Seewölfe Paket 31

- -
- 100%
- +
An diesen Sachverhalt sollte Cookie mit Nachdruck erinnert werden.
Juan sprang wie von einer Tarantel gestochen von der Taurolle hoch, die ihm als Sitzgelegenheit gedient hatte, und erreichte Cookie mit zwei langen Sätzen. Dort packte er sich einen Stapel der hochaufgetürmten, salzlosen Fladenbrote und wuchtete ihn in den riesigen Suppentopf.
Die pampige grüne Brühe spritzte nach allen Seiten, und Cookie sah im Handumdrehen aus, als sei er mit dem Gesicht in einen Kuhfladen gefallen.
Aber damit war der Wutausbruch des Kreolen noch nicht zu Ende. Der Koch schaffte es gerade noch, einen schrillen Entsetzensschrei auszustoßen, dann fegte ihn Juans Faust über die halbe Kuhl.
Der Kreole schickte sich bereits an, dem von Cookie gesegelten Kurs zu folgen, um ihn für den nächsten Fausthieb wieder auf die Beine zu stellen, da wurde sein Eifer urplötzlich gestoppt, und zwar von einer hellen und klaren weiblichen Stimme.
„Hör auf, Juan!“ befahl Siri-Tong. „Habt ihr Kerle nichts anderes zu tun, als euch zu prügeln?“
Keiner hatte das plötzliche Auftauchen der schlanken Eurasierin mit den dunklen, mandelförmigen Augen bemerkt. Wie aus den Planken gewachsen, war sie einfach da – eigentlich unübersehbar mit ihren weißleinenen Schifferhosen und der roten Bluse, die ihr den Beinamen ‚Rote Korsarin‘ eingebracht hatte.
Während der noch leicht benommene Koch es vorzog, vorerst wie tot liegenzubleiben, um einer weiteren Abreibung aus dem Weg zu gehen, rieb sich der Kreole verlegen die Fäuste.
„Es – es mußte sein, Madam“, sagte er.
„Und warum, wenn man fragen darf?“
„Man – man darf fragen“, stotterte Juan.
„Sehr gnädig“, sagte Siri-Tong. „Ich bin zwar nicht im Wiederholungsverein, aber bitte. Warum also mußte es sein?“
Juan zeigte auf die ausgestreckte Gestalt Cookies und konnte nicht verhindern, daß er immer verlegener wurde. Plötzlich wußte er nicht einmal mehr, was er mit seinen riesigen Pranken anfangen sollte – was sonst selten bei ihm passierte.
„Dieser Mistkerl, Madam, hat gewagt – äh – er hat gewagt …“ Juan unterbrach seine spärlichen Ausführungen, vollführte eine wegwerfende Geste und fügte lapidar hinzu: „Er hat das Brot ohne Salz gebacken.“
„Das ist natürlich ungeheuerlich“, entgegnete die Rote Korsarin und hatte Mühe, ernst zu bleiben.
„Klar, Madam“, pflichtete ihr Juan eiligst bei. „Man kann das Zeug ja so nicht essen. Keinen Bissen kriegt man runter, so fad schmeckt es.“
„Na, schön“, sagte Siri-Tong. „Wie es aussieht, wird er beim nächsten Brotbacken das Salz bestimmt nicht vergessen oder sogar – um sicherzugehen – die doppelte Menge reintun.“
Jetzt lachten die Kerle brüllend, und als Siri-Tong ihren Weg fortsetzte, folgte ihr so manch bewundernder Blick. O ja, als Miteigentümerin des Schwarzen Seglers hatte sie es bisher immer geschafft, die Burschen an der Kandare zu halten, zumal sie es glänzend verstand, irgendwelche Probleme buchstäblich mit eigener Faust zu regeln.
Kaum war die Frau aus der unmittelbaren Gefahrenzone verschwunden, stieß der Kreole einen gefährlich klingenden Knurrlaut aus.
Der noch auf den Planken liegende und völlig mit Gemüseresten bekleckerte Cookie nahm das zum Anlaß, rasch noch etwas an Abstand zu gewinnen. Er sprang blitzschnell auf die Beine und flitzte über die Kuhl in Richtung Achterdeck.
