Seewölfe Paket 31

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„Sie sind herzlich willkommen an Bord meines Schiffes!“ rief er. „Die Auswahl, die ich Ihnen bieten kann, wird Sie überraschen!“
Egill gab sich sehr zufrieden. „Dürfen mich zwei oder drei meiner Männer an Bord begleiten, Kapitän?“
Der geschäftstüchtige Däne reagierte so, wie Egill im stillen erhofft hatte.
„Warum solche Umstände, Kapitän Jochumsson?“ erwiderte er. „Scheren Sie doch einfach längsseits. Das erleichtert Ihnen und Ihren Leuten den Einkauf und vor allem auch den Warentransport.“
Das ließen sich die „Schwarzen Raben“ nicht zweimal sagen. Während die dänische Karavelle geduldig wartete, ließ Egill die Segel setzen, eine Wende fahren und bald darauf ging die Schaluppe an der Steuerbordseite der kleinen Karavelle längsseits. Die Taue, die man hinüberwarf, wurden sofort wahrgenommen und belegt.
Wie Egill längst festgestellt hatte, befand sich nur eine relativ kleine Crew an Bord des Schiffes. Der dicke Kaufmann war zur Kuhl abgeentert, um seine Kundschaft mit zahlreichen Höflichkeitsfloskeln an Bord zu begrüßen.
Das war der folgenschwerste Fehler, den der Däne je in seinem Leben begangen hatte.
Auf der zweimastigen Schaluppe der angeblichen isländischen Fischer wurde es urplötzlich lebendig. Während der bärtige Kapitän einen unverständlichen Befehl brüllte und auf die Karavelle überenterte, flogen die Luken auf, und eine stattliche Schar wild aussehender Männer, die ganz und gar nicht wie Fischer aussahen, quoll daraus hervor.
Die Kerle waren bis an die Zähne bewaffnet. Bevor der dänische Kaufmann begriff, was geschah, folgten sie ihrem Anführer flink wie Raubkatzen an Bord des Handelsschiffes.
Dem dicken Kapitän der Karavelle stand die Überraschung und das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
„Zu den Waffen – das ist ein Überfall!“ kreischte er mit seiner hohen Stimme.
Gleichzeitig wich er ein Stück zurück und zerrte verzweifelt an einer reichverzierten Steinschloßpistole, die in seinem mit wertvollem Beschlag versehenen Ledergürtel steckte.
„Laß das Ding ruhig stecken, Dicker!“ herrschte ihn Egill mit kalter Stimme an und wuchtete dem völlig verblüfften Mann erbarmungslos die Faust in die Magengrube.
Der Dicke stieß pfeifend die Luft aus und sank wie ein vom Blitz gefällter Baum auf die Planken.
Jetzt erst zog Egill sein Messer und stürzte sich in das eben einsetzende Kampfgetümmel. Bei den wenigen Männern, die zur Besatzung der Karavelle gehörten, handelte es sich um einfache Decksleute, die in ihrer Arglosigkeit nicht einmal mehr die Zeit gefunden hatten, irgendwelche Schußwaffen herbeizuholen. Die meisten waren auf ihre Messer oder gar nur auf ihre Fäuste angewiesen. Einige schafften es noch, sich einen hölzernen Belegnagel zu greifen.
Der Kampf war kurz, hart und erbarmungslos. Die Crew des Kauffahrers hatte keine Chance. Die „Schwarzen Raben“ nutzten ihre zahlenmäßige Überlegenheit aus und wüteten wie eine Schar tollwütiger Wölfe.
Als der Kapitän der Karavelle das Bewußtsein wiedererlangte, stemmte er sich ächzend von den Planken hoch und tastete, während, er auf noch kraftlosen Beinen hin und her schwankte, abermals nach der Pistole.
Er kam auch diesmal nicht dazu, die Waffe aus dem Gürtel zu ziehen.
Einer von Egills Komplicen war schneller. Er spannte den Hahn seiner Steinschloßpistole, riß die Waffe hoch – und zog durch. Das kleine Flämmchen, das aus dem Lauf züngelte, war das letzte, was der Kaufmann in seinem Leben wahrnahm. Als sein schwerer Körper auf die Decksplanken prallte, war er bereits tot.
