschläuche blasiges Wasser aus der Bilge, das durch ein Speigatt abfloß.
Die rasend schnelle Fahrt der Schebecke mit achterlichem Wind war ebenso gefährlich wie der Versuch, hart am Wind gegenan zu knüppeln. Für einen überraschend langen Augenblick stellte sich trügerische Ruhe ein. Der lange Schiffsrumpf raste mit derselben scheinbaren Geschwindigkeit wie die Welle dahin, in der sich die Schebecke befand. Die Segel waren so prall, als wären sie in einem Stück gefroren.
Der heulende Sturm warf fast ohne Pause eiskaltes Wasser und Gischt in die Rücken der Männer. Die Wellen, schwarz und von weißen Schaumkämmen gekrönt, hoben sich hinter dem zertrümmerten Heck drohend in die Höhe. An Backbord schien, undeutlich und nur ab und zu im grellen Sonnenlicht zu sehen, die Landschaft der Küste vorbeizujagen.
Jan Ranse löste den durchfrorenen Piet Straaten ab, dessen Hände gefühllos geworden waren.
Zuerst hob sich langsam der Bug.
Der Seewolf hielt den Atem an, als er durch den Schleier von Wassertropfen und Schaumflocken erkennen mußte, wie sich sein Schiff verhielt. Eine Welle zuckte aus der Masse der aufgewühlten Spitzen herauf. Der Rest des weit ausragenden Bugspriets verschwand im schwarzgrünen Wasser.
Als Hasard wieder etwas erkennen konnte, sah er, daß die vordere Hälfte der massiven Spiere fehlte. Auch die baumelnden, wild um sich schlagenden Tauenden waren verschwunden. Der Fockmast wurde nur noch vom zweiten, dünneren Stag gehalten, das etwa in der Mitte des Spriets angriff.
„Verdammte Nordsee!“ stöhnte er auf.
Der Bug hob sich mehr und mehr. Der Seewolf blickte über die Schulter und sah, wie das Heck einzutauchen begann. Wasser leckte als ununterbrochene Fläche über die Planken des Grätingsdecks. Die Rudergänger hingen an der Pinne und versuchten, ihre Stiefel gegen den Druck und den Sog des Wassers einzustemmen.
Noch während sich das Heck wieder hob, brach die Riesenwelle. Hasard umschlang mit beiden Armen den Mast und wickelte die Haltetaue blitzschnell zweimal um die Handgelenke. Er duckte sich und hielt wieder den Atem an.
Plötzlich wurde es dunkel um ihn.
Die Wassermassen brachen mit Tonnengewichten auf seinen Kopf, den Hals und die Schultern nieder. Es dröhnte und zischte, und wie ein Keulenhieb traf ihn ein losgerissenes Ende zwischen Schultern und Oberschenkel. Im selben Moment war er völlig durchnäßt. Als er Luft holte, schluckte er Wasser und hustete.
Das Schiff wurde tief ins Wasser gedrückt, legte sich zuerst nach Steuerbord, dann nach Backbord und richtete sich wieder auf. Die Segel hingen herunter wie Lumpen. Endlich sah der Seewolf wieder einigermaßen klar, obwohl das Salzwasser in seinen Augen brannte und ihm Wasser, vermischt mit seinem kalten Schweiß, übers Gesicht rann.
Sein Blick fiel auf die Masten und Segel – wunderbarerweise waren sie nicht über Bord gegangen.
In breiten Strömen lief das Wasser in alle Richtungen ab. Aus den Öffnungen der Pumpenschläuche schossen oberarmdicke Wasserstrahlen. Er drehte sich um: die beiden Männer an der Pinne halfen sich gegenseitig hoch. Die Riesenwelle hatte sie von den Füßen gerissen.
Im Norden hatte sich wieder eine riesige Nebelwand aufgebaut, aber die Sonne stach gerade jetzt aus der Mittagshöhe hinunter und zeigte deutlich eine riesige Fläche des aufgewühlten Meeres.
„Noch ein paar solcher Sturzseen“, keuchte Hasard, „und wir sind alle bei den Fischen.“
Die Schebecke, deren Deck fast menschenleer war, raste zwischen Wellenbergen nach Süden und schlingerte von einer Seite des Wellentales zur anderen. Auf allen vieren, ein Tau hinter sich herschleifend, kroch Dan O’Flynn über den Niedergang aufs Achterdeck.