Sein Pech dabei war, daß er den Kurs des Wikingers kreuzte, und bevor er sich versah, setzte ihm dieser mit altbewährtem Schwung einen Fuß ins „Heck“, der seinen Törn nach achtern wesentlich beschleunigte.
„Die Suppe hat nämlich auch nichts getaugt!“ rief Thorfin. „Der reinste grüne Matsch war das. Man sollte dich beim nächsten Mal selber mit in den Topf stecken, dann würden zumindest die Fettaugen nicht fehlen!“
Der Stör hatte größte Mühe, diesen umfangreichen Gedankengang bruchstückhaft zu wiederholen. So war es denn kein Wunder, daß ein „fetter Topf“, „grüne Augen“ und „die reinste Suppe“ dabei herauskamen.
Der Bordalltag hatte also auch die Crew des Schwarzen Seglers wieder eingeholt. Es gab ja auch nicht viel zu tun in dieser windgeschützten Bucht, wenn das Unwetter, das über dem Nordmeer tobte, unvermindert anhielt.
Noch die ganze folgende Nacht hindurch war das Heulen und Pfeifen des Windes zu hören, das zeitweise an das Jammern und Klagen verdammter Seelen erinnerte. Erst zwei Stunden nach Tagesanbruch flaute der Sturm so plötzlich ab, als hätte ihm jemand Einhalt geboten.
Die dunklen Wolken vermischten sich mehr und mehr mit dem Tageslicht und begannen sich schließlich ganz aufzulösen. Je klarer der Himmel wurde, desto besser wurde auch die Sicht.
Die hügelige und teils felsige Küste der Insel bot jetzt einen viel freundlicheren Anblick, als dies noch gestern der Fall gewesen war. Der Wind hatte viel an Kraft verloren, die Elemente beruhigten sich. Lediglich die starke Dünung erinnerte noch an die entfesselten Naturgewalten.
Für die Besatzungen der beiden Schiffe gab es keinen Grund mehr, noch länger in der Bucht zu verweilen. Nachdem sich der Seewolf mit dem Wikinger verständigt hatte, gingen sie ankerauf.
Bald lagen die beiden ungleichen Segler wieder auf ihrem alten Kurs. Der Wind schien sich jetzt zwar auszuruhen, aber da er raumschots einfiel, liefen sie trotzdem gute Fahrt.
Jetzt, am hellen Tag, gab es auch wieder eine ganze Menge Arbeit an Bord der Schebecke.
„Zum Glück gibt es dank der ruhigen Bucht keine nennenswerten Sturmschäden“, sagte der rothaarige Ferris Tucker zu Paddy Rogers, der ihm gelegentlich als Gehilfe zur Hand ging.
In seiner Eigenschaft als Zimmermann fühlte sich Ferris für alles zuständig, was aus Holz war – und das war immerhin eine ganze Menge auf einem hölzernen Schiff.
Die beiden Männer waren schon fast am Ende ihres Kontrollganges angelangt. Nichts hatten sie vergessen – keinen Mast, keine Luke, ja, nicht einmal die Planken.
Der bullige Paddy, der im Denken nicht der Schnellste war, rieb sich zufrieden die Hände. Arbeit stand zwar genug bevor, aber immerhin hatte der Sturm keine Masten geknickt oder Rahruten zerfetzt. Das wiederum ersparte ihnen eine Menge Knochenarbeit.
„Alles nur Kleinkram“, meinte Paddy. „Bis wir in den Isafjord einlaufen, wird das alles vergessen sein. Jedenfalls haben wir dann genug Zeit, uns mit dem guten isländischen Branntwein aufzuwärmen.“
„Kannst du auch mal an etwa anderes denken als an irgendein Gesöff, he?“ fragte Ferris.
„Klar doch“, erwiderte Paddy. „Unser Kapitän wies ja extra darauf hin, daß es dort auch hübsche Ladys in rauhen Mengen gäbe.“ Paddys Gesicht, in dessen Mitte eine prächtige Knollennase prangte, war die Vorfreude bereits anzusehen.