Wenig später war der Enterkampf zu Ende. Unter den „Schwarzen Raben“ hatten einige Männer leichte Verletzungen davongetragen, dennoch hatte Egill nicht einen einzigen Mann verloren. Die Crew der Karavelle jedoch gab es nicht mehr. Die kleine Schar teilte das Schicksal ihres Kapitäns.
Egill grinste zufrieden. Für ihn war dieser Überfall nur ein erfolgreicher Raid unter vielen. Seiner Meinung nach hatte sich die Sache sogar gelohnt.
Von dem Geld des Kaufmanns abgesehen, waren die Laderäume der Karavelle noch gut bestückt, die Beute konnte sich sehen lassen. Außerdem brauchte man das Zeug nicht einmal auf die Schaluppe umzuladen, weil die kleine Karavelle von einer kleinen Gruppe seiner Leute übernommen wurde.
„Odin war wieder einmal auf unserer Seite“, sagte Egill zu dem hageren Gestur, als die beiden kleinen Segler auf Nordostkurs gingen.
5.
Die Geduld der Arwenacks wurde auf eine harte Probe gestellt, denn der Schiffbrüchige, der vom Kutscher hervorragend verarztet worden war, schlief wie ein Murmeltier. Und das seit genau dreizehn Stunden.
Ein neuer Tag war heraufgezogen, graue Dunstschwaden hingen noch über der kabbeligen Wasserfläche des Nordmeeres. Die Seewölfe waren mit dem morgendlichen Backen und Banken beschäftigt. Mit sichtlichem Appetit fegten sie die Schüsseln mit den deftigen Speckpfannkuchen leer und tranken dazu heiße Fleischbrühe.
Lediglich Old Donegal schien sich heute nicht so recht auf das Frühstück konzentrieren zu können. Er stelzte mit seiner Beinprothese unruhig auf den Planken hin und her. Sein von Wind und Wetter zerfurchtes Gesicht spiegelte Nachdenklichkeit und Unmut wider.
„Was ist los mit dir, Donegal?“ fragte schließlich Big Old Shane, der ehemalige Schmied der Feste Arwenack. „Du erinnerst mich heute an eine Henne, die ein Ei legen möchte, aber nicht das passende Nest dazu findet.“
Edwin Carberry verschluckte sich fast an der Fleischbrühe. „Dieses Kuckucksei möchte ich mal sehen! Außerdem ist mir noch kein Huhn mit Holzbein begegnet.“
„Du kennst Hühner ja nur im gerupften Zustand“, sagte Old Donegal giftig. „Selbst dann könntest du sie nicht von Nilkrokodilen unterscheiden.“
„Irrtum“, sagte Carberry grinsend. „Krokodile haben buntere Federn und können lauter gackern.“
Old Donegal erwiderte nichts darauf. Er schien zu dieser frühen Morgenstunde absolut nicht zum Herumflachsen aufgelegt zu sein. Er stoppte vielmehr seine Schritte, wandte den anderen den Rücken zu und sandte einen stummen Blick in Richtung Kimm, obwohl diese wegen der Dunstschwaden noch gar nicht zu sehen war.
Erst einige Augenblicke später wandte er sich wieder den anderen zu.
„Wie lange will der Bursche noch schlafen?“ fragte er unvermittelt. „Einmal rund um die Uhr genügt selbst einer Mutter im Wochenbett.“
Big Old Shane schüttelte das grauhaarige Haupt.
„Das ist es also“, sagte er augenzwinkernd. „Du wirst wieder einmal von der Neugierde geplagt und möchtest endlich wissen, welche Ereignisse uns den müden Gast beschert haben.“
Old Donegal hatte plötzlich einen wilden Blick drauf.