„Ich hab’s“ schrie er.
Der Seewolf starrte ihn an, als bringe er die Rettung.
„Wo sind wir?“ brüllte er zurück. „Schon vor Dagebüll?“
„Nein. Voraus liegt Sylt. Wir müssen es an Steuerbord lassen.“
Der Seewolf rief sich die Zeichnung auf der Karte ins Gedächtnis, die Kurslinien und die Richtungen der Kompaßrose. Der Kurs war gut, in diesen Stunden jedenfalls der beste, den sie segeln konnten. Und so gut wie der einzige.
Südlich von Sylt war Wattenmeer, dann folgten Inselchen und Halligen. Das Land im Osten nannte sich Nordfriesland, und im südöstlichen Winkel lag die Stadt Husum.
„Und – hinter Sylt?“
„Ein Hafen vor Dagebüll!“ schrie Dan O’Flynn. „Südsüdost-Kurs, Sir. Ich kann den Namen nicht genau lesen. Karte ist naß geworden. Aber es ist ein geschützter Hafen.“
„Fischerhafen?“
„Ja. Es geht auch zwischen Sylt und dem Land vorbei, Sir.“
Mühsam zeigte der Seewolf zu einem Stück Land Backbord achteraus, das sich flach hinter den weißen Brandungsstreifen hob. Die Insel – wenn es eine war – sah aus wie der bewachsene Rücken eines riesigen Tiefseetieres.
„Ist das Römö? Ganz sicher?“
„Es ist so, Sir.“
„Gut. Zurück, unter Deck!“
Sie hatten Römö schon hinter sich gelassen. Die Rudergänger hatten verstanden, um was es ging und versuchten Kurs zu halten. Die Schebecke kämpfte sich weiter durch die aufgewühlten Wellen und torkelte unter dem Ansturm der Sturmstöße. Die Brecher schienen von allen Seiten nach dem Schiff zu greifen. Sie schlugen von achtern und von den Seiten über das Schanzkleid und warfen die Schebecke hin und her.
Jedesmal, wenn die Spitze eines solchen Wellenberges den Rumpf traf, ertönte ein hartes, dumpfes Dröhnen. Die Erschütterung setzte sich durch das gesamte Schiff fort, und längst gab es kein einziges trockenes Stück mehr. Wasser lief aus den Segeln und tropfte breit von den Leinen und Tauen.
Die Sonne war hinter dunklen Wolken verschwunden. Es würde schätzungsweise noch drei, höchstens vier Stunden hell bleiben. Mit unverminderter Wucht blies der Sturm, der im nördlichen Quadranten drehte. Die Wellen hatten sich immer höher aufgebaut, und jeder Teil des Watts war unter Wasser. Immer wieder riß im Osten und im Süden der Nebel auf und zeigte viel zu kurz Einzelheiten der Küste und der Inseln.
Ben Brighton, der inzwischen eine trockene Jacke aus gewachstem Segeltuch trug, kämpfte sich mühsam und lautlos fluchend zum Kapitän hinauf.
„Es hört nicht auf, Sir!“ brüllte er gegen das Kreischen des Sturms.
„Nicht, bevor wir nicht in irgendeinem Hafen sind.“
„Ich denke, wir schaffen es zu diesem namenlosen Kaff“, gab der Erste zurück. „Dans Karten sind genau.“
„Hoffentlich“, stöhnte der Seewolf.
Das Deck hob und senkte sich, das Schiff setzte krachend in die Wellen ein, und nahezu jede Bewegung rief gischtende Schlagwellen hervor, die sich über das Deck ergossen.
Ununterbrochen arbeiteten die Seewölfe an den Schwengeln der Pumpen. Klatschend und krachend, ächzend und knarrend, keinen Augenblick ruhig und nahezu hilflos wie ein Stück Korkeichenrinde, so bewegte sich die Schebecke durch die brechenden Wellen und darüber hinweg. Auf dem Kamm der nächsten Welle verharrte der schlanke Rumpf, und beide Männer sahen gleichzeitig weit außerhalb der unzähligen Gischtstreifen ein undeutliches Stück Insel.
Das Watt ist nur zur Hochwasserzeit zu befahren, dachte der Seewolf.
