Seewölfe Paket 31

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Die Männer sahen sich suchend um, aber der Mann aus Grimsby war nirgends zu sehen.
Ferris lachte schließlich. „Wahrscheinlich ist er in der Höhle geblieben, weil er sich nicht von seinem Schatz trennen konnte.“
Mit Ausnahme der Wachtposten gingen die Mannen in die Höhle zurück. Das fahle Licht der Tranlampe, die immer noch bei den geborgenen Schatzkisten brannte, zeigte ihnen den Weg.
„Jerry, wo bist du?“ rief Dan.
Aber es gab keine Antwort.
Wenig später stoppten die Männer abrupt ihre Schritte. Ihren Augen bot sich ein erschreckendes Bild. Unmittelbar vor ihnen lag einer der Nordmänner. Er war tot. Einige Schritte von ihm entfernt lag der Mann aus Grimsby, sein Körper war seitlich über eine der Schatzkisten gebeugt. In seiner rechten Hand hielt er noch die Steinschloßpistole – und aus seiner Brust ragte der Schaft eines Messers.
„Armer Kerl“, sagte der Profos mit leiser Stimme. „Der Schnapphahn muß sich während des Kampfgetümmels in die Höhle geschlichen haben, nachdem er draußen am Eingang die Kiste gesehen hat. Während er sein Messer nach Pinewood warf, hat dieser die Pistole abgefeuert.“
Eine andere Erklärung fanden die Arwenacks nicht. Sie bedauerten den Tod Jerry Pinewoods ganz besonders – gerade jetzt, da er sein Ziel nach vielen Schwierigkeiten und Gefahren erreicht hatte.
„Wir können den Lauf der Dinge nicht ändern“, sagte Hasard schließlich. „Am besten, wir begraben ihn hier in der Höhle, an deren Existenz er fest geglaubt hatte.“
Die Männer nickten zustimmend. Nachdem sie dem Mann aus Grimsby den letzten Dienst erwiesen hatten, brachten sie die beiden Kisten hinaus und stellten sie neben die erste.
Die Mannen waren sich darüber im klaren, daß ihnen der Rückmarsch zur großen Bucht durch den Transport der drei Schatzkisten einiges an Kraft abverlangen würde. Hinzu kam, daß sie jederzeit damit rechnen mußten, Ziel eines weiteren Überfalls zu werden. Dennoch brachen sie sofort auf, fest entschlossen, die Goldmünzen, die Jerry Pinewood kein Glück beschert hatten, an Bord ihres Schiffes zu bringen.
9.
Die Sonne neigte sich langsam der westlichen Kimm zu, das Blau des Himmels spiegelte sich im klaren Wasser der Bucht. Die Schebecke der Seewölfe schwoite an der Ankertrosse, nichts deutete auf irgendwelche Schwierigkeiten hin.
Die Augen Ben Brightons und der übrigen Männer tasteten immer wieder das Ufer ab – besonders jene Stelle, an der ihre Kameraden an Land gegangen waren.
„Sie müßten längst zurücksein“, murmelte Old Donegal, der mit finsterer Miene am Backbordschanzkleid stand. Zuvor war er – von düsteren Ahnungen getrieben – ruhelos auf und ab gewandert.
„Vielleicht hat sich der Lageplan als Trugschluß erwiesen“, meinte er, „oder er war zu ungenau, und unsere Leute vertun jetzt nur ihre Zeit mit unnützem Suchen.“
Old O’Flynn fand noch tausend andere Gründe dafür, daß Hasard noch nicht mit seinem kleinen Trupp zurückgekehrt war.
„Jetzt reiß dich mal zusammen, Donegal“, sagte Ben Brighton, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. „Was soll in dieser gottverlassenen Gegend schon passieren? Hier gibt’s doch weit und breit keine Menschenseele.“
Big Old Shane pflichtete ihm bei.