„Neugierde ist mir völlig fremd, das müßten selbst eure ausgetrockneten Gehirne langsam begreifen“, sagte er gallig. Doch da ihm das niemand so recht glauben wollte, fügte er noch hinzu: „Sagen wir lieber, der Mann ist mir nicht ganz geheuer. Er ist nicht der erste Schiffbrüchige, den wir an Bord genommen haben. Aber Glück hat uns das nur selten gebracht. Ärger hingegen eine ganze Menge.“
„Jetzt hör aber auf, Donegal“, erklärte Will Thorne, der alte Segelmacher. „Du hast wohl wieder einmal zu weit hinter die Kimm gesehen. Hätten wir den Burschen etwa an Bord seiner Nußschale lassen sollen?“
„Natürlich nicht, du alter Fetzenflicker“, erwiderte Old Donegal erbost. „Ich bin doch kein Unmensch, oder? Daß wir dem Kerl geholfen haben, war eine Selbstverständlichkeit für uns. Aber das hat nichts mit – äh – mit gewissen Befürchtungen zu tun. Erfahrungen sollten schließlich dazu führen, daß man vorsichtig wird. Das hat mir meine Großmutter schon beigebracht, als mir ein Schluck Milch noch lieber war als eine Muck Rum.“
Old O’Flynn versuchte, den Rest der Crew vorsichtig und mit aller Beredsamkeit darauf hinzuweisen, daß ihm einer seiner berühmten Blicke hinter die Kimm wieder einmal eine düstere Vorahnung beschert hätte.
Der Seewolf beendete nach kurzer Zeit die Debatte.
„Was die Zukunft bringt, weiß niemand“, sagte er. „Da wir in der Gegenwart leben, müssen wir uns eben auch den Dingen stellen, die sie an uns heranträgt. Wir können uns unmöglich von Stimmungen leiten lassen, wenn es darum geht, einem in Not geratenen Menschen zu helfen. Und Hilfe kann nicht von der Frage abhängig sein, ob sie uns Dankbarkeit oder Ärger einbringt. Der Mann war in Not, wir haben ihm geholfen und wollen zunächst einmal hoffen, daß wir uns damit keinen Ärger eingehandelt haben. Der Kutscher ist bereits vor einer Weile mit einer Muck Fleischbrühe und einigen Speckpfannkuchen zum Logis gegangen. Wer weiß – vielleicht hat unser unbekannter Gast schon ausgeschlafen.“
Ein bißchen mußten sich die Arwenacks schon noch gedulden, und Old Donegal war deutlich anzumerken, daß er am liebsten zum Logis marschiert wäre, um die Sache etwas zu beschleunigen. Da er jedoch jede Art von Neugierde entrüstet zurückgewiesen hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu beherrschen – was ihm wiederum so manches verstohlene Grinsen einbrachte.
Die Morgenmahlzeit war längst beendet, und Mac Pellew hatte schon alle leeren Schüsseln und Töpfe zur Kombüse zurückgebracht, da tauchte plötzlich der Kutscher auf. Der Schiffbrüchige mit dem verwilderten, schwarzen Bart folgte ihm auf dem Fuß nach achtern.
„Unser Freund möchte den Kapitän sprechen“, sagte der Kutscher zu Hasard. „Er ist zwar noch ein bißchen schwach auf den Beinen, aber sonst hat er sich ganz gut erholt.“
Der Mann nickte verlegen. „Sie sind der Kapitän?“ vergewisserte er sich.
Hasard bejahte.
„Dann möchte ich Ihnen meinen Dank abstatten. Sie haben mir ohne Zweifel das Leben gerettet.“
Hasard winkte ab. „Das war eine Selbstverständlichkeit – ganz abgesehen, daß das nicht allein mein Verdienst ist. Einige meiner Männer sind rausgepullt und haben Sie an Bord geholt. Es freut mich, daß Sie wieder auf dem Damm sind.“
„Ja, es geht mir ausgezeichnet“, erwiderte der Fremde, „und ich habe auch schon eine Idee, wie ich mich bei Ihnen und Ihrer Crew bedanken kann.“
Der Seewolf lächelte. „Dank ist uns nicht so wichtig. Aber wir hätten nichts dagegen, wenn Sie uns Ihren Namen verraten würden. Außerdem interessiert uns natürlich, wie Sie in die mißliche Lage geraten sind, die Sie beinahe das Leben gekostet hätte.“
„Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Entschuldigen Sie, Sir. Mein Name ist Jerry Pinewood. Ich stamme aus Grimsby, einem kleinen Ort an der englischen Ostküste, und fahre seit etlichen Jahren zur See.“
Der Schiffbrüchige schien eine magische Anziehungskraft auszuüben, denn im Handumdrehen waren er und Hasard von einem Großteil der Crew umringt. Natürlich war Old Donegal der erste, der am „Schauplatz“ eintraf. Keine Macht der Welt, nicht einmal eine Schar barbusig hinter der Kimm hervorlugender und ihm verführerisch zuwinkender Windsbräute hätten ihn jetzt zurückhalten können.