Im Frühjahr und im Herbst entstanden in diesem Gebiet oft völlig unvermittelt die Seenebel: die feuchte und warme Luft über dem Wasser kühlte über der Kälte der Nordsee ab, und wenn die Flut heranrauschte, wurden die sonnenerwärmten Wattgebiete vom eiskalten Wasser überflutet und abgekühlt. Die Luft, die darüber gewirbelt wurde, kühlte ebenfalls ab, und vom Grund aus waberte dicker, schwärzlicher Nebel in die Höhe. Immer wieder riß ihn der Sturm zur Seite, auch vor der Insel Sylt, die sich nach „sild“ nannte, dem dänischen Wort für Hering.
„Kann es sein, daß wir in eine Springtide geraten sind?“ schrie der Seewolf.
Der Erste schüttelte den Kopf. „Niemand glaubt das, Sir. Es ist ein Sturm, nicht mehr und nicht weniger.“
Es war ohne Zweifel einer der härtesten und schlimmsten Stürme, unter denen die Crew, mit welchem ihrer Schiffe auch immer, gelitten hatte. Nein! Es war noch lange nicht vorbei – sie waren mitten im Sturm, offensichtlich im Zentrum der schlimmsten Wellen, die hart wie Stein zu sein schienen.
Unaufhörlich wälzten sie sich heran, stauten sich unter dem Sturmdruck auf, hämmerten gegen das Schiff und würden die Schebecke, wenn der Kampf noch länger dauerte oder der Sturm in seiner Wut noch zunahm, ganz langsam, ein Stück nach dem anderen, zerschlagen.
„Was können wir tun?“ rief der Erste und packte mit beiden Händen nach den Haltetauen.
„Nichts. Weiterkämpfen.“
Sie nickten sich kurz zu und klammerten sich ans Tauwerk. Die dreieckigen Segel krümmten sich fast im Halbkreis von den knirschend durchgebogenen Rahruten bis zu den Blöcken, in denen sich die Schoten scheuerten. Wieder peitschte der Wind das Wasser vom Heck und über das Schanzkleid in breiten Schleiern gegen die Masten und in die Leinwand.
Donnernd schlug das gesamte Vorschiff in die nächste Welle, mit einem furchtbaren Splittern spaltete sich der Rest des Bugspriets bis zu der Befestigung aus straff gelegten Enden, die drei Schritte vor der Galion in eine kurze Kette eingeschäkelt war.
Noch hielt das Stag des Fockmastes, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis Mast und Segel über Bord gerissen wurden.
„Wie lange noch?“ brüllte einer der Rudergänger.
Diese Frage hatte sich der Seewolf schon hundertmal gestellt und zu beantworten versucht.
In seiner Vorstellung beschrieb das Schiff eine Kurslinie um die Inseln herum und nach Südsüdosten, bis zu dem noch namenlosen Hafen. Und in seiner Vorstellung gab es auch einen Teil der Nordsee, die mit erbarmungsloser Wucht gegen die Deiche schlug, das Wasser in den Bachmündungen hochtrieb und die Ufer überflutete, die Weiden mit Salzwasser oder Brackwasser verdarb und in die Häuser lief, das Vieh ertränkte und die Saat erstickte.
Immer wieder rechnete er. Die Schebecke raste, seiner Schätzung nach, mit nicht weniger als vierzehn Knoten Geschwindigkeit durch die kochende See. Trotz aller Schaukelei, trotz des fest aufgetuchten Großsegels, trotz des Kampfes mit den Wellenbergen liefen sie rasend schnelle Fahrt.
„Vier Stunden, denke ich. Wahrscheinlich weniger“, der Seewolf versuchte, das donnernde Brausen zu übertönen.
„Das geht in die Nacht hinein, Sir.“
„Kann ich’s ändern?“ rief der Seewolf.
Von achtern krachte eine breite Wellenzunge herunter und schmetterte fünf Fuß breit die angesplitterten Reste des Schanzkleides auf dem Grätingsdeck ohne Spuren weg. Wieder wurden die Rudergänger von der wild ausschlagenden Pinne beinahe von Bord katapultiert.
Eine halbwegs wahnwitzige Idee tauchte auf. Der Erste und Hasard dachten im selben Augenblick darüber nach. Der Fockmast mußte neu gestützt und mit einem zusätzlichen Stag versehen werden. Das kleine Focksegel über dem Bugspriet war nicht wichtig, aber das große Dreiecksegel würde, wenn die See den Rest des Bugspriets weghämmerte, zerfetzt werden, mitsamt dem splitternden Mast.
„Der Fockmast!“ schrie Hasard.