„Hasard weiß schon, was er tut“, sagte er. „Entweder unsere Leute finden den Schatz, oder sie finden ihn nicht. Wenn nicht, dann haben sie eben Pech gehabt – vor allem unser Mister Pinewood.“
Wenn Ben und Shane jedoch geglaubt hatten, den Alten damit besänftigt zu haben, war das ein Trugschluß. Old Donegal wurde zusehends nervöser und – da nichts geschah – auch grantiger. Noch eine halbe Stunde mußten die Arwenacks seine Laune ertragen, dann veränderte sich die Situation schlagartig.
In der Ferne war plötzlich das dumpfe Grollen von Schüssen zu hören, leise zwar, aber immerhin deutlich wahrnehmbar. Nach wenigen Augenblicken wiederholten sich die Geräusche, von dann an war es wieder so still wie zuvor.
Old Donegals Blick wurde wild. „Was habe ich euch gesagt? Irgend etwas stimmt da nicht. Selbst mein Holzbein hat es gemerkt und schon gekribbelt. Nur euch Kohlköpfen fehlt jedes – äh – geistige Wahrnehmungsvermögen!“
„Nun bleib aber auf den Planken, Donegal“, sagte Big Old Shane. „Wir haben die Schüsse ebensowenig verschlafen wie du. Wenn du sie im Geiste wahrgenommen hast – bitte. Bei uns lief das auf ganz herkömmliche Art – mittels der Ohren.“
„Shane hat recht“, mischte sich Ben ein. „Außerdem sollten wir jetzt unsere Zeit für etwas anderes nutzen, als für sinnlose Debatten. Die Schußgeräusche lassen in der Tat darauf schließen, daß wir wohl doch nicht die einzigen Menschen in dieser Felsenlandschaft sind. Um Überraschungen irgendwelcher Art vorzubeugen, schlage ich vor, daß wir das Schiff gefechtsklar machen. Sollte sich das als überflüssig erweisen, kann es uns nur recht sein.“
Im Handumdrehen gerieten die Männer in Bewegung. Weitere Befehle waren nicht notwendig, jeder wußte, was zu tun war.
In kürzester Zeit wurden unter der Aufsicht Al Conroys die Stückpforten geöffnet und die insgesamt zwölf Culverinen ausgerannt. Mac Pellew und der Kutscher brachten aus der Kombüse die kleinen gußeisernen Becken mit glühenden Holzkohlen und verteilten sie auf die Geschütze. So waren die Mannen in der Lage, das Zündkraut jederzeit in Brand zu setzen.
Philip und Hasard, die Zwillinge, streuten Sand auf den Planken aus, um den Füßen der Männer im Falle eines Kampfes besseren Halt zu geben. Daneben wurden Musketen und eine Anzahl Tromblons an Deck gebracht, die wegen ihrer trichterförmigen Läufe eine verheerende Streuwirkung hatten.
Nachdem die Gefechtsvorbereitungen abgeschlossen waren, gingen die Männer auf Stationen – wenn zunächst auch überflüssigerweise. In der Bucht herrschte wieder die gewohnte Stille, weitere Schußgeräusche waren nicht mehr zu hören. Auch sonst geschah nichts, was auf Gefahr hindeutete.
Die Geduld der Arwenacks wurde weiterhin auf die Probe gestellt. Die Zeit verrann, die Sonne sank tiefer, und über den Masttoppen der Schebecke kreisten hungrige Möwen.
Philip junior war schließlich der erste, der oben an dem geröllübersäten Hang, zu dessen Füßen das Boot des Landtrupps lag, eine Bewegung wahrnahm.
„Ich glaube, es tut sich was!“ rief er und deutete hinüber zum Ufer.
Er hatte sich nicht geirrt. Zunächst tauchte der Seewolf aus dem Schatten des Gesteins hervor, dann folgten die anderen – immer zwei Männer nebeneinander, weil sie in ihrer Mitte eine Art Truhe schleppten. Und sie hatten es offensichtlich eilig.
„Bei allen Wassermännern und Meerjungfrauen!“ rief Old Donegal erfreut. „Sie haben die Kisten wirklich gefunden! Habe ich nicht gleich gesagt, daß sie nicht ohne das Zeug zurückkehren werden?“
Ben Brighton atmete tief durch.