„Schön, Mister Pinewood“, erwiderte der Seewolf. „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew. Die Mannschaft dieses Schiffes setzt sich zu einem großen Teil aus Landsleuten zusammen, wie Sie bald feststellen werden. Wir sind unterwegs nach Island und haben den Sturm – im Gegensatz zu Ihnen – gut abwettern können, weil wir eine geschützte Bucht gefunden haben.“
Jerry Pinewood, der jetzt wieder seine eigene, längst getrocknete Kleidung trug, sah sich etwas betreten im Kreis der Arwenacks um. Zu Hasard gewandt, fuhr er fort: „Nun ja, Sir, ich – äh – mit unserem Schiff haben wir natürlich weniger Glück gehabt, das werden Sie sich schon gedacht haben. Wir wollten ebenfalls nach Island und sind auf offener See von dem Sturm überrascht worden …“
„Was ist mit dem Schiff geschehen?“ unterbrach ihn Hasard. „Waren Sie der einzige, der sich retten konnte?“
Pinewood senkte den Kopf. „Ich fürchte ja, Sir.“ Nach einem Moment des Schweigens blickte er wieder auf. „Es war furchtbar, Sir. Die ‚Mary of Grimsby‘ ist gekentert und gesunken. Wir haben zu dritt versucht, das kleine Beiboot schwimmend zu erreichen, aber nur mir ist es schließlich noch mit letzter Kraft gelungen. Von da an fehlt mir jeder Zeitbegriff. Ich kann nicht einmal sagen, wie viele Stunden ich völlig erschöpft im Boot zugebracht habe.“
Hasard nickte. „Darf man fragen, was die ‚Mary of Grimsby‘ für ein Schiff war?“
„Natürlich, Sir. Es war eine kleine, leider schon etwas altersschwache Karacke, der Kapitän hieß John McTraven. Vielleicht haben wir der alten ‚Mary‘ mit der Fahrt durch das Nordmeer doch etwas zuviel zugemutet.“
„Was war das für eine Fahrt?“ fragte Hasard. „War die ‚Mary of Grimsby‘ ein Handelsschiff?“
Diese Frage des Seewolfs schien Jerry Pinewood etwas ungelegen zu sein. Nachdem er einen Blick auf die Männer geworfen hatte, die das Gespräch mit offensichtlichem Interesse verfolgten, zuckte er verlegen mit den Schultern.
„Das – das ist eine Frage, Sir, die ich Ihnen gern unter vier Augen beantworten würde“, sagte er.
Der Seewolf lächelte. „Nun, Mister Pinewood, wenn die ‚Mary of Grimsby‘ nicht gerade in einer geheimen, von der Königin angeordneten Mission unterwegs war, können Sie ohne weiteres in Gegenwart meiner Männer darüber reden. Dieses Schiff hier gehört uns gemeinsam, und wir haben keine Geheimnisse voreinander.“
Pinewood sah Hasard verblüfft an. „Aber Sie – Sie sind doch der Kapitän, Sir, und damit obliegt Ihnen die alleinige Entscheidungsbefugnis.“
Hasard lächelte wieder. „Natürlich gesteht mir die Crew eine gewisse Entscheidungsbefugnis zu, weil das viele Dinge vereinfacht. Aber wo immer es möglich ist, entscheiden wir gemeinsam – ganz einfach durch Abstimmung.“
„Hm“, murmelte Pinewood und konnte seine Verwunderung kaum verbergen. „Das erleichtert es mir nicht gerade, Ihre Frage nach dem Zweck der Islandreise zu beantworten. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber die Angelegenheit ist auch nach dem Untergang der ‚Mary of Grimsby‘ für mich von besonderer Bedeutung.“ Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
Der Seewolf verschränkte die Arme vor der Brust.