„Verstanden! Begriffen. Eine Wahnsinnsarbeit, Sir.“
„Auch das schaffen wir. Holst du die Taue?“
„Ja“, antwortete Ben Brighton. „Und du, Sir, willst mir helfen?“
„Selbstverständlich!“ rief Hasard zurück. „Du weißt, ich bin ein verrückter Selbstmörder.“
Sie tauschten ein kurzes Grinsen aus und hofften, daß sie den folgenden Versuch überlebten. Mit großer Vorsicht gingen sie zu Werke.
2.
In einzelnen Schritten arbeiteten sie sich in Richtung Bug vorwärts. Immer dann, wenn die Schebecke für einen kleinen Augenblick eine scheinbar stabile Lage hatte, glitten der Seewolf und sein Erster vorwärts und schlugen die Knoten der Sicherungstampen um eine andere Stelle des lädierten Schanzkleides. Ben brüllte, als sie den Niedergang erreicht hatten, nach einem bestimmten Tau.
Carberry tauchte mit rotem Kopf auf und hielt das sorgfältig aufgeschossene Tau fest.
„Wasser im Schiff!“ schrie er. „Wir pumpen wie die Irren!“
„Weiter so!“ rief der Seewolf und packte das Taubündel. „Wir sichern den Mast.“
Der Fockmast, durch die Planken des dreieckigen Bugs durchgebolzt, war nach vorn geneigt und mit straffen Wanten in dieser Stellung gesichert. Der Druck, der auf dem Segel lastete, ließ das Tauwerk zittern. Zwei Bündel von dünneren Tauen hielten den Mast, einige Schritte nach achtern versetzt, gegen den Druck des kleinen Focksegels.
Das losgerissene Stag peitschte wild durch die Luft, schlug ins große Segel und gegen das kleinere, wickelte sich um Wanten und Mast und arbeitete sich wieder lose. Ben Brighton duckte sich, als die aufgefaserten Enden mit einem Peitschenknall nach seinem Kopf ausholten.
Der Seewolf riß den Arm hoch, als das Ende frei weiterschwang. Es wickelte sich blitzschnell um seinen Unterarm.
„Ich hab’s“, rief er. „Kreuzknoten, Ben!“
Schwankend und mit der rechten Hand und den Zähnen schlang der Seewolf einen Überhandknoten in das freie Ende. Die Männer hatten sich am Mast gesichert, und durch die Tauenden spürten sie, daß das Holz förmlich zitterte und summte. Der Bug hob sich höher und höher und blieb einen Moment still, als sich der zersplitterte Bugspriet durch die Wellenflanke bohrte.
Auch Ben Brighton schaffte es, den zweiten Überhandknoten über den ersten zu schlagen. Mit einem Ruck setzte der Bug wieder ein, der Stoß schleuderte Ben rückwärts aufs Gangspill zu, gleichzeitig zog er die Verbindung der beiden Enden straff.
„Sitzt!“ rief der Seewolf und spuckte Salzwasser. „Belegen, Ben.“
Sie krochen an beiden Seiten entlang des niedrigen Schanzkleides bugwärts und zogen das neue Stag hinter sich her. Es wand sich wie eine Schlange über die nassen Planken. Während der Bug aufwärts und abwärts gestoßen wurde, versuchten beide Männer, die sich gegenseitig stützten und immer wieder ausrutschten und auf die Planken krachten, das Ende erst einmal um den Stumpf des Bugspriets zu schlingen, dicht vor der geschnitzten Galion.
Der Tampen wurde ihnen aus den Händen gerissen, fing sich wieder, wurde im Wasser nachgeschleppt und Hand über Hand wieder an Deck gezerrt. Nachdem sieben Schläge um das Rundholz lagen, schob sich Ben so vorsichtig, wie er konnte, wieder zurück in den fragwürdigen Schutz des Schanzkleides. Der Seewolf hielt mit aller Kraft die beiden Enden straff und atmete auf, als der Erste sich neben ihm niederkauerte.
Das straff gespannte Segel bot ihnen gegen den Druck von achtern einen geringen Schutz. Schweigend und verbissen, immer wieder von den Wellen und dem brodelnden Spritzwasser völlig durchnäßt, holten sie das lange Ende ein.
„Hält es?“ Der Erste drehte den Kopf und spähte am Segel vorbei zum Masttopp. Das neue Stag war straff und hing kaum durch.