„Ich hätte nicht wenig Lust, mein lieber Donegal“, sagte er, „dir mit der Bestätigung von Zeugen aufzuzählen, was du alles gesagt hast …“
„Das ist wirklich nicht nötig“, unterbrach ihn der Alte ohne jeden Skrupel. „Ich hab’s auch so noch im Kopf.“
„Wo ist Jerry Pinewood?“ fragte Al Conroy. „Er ist nicht bei unserem Trupp.“
Niemand wußte eine Antwort darauf.
Der Seewolf winkte zur Schebecke hinüber, die Mannen winkten zurück. Dennoch konnten sie sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Kameraden es verdammt eilig hatten, wieder an Bord zu gelangen.
Sie schoben das Boot ins Wasser, luden die Schatzkisten ein und nahmen selber auf den Duchten Platz. Mit kräftigen Riemenschlägen pullten sie auf die Schebecke zu.
Natürlich hatten sie längst registriert, daß sich der Segler im Zustand der Gefechtsbereitschaft befand.
Nachdem sich Hasard und seine Begleiter samt Schatzkisten an Bord befanden, wurde das Boot wieder auf gehievt.
„Wir haben Schüsse gehört“, berichtete Ben Brighton dem Seewolf, „deshalb haben wir entsprechend vorgesorgt. Wo ist der Mann aus Grimsby?“
„Er ist tot“, erwiderte Hasard mit erstem Gesicht, dann schilderte er in kurzen Worten, was sich innerhalb und außerhalb der Schatzhöhle zugetragen hatte.
Er hatte seinen Bericht noch nicht beendet, als sich das friedliche Bild der Bucht jäh wandelte.
Wie hingezaubert, schoben sich an ihrem anderen Ende zwei Segler hinter einer Felswand hervor. Sie verdeckte – wie die Arwenacks jetzt begriffen – die Einfahrt zu einer weiteren Bucht. Hasard vermutete hinter ihr allerdings ein ganzes Labyrinth von kleinen Buchten.
Bei den Schiffen handelte es sich um eine zweimastige Schaluppe und eine kleine Karavelle, an deren Steuerbordseite eine geöffnete Stückpforte zu erkennen war.
Bemannt waren die Segler mit Kerlen, die die gleichen roten Umhänge mit dem Raben-Emblem trugen wie jene mordlüsternen Burschen, von denen die Arwenacks vor der Höhle überfallen worden waren.
Wie deutlich zu erkennen war, bemühten sich die Kerle, so rasch wie möglich auf Parallelkurs zueinander zu gehen und in ihrer Mitte einen größeren Abstand zu halten.
„Die wollen uns in die Zange nehmen und dann entern“, sagte der Seewolf trocken. „Diese Suppe werden wir ihnen jedoch versalzen.“
Inzwischen war tatsächlich erkennbar, daß die merkwürdig anmutende Horde mangels ausreichender Geschütze auf den Enterkampf setzte.
Die Arwenacks waren längst dabei, den Anker zu hieven und die Segel zu setzen. Wie sie mit zufriedenem Grinsen feststellten, konnten sie aufgrund der günstigeren Windverhältnisse die Luvposition nutzen. Die wendige Schebecke nahm rasch Fahrt auf.
„Wir werden genau zwischen die beiden Kähne stoßen“, sagte Hasard, „und zwar so schnell, daß ihnen keine Zeit mehr verbleibt, die Zange zu schließen.“
Edwin Carberry rieb sich unternehmungslustig die Pranken. „Wenn wir die Affenärsche von Bord pusten, können sie beim Davonfliegen ihre roten Mäntelchen als Segel benutzen.“
Er hatte wie Old Donegal eine der beiden Heckdrehbassen übernommen. Juan de Alcazar und Piet Straaten waren bereit, die schwenkbaren Geschütze auf dem Vorschiff zu bedienen.
Die Schebecke glitt durch das ruhige Wasser der Bucht, daß den bärtigen Kerlen die Augen übergingen.
Ein großer, breitschultriger Mann, der auf dem Achterdeck der Karavelle stand – es handelte sich offenbar um den Oberschnapphahn –, brüllte pausenlos Befehle, die immer wieder von wilden Flüchen begleitet wurden.