„Sie können völlig offen mit uns reden Mister Pinewood. Was ich weiß, dürfen auch meine Männer wissen. In unserer Mannschaft herrscht gegenseitiges Vertrauen. Aber tun Sie mir einen Gefallen: Betrachten Sie meine Frage nicht als Teil eines Verhörs. Sie können sich an Bord unseres Schiffes als freier Mann fühlen und brauchen meine Frage selbstverständlich nicht zu beantworten, wenn Sie das nicht wünschen. Niemand wird Sie zu etwas drängen.“
Der tiefe Seufzer, den Old Donegal in diesem Augenblick ausstieß, zwang den meisten Arwenacks ein Grinsen ins Gesicht. Edwin Carberry jedoch konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
„Unser Kapitän hat völlig recht, Mister“, sagte er. „Bei uns wird nicht gedrängelt. Schließlich sind wir ja nicht neugierig wie die Waschweiber. Jawohl – nicht ein bißchen sind wir neugierig.“ Dabei veranschaulichte er mit Daumen und Zeigefinger die Winzigkeit des Bißchens.
Old Donegal konnte nur mühsam ein qualvolles Stöhnen zurückhalten. Am liebsten hätte er sein Holzbein abgeschnallt und dem Profos an den kantigen Schädel geworfen. Er setzte sich jedoch rasch wieder über diese Anwandlung hinweg, kriegte sogar einen scheinheiligen Blick zustande und sagte: „Was ist denn das – Neugierde, he? Ist das etwas zu essen?“
Dem sich seit Sekunden anbahnenden Gelächter stand jetzt nichts mehr im Wege.
Nur Jerry Pinewood lachte nicht mit. Er schien wegen der Frage des Seewolfs noch mit sich zu ringen. Doch dann sagte er schließlich: „Nun gut, ich werde mich den Gepflogenheiten an Bord Ihres Schiffes selbstverständlich anpassen. Außerdem bin ich Ihnen ja noch einiges schuldig, wenn ich bedenke, daß ich ohne Ihre Hilfe nicht hier stehen würde. Vielleicht ist das, was ich zu sagen habe, sogar eine Möglichkeit, meinen Dank an alle abzustatten.“
„Welch schwülstige Rede“, flüsterte Big Old Shane dem neben ihm stehenden Ferris Tucker zu. „Man meint fast, der Bursche hätte einige Säcke voll Gold zu verteilen.“
Doch wenige Atemzüge später registrierte der frühere Schmied von Arwenack Castle mit Verblüffung die Geschichte, mit der der Mann aus Grimsby herausrückte.
„Nun, Sir“, fuhr Jerry Pinewood fort, „ich beginne am besten ganz von vorn. Genauer gesagt in Grimsby. Ich war für einige Wochen zu Hause und hatte noch nicht die rechte Lust, wieder auf einem Schiff anzuheuern. Die Tage aber vertrieb ich mir zum Teil in der Kneipe des alten McKayne bei Dünnbier und Brandy. McKayne war irgendwann in Grimsby gestrandet, und niemand wußte so recht, woher er stammte. Es hieß, er sei Schotte und früher zur See gefahren. Nun, Sir, mir war das eigentlich auch völlig gleichgültig, und ich zerbrach mir darüber wirklich nicht den Kopf. Doch eines Tages – ich war spät in der Nacht noch der einzige Gast im Schankraum – setzte sich der alte McKayne zu mir und fragte mich, ob ich als junger Mann nichts Besseres zu tun wüßte, als in der Kneipe herumzuhocken. Er, zum Beispiel, hätte einen lohnenden Auftrag für mich …“
„Aha!“ entfuhr es Old Donegal. „Jetzt kommt’s.“
Jerry Pinewood lächelte flüchtig und nickte.
„Ja – jetzt kommt die eigentliche Geschichte. Im Verlauf des Gesprächs vertraute mir McKayne nämlich an, daß er vor Jahren auf einem Schiff gefahren sei, das nicht nur dem Abschluß ehrlicher Geschäfte gedient habe. Mit anderen Worten – es war ein Piratenschiff gewesen. Die Beute aber sei an verschiedenen Orten versteckt worden. Eins dieser Verstecke sei ihm, McKayne, bekannt. Er sei selbst dabeigewesen, als man drei Kisten mit Goldmünzen in einer Höhle an der Südostküste Islands versteckt habe. Kurz darauf sei das Schiff in der Karibik beim Kampf gegen eine spanische Galeone gesunken, und er habe das Unglück als einziger – wenn auch schwer verwundet – überlebt.“
Hasard hatte noch immer die Arme vor der Brust verschränkt.