„Nur mal langsam, du lüsterner Elch“, tadelte Ferris. „Er hat lediglich zum Ausdruck gebracht, daß die nordischen Jungfrauen nicht weniger hübsch seien als die englischen. Von ‚rauhen Mengen‘ war jedoch keine Rede …“
„Macht fast gar nichts“, unterbrach ihn Paddy. „Eine reicht ja auch.“
Ferris schüttelte das kantige Haupt mit den dichten roten Haaren. „Du bildest dir doch wohl nicht ein, daß auch nur eine einzige hübsche Isländerin schmachtend an der Pier wartet, bis ausgerechnet du von Bord gehst? Selbst wenn das der Fall wäre, würde die Ärmste bei deinem Anblick vor Entsetzen die Flucht ergreifen.“
„Oh, sag das nicht“, ereiferte sich Paddy. „Ich weiß schon, wie man mit Ladys umgeht. Schließlich habe ich ausgezeichnete Formen …“
„Umgangsformen meinst du wohl“, berichtigte ihn Ferris.
Paddy nickte eifrig. „Genau die habe ich gemeint …“
„Und genau die möchte ich einmal erleben“, unterbrach ihn der Zimmermann abermals. „Da brauche ich mir nur vorzustellen, wie du mit einer Lady spazierengehst. Bei jedem einzelnen Schritt, den sie tut, würdest du ihr mindestens zweimal auf die Füße latschen. Und würde sie aus Versehen eine Treppe hinunterfallen, würdest du sie bestenfalls noch fragen, was sie denn da unten zu suchen habe.“
„Unsinn“, sagte Paddy energisch. „In so einem Fall warte ich höflich, bis sie wieder heraufkommt.“
Das Lachen Ferris Tuckers dröhnte über das Deck, während sich Paddy überlegte, was denn daran schon wieder falsch gewesen sein könnte.
Al Conroy drehte sich verwundert um. „Unser Schiffszimmermann scheint wieder einmal bester Laune zu sein.“
„Die kriegt man – ob man will oder nicht“, japste Ferris und klopfte dem verdatterten Paddy anerkennend auf die Schulter.
Al fuhr grinsend mit seiner Arbeit fort. Als Stückmeister überprüfte er, wie nach jedem Sturm, den Zustand der Geschütze. Davon gab es immerhin mehr als ein Dutzend an Bord des Dreimasters: je sechs Culverinen an Backbord und Steuerbord, außerdem noch je zwei Drehbassen vorn und achtern. Und wenn es Ärger gab, verstand Al es meisterhaft, damit umzugehen.
Aber auch für die anderen Männer gab es genug zu tun. Hasard und Philip, die Zwillingssöhne des Seewolfs, halfen an den Brassen und Schoten, Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, befand sich im Ausguck, und Bill half dem alten Will Thorne in der Segellast. Die Kombüse war gegenwärtig nur mit Mac Pellew besetzt, weil der Kutscher dem graubärtigen Big Old Shane einen Holzsplitter aus der linken Hand entfernte.
Der Seewolf und Ben Brighton waren achtern in eine Seekarte vertieft. Old O’Flynn schaute ihnen dabei zu und sparte nicht mit allerlei passenden und unpassenden Bemerkungen. Und immer wenn es eine Denkpause gab, beugte er sich zu Plymmie hinunter und kraulte ihr das wolfsgraue Fell.
Bis zum Nachmittag hatten die beiden Schiffe die Shetlandinseln weit hinter sich gelassen. Das Wetter hatte sich im Laufe des Tages prächtig erholt, zeitweise brach sogar die Sonne durch und belegte die Wasserfläche mit einem silbrigen Schimmer.
Edwin Carberry, als Profos für Zucht und Ordnung zuständig, lugte von Zeit zu Zeit nach oben, als wolle er prüfen, ob Batuti nicht im Ausguck eingeschlafen war. Doch der war hellwach, auch wenn in dieser Gegend bislang kein fremdes Schiff gesichtet worden war. Dafür entdeckte er bald etwas völlig anderes.
„Deck!“ rief er plötzlich. „Steuerbord voraus treibt etwas! Könnte ein Boot sein!“
„Ein Boot?“ wiederholte der Profos. „Hier zottelt doch wohl niemand mit einem Boot herum, was, wie?“
Als Batuti für kurze Zeit schwieg und eifrig durch das Spektiv blickte, wurde der Profos ungeduldig.