Er fuchtelte dabei mit einem riesigen Schwert herum und sparte auch nicht mit Fußtritten, um seine Kerle zu größerer Eile anzufeuern. Er hatte wohl die Absicht der Seewölfe erkannt und wollte deren Strategie um jeden Preis verhindern.
Aber das schaffte der bärtige Egill nicht. Seine Beuteschiffchen waren nicht schnell genug.
Die Schebecke stieß wie ein angriffslustiger Schwan zwischen die beiden Segler. Während auf deren Decks Musketenfeuer einsetzte, hob Hasard die Hand und donnerte: „Beide Seiten – Feuer frei!“
Die glühenden Kohlestücke setzten das Zündkraut der schweren Culverinen in Brand, das Feuer fraß sich blitzschnell durch die Zündkanäle, und dann brach in der einsamen Bucht urplötzlich die Hölle los.
An Backbord und Steuerbord der Schebecke leckten grelle Feuerzungen aus den Mündungen, ein infernalisches Brüllen und Fauchen erfüllte die Luft und ließ das Schiff bis in die letzten Verbände erzittern. Schwarzer Pulverdampf wölkte auf und verbreitete einen beißenden Geruch.
Die Schaluppe wie auch die kleine Karavelle wurden nahezu gleichzeitig wie von unsichtbaren Fäusten durchgeschüttelt. Ein ohrenbetäubendes Krachen, Bersten und Splittern folgte dem Kanonendonner und ließ einen Trümmerregen über der gesamten Umgebung niedergehen.
Auch die Arwenacks mußten die Köpfe einziehen, um nicht unversehens von einem Stück Holz erwischt zu werden.
Nachdem die Culverinen auf ihren Holzlafetten zurückgerollt und von den Brooktauen aufgefangen worden waren, konnte man deutlich die riesigen schwarzen Löcher erkennen, die in den Bordwänden der Schiffe des Gegners klafften, und zwar fast alle unterhalb der Wasserlinie. Dafür hatten Al Conroy und die Mannen an den Geschützen gesorgt.
Noch während unter den wenigen Kerlen, die das Inferno überstanden hatten, völlige Wuhling herrschte, begannen die Drehbassen der Arwenacks zu wummern. Die Schebecke war jetzt zwischen den beiden Wracks hindurchgeschlüpft, noch nahe genug, damit die Brand- und Pulverpfeile Batutis und Big Old Shanes ihre Ziele fanden.
Wenig später standen die Segel beider Schiffe in hellen hochauflodernden Flammen.
Die „Schwarzen Raben“, hatten aus Beutegründen ein Entern der Schebecke geplant. Doch sie waren vom schnellen Abwehrschlag der Seewölfe dermaßen überrascht worden, daß sie noch nicht einmal eine ihrer beiden winzigen Kanönchen hatten abfeuern können. Und jetzt hatten sie dazu keine Gelegenheit mehr. Die Wracks krängten bereits stark über und würden innerhalb kürzester Zeit im Wasser der großen Bucht versinken.
Die Arwenacks sahen noch, wie der Anführer der Bande versuchte, an den Resten des Schanzkleides vom Achterdeck der Karavelle zur Kuhl hinunterzuhangeln. Es gelang ihm nicht mehr. Er wurde unter brennend niederstürzenden Rahruten und Segeln begraben.
Die Seewölfe hatten zwar geplant, den Schnapphähnen nach einer Wende einen weiteren Denkzettel zu verpassen, aber das erwies sich als überflüssig. Sowohl die Schaluppe als auch die Karavelle versanken in den Fluten, noch bevor die Arwenacks ihr Wendemanöver ausführten.
„Schade, daß der Mann aus Grimsby in dieser Einöde zurückbleiben muß“, sagte Carberry kurze Zeit später mit ernstem Gesicht. „Ich hätte ihm seine Goldklunkerchen wirklich gegönnt.“
Er sprach damit das aus, was alle Arwenacks empfanden, als die Schebecke durch die torähnliche Einfahrt der Bucht glitt und die offene See erreichte.