„Bis jetzt kann man diesem Bericht einen logischen Zusammenhang nicht absprechen“, sagte er. „Den Rest kann man sich fast schon denken. Aber führen Sie Ihren Bericht ruhig zu Ende. Mister Pinewood.“
Der Mann aus Grimsby räusperte sich.
„Da gibt es nicht mehr viel zu berichten, Sir. McKayne genas von seinen Verletzungen, aber eine starke körperliche Beeinträchtigung blieb zurück. Er fuhr nicht mehr zur See, und das Schicksal verschlug ihn nach Grimsby. Da er nicht mehr der Jüngste war und ihm einige weitere Gebrechen zusetzten, suchte er jemanden, der die drei Kisten bergen und ihm eine davon abtreten würde. Nun, Sir, ich fand dieses Angebot nicht unfair, obwohl ich zunächst sehr an seiner Geschichte zweifelte. Als er aber einen entsprechenden Lageplan vorzeigte, sah ich keinen Grund mehr, dem Mann nicht zu glauben. Ich wurde mit ihm einig, und wir begossen die Sache natürlich mit einigen Brandys. Bereits einige Tage danach stieß ich auf John McTraven und seine altehrwürdige ‚Mary of Grimsby‘. Er war nicht abgeneigt, nach Island zu segeln, und wir einigten uns schließlich folgendermaßen: Eine Kiste für den alten McKayne, eine für McTraven und seine wenigen Mannen und eine für mich. Doch das Schicksal wollte es anders, denn wenige Tage, bevor wir den Anker lichteten, fand man den alten McKayne tot in seinem Bett. Er war am Schlagfluß gestorben. Da er keine Angehörigen hatte, sorgten McTraven und ich für sein Begräbnis und beschlossen, an dem gemeinsamen Plan festzuhalten. Der Inhalt der drei Kisten sollte nun einfach in zwei Teile geteilt werden. Das war alles. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja bereits.“
Der Seewolf zeigte ein nachdenkliches Gesicht.
„Und jetzt hat sich durch den Verlust der ‚Mary of Grimsby‘ Ihr Plan zunächst einmal völlig zerschlagen, nicht wahr?“
Pinewood zuckte hilflos mit den Schultern. „Nun ja, Sir, ich …“
„Ich weiß“, unterbrach ihn Hasard, „Sie haben uns die Geschichte erzählt, weil Sie im stillen hoffen, daß wir jetzt die Funktion der ‚Mary of Grimsby‘ übernehmen.“
„So ist es“, bestätigte Pinewood. „Ich – ich dachte, da Sie ohnehin nach Island segeln, ließe sich das eine mit dem anderen verbinden. Für mich wäre das, nach allem, was bisher passiert ist, eine Fügung des Schicksals, und ich wäre gern bereit, Ihnen und Ihrer Mannschaft zwei Drittel des Schatzes zu überlassen. Es würde mich freuen, wenn ich mich damit ein bißchen für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen könnte.“
Unter den Arwenacks setzte augenblicklich Gemurmel ein. Einige schienen an der Geschichte des Schiffbrüchigen zu zweifeln, andere meinten, zwei Kisten Goldmünzen könne man ja im „Vorbeisegeln“ mitnehmen.
Edwin Carberry und Old O’Flynn aber sagten noch gar nichts. Während sich der eine die Bartstoppeln rieb und anschließend ausgiebig am Hinterkopf kratzte, als könne das den Gedankenfluß beschleunigen, starrte der andere mit einer tiefen Falte auf der Stirn über die Wasserfläche.
Carberry rang sich schließlich zu einer Frage durch: „Wie groß sollen die Kisten denn sein?“
Jerry Pinewood zuckte mit den Schultern. „McKayne sprach von großen Kisten. Manchmal sprach er auch von Truhen.“
„Hm“, äußerte der Profos, „da müßte ja einiges an Goldmünzen hineinpassen.“
Old Donegal aber schien irgendwo in der Ferne den Fingerzeig eines Wassermannes wahrgenommen zu haben und wiegte mit skeptischem Blick den Kopf hin und her.