„Was ist los, Mister?“ rief er nach oben. „Ist es nun ein Boot oder nicht?“
„Geduld ist eine edle Tugend!“ rief Batuti ungerührt zurück. „Leider bin ich mir noch nicht völlig sicher. Es könnte sich auch um irgendwelches Treibgut handeln.“
„Das ist nach einem Sturm nichts Außergewöhnliches“, bemerkte Hasard. „Nicht immer findet sich gerade eine schützende Bucht.“
Kurz darauf schien sich Batuti jedoch sicher zu sein.
„Es ist doch ein Boot“, meldete er, „aber nur eine winzige Nußschale. Sie treibt genau auf uns zu. Wenn ich mich nicht täusche, liegt sogar jemand drin.“
„Ein Schiffbrüchiger also“, murmelte Old Donegal. „Dann hat das Wetter wohl doch für Kleinholz gesorgt.“
Wenig später war jeder Zweifel ausgeräumt. Es lag tatsächlich eine menschliche Gestalt der Länge nach über dem Duchten. Von Riemen war nichts zu sehen, das Boot schaukelte in der Dünung. Ob die regungslose Gestalt, die inzwischen als Mann identifiziert werden konnte, noch lebte, war nicht zu erkennen.
Da man davon ausgehen mußte, daß sich der Mann von einem im Sturm sinkenden Schiff an Bord der Nußschale gerettet hatte, war es immerhin möglich, daß er schon seit gestern durchnäßt und unterkühlt im Nordmeer trieb. Ein Überleben würde deshalb fast an ein Wunder grenzen – genauso wie die Tatsache, daß das Boot nicht längst vollgeschlagen oder gekentert war.
„Beiboot aussetzen!“ befahl der Seewolf. „Wir werden uns den Mann näher ansehen.“
Die Segel wurden aufgegeit, die Schebecke verlor sofort an Fahrt. Rasch wurde ein Boot ausgeschwenkt und abgefiert, bis der Kiel ins Wasser tauchte.
„Was das wohl für ein Landsmann ist?“ murmelte Old Donegal.
„Bestimmt ist es kein Nordmann, der mal eben auf diesem Nachttopf rüber nach Bergen wollte, um sich nach den Eisenerzpreisen zu erkundigen“, erwiderte der Profos. „Aber er wird es uns bestimmt erzählen – wenn er noch kann.“
Gleich darauf enterte der Profos zusammen mit vier weiteren Männern in das Boot ab und ließ es auf die treibende Nußschale zupullen. Als sie das winzige Gefährt erreicht hatten, setzte Jack Finnegan über, um die Leine wahrzunehmen und zu belegen.
Sobald das geschehen war, kümmerte er sich um die regungslose Gestalt. Der Mann war von gedrungener, mittelgroßer Statur, sein Haar war schwarz, ebenso der verwilderte Bart. Die Kleidung war durchnäßt und ließ von ihrer Art her auf einen einfachen Decksmann schließen.
Jack hob den Kopf des Mannes etwas an. Die Augenlider bewegten sich, aus dem Mund drang ein schwaches Stöhnen, dem einige kurze, unverständliche Laute folgten.
„Er lebt!“ rief Jack zu seinen Kameraden hinüber. „Außerdem ist er nicht mal bewußtlos, sondern scheint nur völlig entkräftet zu sein.“
Nachdem auch noch Nils Larsen auf die Nußschale übergestiegen war, hoben die beiden Männer den Schiffbrüchigen vorsichtig an, drehten ihn um und legten ihn quer zwischen zwei Duchten.
„Ein bißchen mußt du noch durchhalten, Kumpel“, sagte Jack Finnegan zu dem Fremden. „Wir bringen dich an Bord unseres Schiffes, dort wird sich unser Feldscher um dich kümmern.“
So geschah es auch. Die Nußschale wurde in Schlepp genommen und der total Erschöpfte mit vereinten Kräften an Bord gehievt. Dort brachte man ihn zunächst einmal ins Logis und zog ihm die nassen Kleider aus.