Auch diesmal waren die Seewölfe von der wilden Schönheit des Isafjords überwältigt, der tief in die Nordwesthalbinsel Westfjorde hineinragte – gesäumt von hohen, schnee- und eisbedeckten Bergen.
„Irgendwie kann ich ein bißchen verstehen, daß Thorfin in dieser Landschaft jenes sagenumwobene Thule gesucht hat“, sinnierte Old O’Flynn. „Wenn man nicht aufpaßt, kann man sich in diese Gegend verknallen.“
„Wenn es nur um die Gegend geht, hat keiner was dagegen“, meinte der Profos. „Wie du jedoch weißt, hat es in diesem lieblichen Fjord schon mehrmals ‚geknallt‘, aber von ganz anderer Art. Eins dieser Knallergebnisse sitzt als sehnsüchtig schmachtendes Eheweib unseres lieben Freundes Thorfin Njal in der Karibik und zerbricht sich den hübschen rotblonden Kopf darüber, wie sie dem Herrn Gemahl bei seiner Rückkehr das Leben versüßen könnte.“
Old Donegal grinste. „Ich bin gespannt, wann es endlich mal bei dir knallt, Ed.“
Der Profos tat, als habe er diese Äußerung des alten Haudegens überhört. Schließlich waren diese Fjordgewässer nicht ganz ungefährlich, und da mußte man schon ein wenig auf Unterwasserklippen und Verwirbelungen achten, die von den zufließenden Gebirgsbächen erzeugt wurden.
Die Fahrt verlief dennoch ohne Schwierigkeiten, und endlich erreichten die Seewölfe die an der südlichen Flanke des Isafjords abzweigenden kleineren Fjorde, zu der auch der Skutulsfjord gehörte. In diesem lag von der Einfahrt her gesehen an Steuerbord auf einem Hügel der Hof der Thorgeyrs.
Natürlich gab es einen gewaltigen Begrüßungsaufmarsch am Ufer, als die Schebecke der Arwenacks in der Nähe des Schwarzen Seglers vor Anker ging. Nahezu alle liefen sie dort zusammen: Thorfin Njal und seine Mannen, Siri-Tong und die Bewohner des Hofes – alle überragt von der riesigen Gestalt Ase Thorgeyrs, des Bruders von Gotlinde.
„Hallo, Ed, altes Rübenschwein!“ brüllte Thorfin mit Donnerstimme.
„Verschluck dich nicht an deinem eigenen Gebrüll, du Polarschrat!“ rief Edwin Carberry nicht weniger liebevoll zurück.
Diesmal achtete kaum jemand auf den Stör, der mit seinen Wiederholungen kaum nachkam: „Rübenschwein – Gebrüll – Polarschrat …“
Die nächsten Tage gestalteten sich zwangsläufig zu regelrechten Festtagen. Soviel Leben auf einmal hatten die Hofbewohner schon lange nicht mehr gesehen. Da auf dem Hof alles in Ordnung war, hatten die Thorgeyrs Grund genug, guter Dinge zu sein und sich über den seltenen Besuch zu freuen.
Doch der Tag, an dem sich zumindest die Wege der beiden Schiffe vorerst wieder trennen sollten, rückte unausweichlich heran. Während die Seewölfe noch einmal zurück nach London wollten, beschloß der Wikinger, noch ein paar Tage auf dem Hof zu bleiben. Danach stand die Rückfahrt nach Bergen bevor, wo er die bestellte Ladung Eisenerz an Bord nehmen wollte, um sie in die Karibik zu bringen. Dort war auch das nächste Zusammentreffen mit den Arwenacks geplant.
Da ein Abschied natürlich angemessen gefeiert werden mußte, dauerte das seine Zeit. Als die Arwenacks schließlich zu ihren Booten marschierten, um zur Schebecke überzusetzen, hatte manch einer von ihnen einen wehmütigen Blick drauf. „Ich weiß nicht, Sir“, sagte Carberry und plierte zu den schroffen Steilwänden hoch, „irgendwie habe ich das Gefühl, daß die Dinger ein bißchen schwanken. Könnte das an einem Erdbeben liegen?“
„Kann sein“, erwiderte Hasard. „Der isländische Branntwein soll, wie man hört, schon so manches schwere Beben verursacht haben …“
ENDE

1.