„Ich weiß nicht recht“, sagte er. „Wir haben zwar schon manchen Schatz geborgen, aber ohne Stunk ist das nie abgegangen. Wenn wir ein paar schöne Tage im Isafjord erleben wollen, sollten wir besser die Finger von dem ganzen Klunkerkram lassen und Mister Pinewood irgendwo auf Island an Land setzen, damit er die Möglichkeit hat, sich anderweitig um die Bergung des Schatzes zu bemühen – sofern es diesen überhaupt gibt.“
Von einigen Männern erntete Old O’Flynn Zustimmung, dennoch waren die Meinungen nach wie vor geteilt.
„Ihre Schilderung hörte sich ganz überzeugend an, Mister Pinewood“, sagte der Seewolf. „Nur haben Sie selber die Kisten natürlich noch nicht gesehen. Das heißt, Sie vertrauen auf das, was Ihnen McKayne vor seinem Tod mitgeteilt hat.“
„Das stimmt, Sir“, entgegnete Pinewood. „Aber warum hätte mich der alte Mann belügen sollen? Meiner Meinung nach war er völlig glaubwürdig. Das fand auch Mister McTraven, der Kapitän der ‚Mary of Grimsby‘, sonst hätte er sich wohl niemals auf das Unternehmen eingelassen.“
Dem konnte auch Hasard schlecht etwas entgegenhalten – vorausgesetzt, die ganze Geschichte, die Pinewood erzählt hatte, entsprach der Wahrheit. Andererseits gab es auch keinen Grund für den Mann aus Grimsby, ihnen eine Lügengeschichte aufzutischen – ganz davon abgesehen, daß Pinewood einen zuverlässigen und glaubwürdigen Eindruck erweckte.
„Sie erwähnten einen Lageplan“, sagte der Seewolf. „Ich nehme an, daß er zusammen mit der ‚Mary of Grimsby‘ im Nordmeer versunken ist.“
Jerry Pinewood schüttelte den Kopf. „Keineswegs, Sir, ich habe ihn bei mir.“ Er fingerte an einem kleinen Ledertäschchen herum, das an der Innenseite seines Gürtels befestigt war und zog dann einen mehrfach zusammengefalteten Bogen hervor.
„Die Skizze war zwar durchnäßt“, fügte er hinzu, „aber das hat ihr nicht sonderlich geschadet.“ Er entfaltete den Bogen und reichte ihn dem Seewolf.
Die Debatten der Arwenacks verstummten, als sich Hasard den Plan mit zusammengekniffenen Augen ansah.
„Dieser Skizze nach müßten die Höhlen in der Tat bei Höfn an der Südostküste zu finden sein“, sagte er nach kurzer Zeit. „Zwischen schmalen Landzungen gibt es eine Einfahrt in eine ziemlich große Bucht. Von dort aus sind die Höhlen zu erreichen. Die Örtlichkeiten dürften mit unseren Seekarten durchaus übereinstimmen.“
Die Arwenacks horchten auf.
„Sollten wir uns deiner Meinung nach darauf einlassen, Sir?“ fragte Nils Larsen, der blonde Däne.
Hasard faltete den Plan zusammen und lächelte.
„Bis jetzt haben wir keine Veranlassung, Mister Pinewood nicht zu glauben“, sagte er. „Da wir ohnehin Island ansteuern, dürfte weder ein vorhersehbares Risiko noch ein besonders großer Zeitverlust mit der Angelegenheit verbunden sein. Der Umweg ließe sich meiner Meinung nach verkraften. Nur würde ich dann vorschlagen, die Münzen, die es dort geben soll, nicht wie von Mister Pinewood freundlicherweise angeboten, zu zwei Dritteln zu übernehmen, sondern nur zur Hälfte – so wie er das ursprünglich mit dem Kapitän der ‚Mary of Grimsby‘ vereinbart hatte. Allerdings sollten wir noch durch eine Abstimmung darüber befinden, ob wir uns überhaupt auf das Unternehmen einlassen wollen oder nicht.“