Nachdem der Kutscher den ausgekühlten Körper kräftig mit einer durchblutungsfördernden und wärmespendenden Mischung aus Kräutern und Alkohol eingerieben hatte, legte man dem Schiffbrüchigen trockene Kleider an und packte ihn in eine warme Decke.
Das blakende Licht der Tranlampen, das den unter Deck liegenden Raum notdürftig erhellte, ließ die Konturen des blassen, von einem ungepflegten Bart umwucherten Gesichtes deutlich hervortreten. Nach Schätzung der Arwenacks mochte der Mann zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt sein.
„Der Bursche hat eine gute Konstitution“, sagte der Kutscher. „Er wird bald wieder in Ordnung sein.“
Seine Bemühungen als Feldscher blieben nicht ohne Wirkung. Das Flackern der Augen hatte aufgehört, aus seinem Mund drang nur noch selten ein leises Stöhnen. Sein Blick blieb jetzt auf dem Kutscher haften, die aufgesprungenen Lippen bewegten sich.
„Wer – wer – seid ihr?“ stammelte er schließlich mit schwacher Stimme. Zur Überraschung der Mannen sprach er englisch.
„Das erklären wir dir später, mein Freund“, erwiderte der Kutscher. „Erst mußt du ein bißchen zu Kräften kommen. Wie wär’s mit einem heißen Tee und Rum? So ein durchgefrorener Körper will nicht nur von außen, sondern auch von innen behandelt werden.“ Er griff nach der dampfenden Muck, die auf dem Tablett stand, das Mac Pellew hereingebracht hatte, und setzte sie dem Fremden an die Lippen.
Der Mann trank mit kleinen Schlucken und ließ den Kopf erst zurücksinken, als die Muck geleert war.
„Danke“, murmelte er leise. „Tut – gut …“ Danach schloß er die Augen, und tiefe Atemzüge verrieten, daß er eingeschlafen war.
Der Profos grinste. „So möchte ich auch mal verwöhnt werden, Sir“, sagte er zu dem hereinkommenden Seewolf. „Aber unsereinem flößt niemand diesen köstlichen Trunk ein, und den Kopf hat mir auch noch keiner gehalten.“
„Bis jetzt hast du es ganz gut aus eigener Kraft geschafft, dir eine Muck nach der anderen hinter die Binde zu kippen“, entgegnete Hasard sarkastisch, „und es hieße Wasser ins Meer schütten, wenn man dir das Zeug auch noch einflößen würde.“
Carberry schluckte. Seine Bemerkung hatte sich als „Schuß in den Ofen“ erwiesen, aber so etwas konnte ihn nicht erschüttern. Er überging die Retourkutsche des Seewolfs, indem er geschickt vom Thema ablenkte.
„Außerdem“, fuhr er schnuppernd fort, „riecht es hier wie in einem orientalischen Freudenhaus. Da wird’s einem ganz schummerig im Kopf.“
Diesmal widersprach ihm niemand, zumal tatsächlich der Geruch von Kräutern und Alkohol, vermischt mit dem durchdringenden Aroma, das der Rum verströmte, den Raum überlagerte.
„Wie geht es ihm?“ fragte der Seewolf, während er den Fremden musterte.
„Er wird sich rasch erholen“, erwiderte der Kutscher. „Zum Glück hat er keine Verletzungen. Er ist lediglich unterkühlt und völlig erschöpft.“
Der Seewolf nickte. „Vielleicht sollten wir ihn zunächst einmal ausschlafen lassen, danach kann er uns immer noch erzählen, was geschehen ist.“
Der Kutscher pflichtete ihm bei. „Schlaf ist die beste Medizin. Danach werden wir ihn mit einer kräftigen Fleischbrühe aus der Koje holen.“
„So was!“ entfuhr es Old Donegal. „Hoffentlich pennt der Bursche nicht zu lange, sonst erfahren wir nie, wer er ist und was passiert ist.“
4.
Die zweimastige Schaluppe segelte dicht unter der Küste auf Nordostkurs. Die Sicht war klar, in weiter Ferne waren sogar die Konturen der hochaufragenden Berggipfel zu sehen. Eine Schar Möwen kreiste mit lautem Geschrei über den Masttoppen.