Das Allerschlimmste, so hoffte Philip Hasard Killigrew, hatten die Crew und das Schiff jetzt überstanden.
Wind und See hatten die Arwenacks in Island nicht gerade verwöhnt. Die Fallwinde, die in großer Geschwindigkeit orgelnd die Steilhänge der Fjorde hinunterbrausten und Felsen, Steintrümmer und Sand mit sich schleppten, waren ebenso unangenehm und gefährlich wie die häufigen und überaus heftigen Regenfälle. Es war, als ob wahre Wasserfälle aus den daherwalzenden Wolken auf Landschaft und Schiff niederprasselten.
Die Abschiedsfeste des „nordischen Trolls“ Thorfin Njal würden den Seewölfen zwar lange in Erinnerung bleiben, aber sie stellten keinen Ersatz für Sonnenschein, ruhige See und schnelles Segeln dar.
Kaum hatten die Arwenacks die Winde und Klippen des Isafjords hinter sich gebracht, hart gegen den Westwind ansegelnd, da brachen die Riesenwellen über sie herein. Die Schebecke hatte wilde Tänze aufgeführt, aber sie schafften es, sich gut von den Felsklippen freizuhalten.
Dann erfuhren sie wieder einmal, wie stark die magnetische Nadel des Kompasses abgelenkt wurde – bis zu zwei Strich betrugen die Mißweisungen. Diese Eigentümlichkeit kannten die Rudergänger bereits. Auf der Fahrt nach Island hatte der Kompaß auch schon verrückt gespielt.
Auch am nächsten Morgen, als die Schebecke bei Westwind nach Süden segelte, rauschten zusammen mit den breiten Wellen schwarze Wolken heran, aus denen Regengüsse peitschten. Zwischen den langen Stunden schlechten Wetters rissen die Wolken nur kurz auf und überschütteten das Meer mit breiten Balken aus Sonnenlicht.
Es schien nur wenige Stellen in allen sieben Meeren zu geben, an denen das Wetter sich derartig wild zeigte – und fast immer eine Herausforderung an Kapitän und Mannschaft darstellte.
Auch die Fuglasker Barre, der Schrecken aller Islandfahrer, lag achteraus zurück: vierzig Meilen weit stießen die teils unsichtbare, teils sichtbaren Felsen wie ein mörderischer Kamm aus Klippen und Gischt im Südwesten der Insel in die offene See vor. Die messerscharfen Riffe bedeuteten den sicheren Tod für Schiff und Mannschaft. In einem weiten Bogen waren die Seewölfe um das Hindernis herumgesegelt.
Jetzt trieb der böige, starke Wind sie nach Osten. An Backbord lag die Südküste Islands, Brandungswogen und Gischt, dahinter die Strände und Felsen, darüber die Kulisse riesiger Berge und weißer Eisflächen. Wenn die niedrig treibenden Wolken und die Nebelmassen aufrissen, zeigten sich die Flammen und der Rauch der feuerspeienden Berge, über die furchterregende Berichte und Erzählungen überall auf der Insel zu hören waren.
„Ein Anblick zum Fürchten, dieser Vatnajökull!“ rief Hasard seinem Ersten zu. „Und wenn wir nicht von der Schwemmsandfläche wüßten …“
„Wir sind außerhalb, Sir!“ rief Ben Brighton zurück.
Von Deck aus waren die Schwemmsände nicht zu erkennen. Sie erstreckten sich zwischen sechs und zwanzig Meilen weit ins Meer hinaus. Zwischen Reykjavik und dem offenen Meer gab es weit und breit keinen schützenden Hafen an der gefahrstarrenden Südküste der großen Insel.
Wieder erfaßte ein „Röst“ das Schiff, eine Strömung, die die Schebecke weiter aufs Meer hinausjagte und schließlich an einem Unterwasserhindernis abriß. Eine riesige Kabbelsee bildete sich dort. Chaotische Wellen hielten das Schiff eine Viertelstunde lang in ihrer Gewalt und schüttelten es durch, schlimmer als in einem soliden Sturm. Ein Regenguß fegte von Westen heran und prasselte aufs Deck und in die hart gespannten Segel.