Doch die Männer auf der Schaluppe interessierten sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht für die nahegelegene Küste. Ihre Augen waren vielmehr erwartungsvoll auf die offene See gerichtet. Genaugenommen, auf die Steuerbord voraus heransegelnde kleine Karavelle.
Egill, der Anführer der „Schwarzen Raben“, starrte schon seit einiger Zeit durch das Spektiv.
„Wirklich ein hübsches, kleines Schiffchen“, sagte er.
Gestur, ein hagerer Mann mit dünnem Kinnbart, nickte grinsend. „So was Handliches kann man immer gebrauchen. Ob das Fischer sind?“
„Quatsch!“ entgegnete der bärtige Egill. „Welcher Fischer auf dieser verdammten Insel kann sich schon so ein Schiffchen leisten, he? Wenn du mich fragst, ist das ein Handelsfahrer, ein dänischer womöglich.“
Egill schien recht zu behalten, denn schon bald war deutlich die dänische Flagge zu erkennen.
Gestur schnippte genießerisch mit den Fingern. „Wenn das nicht ein echter Leckerbissen ist! Da ist vielleicht mehr zu holen, als der ganze verdammte Hof der Gunnarssons hergegeben hat.“
„Da kannst du durchaus recht haben“, bestätigte Egill. „Einen Kauffahrer auszunehmen, gehört immer zu den lohnendsten Geschäften. Außerdem geschieht es äußerst selten, daß man in dieser Gegend einem solchen Schiff begegnet.“
„Das ist alles richtig“, sagte Gestur. „Nur einen Haken hat die Sache. Woher wollen wir zum Beispiel wissen, ob die Burschen ihre Warenladung noch an Bord haben? Vielleicht haben sie schon alles verkauft, und wir finden nur noch leere Laderäume vor.“
Egill lachte dröhnend. „Du bist ein Ochse, Gestur! Bei einem Kauffahrer ist es unerheblich, ob er die Ware verkauft hat oder nicht. Hat er sie verkauft – na schön, dann wird er eine Menge Geld an Bord haben. Hat er sie noch nicht verkauft, dann sind die Laderäume eben noch voll. Wir aber machen in jedem Fall unser Geschäft. Die Frage ist nur: Geld oder Ware? Wir haben für beides Verwendung. Oder etwa nicht?“
Der hagere Kerl nickte eilig. „Natürlich, Egill, genauso ist es. Wir sollten unbedingt zuschlagen. Wenn wir uns als friedfertige isländische Fischer ausgeben, wird es vielleicht gar nicht so schwierig sein, an die Karavelle heranzukommen. Und mit ein paar dickhäutigen Pfeffersäcken werden wir noch allemal fertig.“
In diesem Punkt herrschte sofortige Übereinstimmung unter dem wüsten Haufen der Anbeter Odins. Das fanatische Funkeln in den Augen ihres Anführers verwandelte sich rasch in jenen tückischen Blick, der nichts als rein irdische Gier nach Beute widerspiegelte. Genau diese Gier war es, die die verwilderten Burschen immer wieder in gnadenlose Teufel verwandelte.
Der dänische König hatte eine stattliche Belohnung auf die Köpfe der entlaufenen Sträflinge ausgesetzt, aber bisher war es seinen Häschern nicht gelungen, ihren Schlupfwinkel aufzuspüren. Die Inselbewohner ließen sich erst gar nicht auf das gefährliche Unterfangen ein, nach der üblen Bande zu suchen.
So hatte Egill bei seinen Beutezügen nach wie vor wenig Widerstand zu erwarten, und das kostete er weidlich aus. Hinzu kam, daß er als glühender Verfechter der alten nordischen Religion alle haßte, die den Göttern der Väter abgeschworen und den Christenglauben angenommen hatten.
Als Anbeter Odins, des Kriegsgottes, nahm er das Recht für sich in Anspruch, allen sogenannten „Abtrünnigen“ jederzeit ohne jeglichen Skrupel zu begegnen.
Den wilden Haufen seiner Komplicen hatte Egill fest im Griff. Keiner der wüsten Burschen wagte es, sich ihm auch nur im geringsten zu widersetzen. Kein Wunder also, daß diese Schnapphähne zum Schrecken der isländischen Küstenbewohner geworden waren.
„Es wird Zeit, daß wir uns auf das Tänzchen einstellen“, sagte Egill zu Gestur, seinem treuesten Anhänger. „Vor allem müssen wir die roten Umhänge verschwinden lassen, damit die Dänen nicht argwöhnisch werden. Außerdem sollen alle Männer, die nicht unbedingt an den Brassen und Schoten gebraucht werden, unter Deck verschwinden und die Waffen bereithalten. Wir werden in der Tat als harmlose Fischer auftreten.“
Die Verwandlung der Piratenschaluppe in ein Fischerboot verlief rasch und ohne Schwierigkeiten.
Als wenig später zu erkennen war, daß am Schanzkleid der kleinen Karavelle Männer standen, die ihre Spektive auf die Schaluppe gerichtet hatten, begannen die „Schwarzen Raben“ auf das Kommando Egills hin freundlich zu winken. Gleichzeitig fiel die Schaluppe hart nach Steuerbord ab und hielt auf das Handelsschiff zu.
„Die Geldsäcke scheinen im Gegensatz zu uns Kanonen zu haben“, sagte Gestur mit bedenklicher Miene.
In der Tat waren an der Steuerbordseite der Karavelle zwei Stückpforten zu erkennen, die allerdings geschlossen waren.
Egill winkte ab. „Es handelt sich bestenfalls um kleinkalibrige Zierstücke, mit denen man ein bißchen Eindruck schinden will. Wahrscheinlich können die Kerle nicht einmal richtig damit umgehen. Da sie die Stückpforten bis jetzt nicht geöffnet haben, können wir davon ausgehen, daß sie uns tatsächlich als einfache Fischer betrachten.“
Wieder ließ Egill freundlich zur Karavelle hinüberwinken und anschließend seine Absicht signalisieren, daß man Kontakt aufzunehmen wünsche. Und siehe da – die Dänen winkten nicht nur zurück, sondern verlangsamten die Fahrt, indem sie einen Großteil der Segel wegnahmen.
„Also doch Kaufleute“, sagte Gestur mit einer gewissen Befriedigung. „Die Krämerseelen können nicht widerstehen, wenn sie ein Geschäft wittern.“
Egill ließ die Schaluppe dicht aufsegeln und die Segel aufgeien, als sie sich fast auf gleicher Höhe mit der Karavelle befand. Sofort legte er die Hände um den Mund und preite die Dänen an.
„Mein Name ist Jochumsson!“ rief er mit lauter Stimme. „Ich bin der Kapitän dieser Schaluppe. Wir sind Fischer und entbieten dem König und seinen Untertanen einen christlichen Gruß.“
Das erhoffte Echo blieb nicht aus. Der beleibte und vornehm gekleidete Mann, der achtern am Schanzkleid stand, legte die Hände ebenfalls trichterförmig um den Mund.
„Wir erwidern euren Gruß!“ tönte es zurück. Die Stimme des Mannes klang hoch und durchdringend. „Wir sind Kaufleute und bieten auf den Höfen und in den Küstenorten der Insel unsere Ware feil.“
„Das haben wir vermutet, als wir die Flagge des dänischen Königs erkannten!“ rief Egill mit ausgesuchter Höflichkeit zurück. „Da nur selten Kaufleute unsere winzige Ansiedlung aufsuchen, möchten wir uns die Gelegenheit zum Einkauf nicht entgehen lassen. Darf man fragen, welcher Art Ihre Waren sind, Kapitän?“
„Wir haben eine große Auswahl an Waren des täglichen Bedarfs. Über die Preise lassen wir mit uns reden.“
„Das klingt sehr gut, Kapitän“, fuhr Egill fort, ohne den Anschein von Eile zu erwecken. „Wir haben vor allem großen Bedarf an Stoffen, Hausrat und Werkzeugen. Und wir können bezahlen, denn unser Fischfang war in den letzten Monaten sehr gewinnbringend.“
Das hörte der dicke Kaufmann gern. Warum auch sollte er sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen? Schließlich traf man in den isländischen Küstengewässern selten genug auf ein fremdes Schiff, und sei es nur eine Fischerschaluppe.