„Mindestens zwei Tage und zwei Nächte haben wir bis zu den Färöern noch vor uns“, sagte der Seewolf grimmig.
„Je weiter wir von dieser schauerlichen Küste weg sind, desto leichter haben wir’s“, antwortete Ben.
Die Männer hatten sich achtern an die Sorgleinen geknotet und warteten auf den Abend. Das Schiff hob und senkte sich, hob sich wieder, senkte sich abermals, in riesigen Wellen der Dünung, die von kochenden Kreuzseen unterbrochen wurden.
„Die Hekla“, meinte Hasard und zeigte zu dem unterbrochenen Flackern zwischen den dunklen Wolken. „Uns erwischt sie nicht mehr.“
„Dafür hat sie viele Isländer erwischt“, erinnerte ihn der Erste. „Im letzten Jahr war es wohl nur eine Erinnerung daran, daß der Feuerberg Menschen und Vieh tötet und alles zerstört.“
„Mir ist trotzdem nicht wohl, wenn ich die Hekla, die ‚Kapuzenträgerin‘, ansehen muß“, bekannte der Seewolf.
Viel hatten sie nicht über den Berg erfahren, der weißglühende Lava aus dem Inneren der Erde auswarf, vermischt mit riesigen Mengen feiner, schwarzer Asche, die sich erstickend auf Landschaft und das Wasser legte. Anno Domini elfhundertvier war von dem feuerspeienden Berg, der zur Sagengestalt mit der Kapuze aus schwarzem Rauch geworden war die Hälfte der Insel verwüstet worden. Drei weitere Ausbrüche, verteilt über mehr als hundert Jahre, erschreckten die Isländer, aber töteten sie nicht.
Aber jedesmal – erst vor knapp einem Jahr – zitterte der Boden. Das Eisgefüge brach donnernd auseinander. Hitze quoll aus dem Boden. Die Hekla warf ihre Kapuze ab und ließ Schnee und Eis schmelzen. Rauchschwaden verdunkelten das seltene Sonnenlicht. Giftige Luft kroch am Boden entlang und stank nach Fäulnis und dem Schwefel der Hölle.
„Dann schau nicht hin“, riet der Erste. „Sieh lieber nach, Sir, ob wir nicht die Westmännerinseln rammen.“
„Kaum. Wir sind zu weit draußen auf offener See“, sagte Hasard. „Surtsey müßte, wenn wir es überhaupt sehen, voraus an Backbord auftauchen.“
„Bei Bjarni Stangenhieb!“ brummte Stenmark, der am Ruder stand. „Wenn ich an die Wärme in der Karibik denke, dann werde ich noch seekrank.“
Ljot, der Ungewaschene, und Bjarni Stangenhieb, so wenig glaubhaft das auch klingen mochte, waren sagenhafte Gestalten, die es wirklich gegeben haben sollte, und auf die viele Isländer ihren Stammbaum gründeten.
„Bei Thors Hammer!“ Hasard lachte und zog das Spektiv aus der Tasche. „Ich sehne mich auch nach einem Palmenstrand. Aber, Freunde, bis dorthin ist es noch verdammt weit.“
Ben Brighton senkte den Kopf und federte die nächste Welle ab, von der das Heck der Schebecke weit in die Höhe gehoben wurde.
„Und davor liegen die furchtbaren Färöer – und London in seiner ganzen Schönheit!“ rief er. Es klang wie ein Vorwurf oder wie eine Beschwörung.
„Wir sind schneller dort, als du denkst“, schwächte der Seewolf ab.
Er ließ offen, ob er die Färöer, London oder die Karibik damit meinte.
Das Schiff segelte vor achterlichem Wind. Die schwere See verhinderte, daß die Geschwindigkeit zunahm. Stampfend und schlingernd bohrte die Schebecke den Bugspriet in die Wogen. Gischtendes Wasser zischte über die Planken und lief durch die Speigatten. Stunde um Stunde verging ohne jede Änderung. Die Wache wechselte, Stenmark am Ruder wurde abgelöst.