Seewölfe Paket 31

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„Halbwegs klar erkannt! Alles klar!“ brüllte Pete Ballie zurück. „Bald gibt es warme Suppe, Sir.“
Hasard schluckte herunter, was er am liebsten geantwortet hätte und versuchte wieder, mehr Einzelheiten zu erkennen. Inzwischen segelte die Schebecke in einem wilden Zickzackkurs dahin, der aber tatsächlich stur nach Ost wies.
„Liegen wir richtig?“ wollte Dan wissen und verstaute das Spektiv in der Jackentasche.
Der Fischer nickte heftig und hatte den Sinn der Frage wohl verstanden.
„Recht voraus. Der Kanal ist tief genug“, verstand der Seewolf.
Erst jetzt änderte sich die Natur der Wellen. Der Grund stieg an, und aus den ungezügelten Wogenmonstren wurden echte Brandungswellen, die mit jeder weiter zurückgelegten Kabellänge flacher wurden. Wasser verwandelte sich in Gischt und Schaum.
Die Dünen und die Deiche wurden zu schwarzen Mauern. Hinter ihnen tauchten tatsächlich einige blinkende Sterne auf. Jetzt mußten sie sich ganz anders orientieren: rechts und links der Kanaleinfahrt gab es breite, brodelnde Gischtstreifen und den Schaum der brechenden Brandungswellen.
Die beiden Rudergänger hielten genau auf diesen Zwischenraum zu. Die Schebecke wurde im flacheren Wasser und in den weniger hohen Wellen schneller und schneller, lag plötzlich weitaus ruhiger und näherte sich, Kabellänge um Kabellänge, der rettenden Einfahrt, dieser Schnittlinie zwischen drohender Zerstörung und einigermaßen ruhigem Fahrwasser.
„Ihr schafft es!“ schrie der Fischer und wedelte mit den Armen. „Ausgezeichnet!“
„Na ja“, meinte der Seewolf.
Fünf Dutzend schwere Atemzüge später war es soweit. Die Schebecke neigte sich bugwärts, richtete sich wieder auf und schoß, als rolle sie einen Hang hinunter, in den Kanal. Selbst der rasende Sturm schien hier viel von seiner Wirkung zu verlieren, jedenfalls wurden alle Geräusche weniger drohend und viel leiser.
„Geschafft!“ brüllte Hasards Sohn und riß einen Arm in die Höhe.
Schattenhaft huschten die Hügel, die Deiche und die Seezeichen vorbei. Eine Kabellänge weiter hatte sich das Wasser insoweit beruhigt, daß es zwar wütende kleine Wellen gab, die aber bestenfalls ein Drittel der riesigen Sturzseen erreichten. Zwischen leblosen, dunklen Deichen glitt das Schiff nach Osten und folgte einer ausgeschwungenen Kurve nach Steuerbord.
Hasard ließ die Spanntaue los, steckte die Finger in die Ohren und schneuzte sich dann geräuschvoll.
„Freunde“, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich überlaut, „wir haben wieder einmal dem Satan den Schwanz abgegeigt. Kutscher und Mac Pellew – ihr sorgt für ein ausgedehntes Essen und eine gehörige Portion an Wein, oder was immer noch zu finden ist. Sag’s ihnen, Dan.“
Dan O’Flynns weiße Zähne erschienen in der Düsternis des späten Abend.
„Tue ich, Sir.“
Der Profos und einige andere Gestalten, die vom Grätingsdeck aus nicht klar zu erkennen waren, tauchten auf und trugen angezündete Lampen in den Händen. Mit einem letzten Schütteln und Aufbäumen glitt die Schebecke in ruhiges Fahrwasser, blieb aber bei raumem Wind so schnell wie bisher.
„Du bist der Lotse, Fischer. Wie heißt du eigentlich?“ fragte Hasard und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
„Kristian Hausler nennt man mich. Haltet euch von den Kanalseiten frei, Kapitän …“
Hasard Philip Killigrew nannte seinen Namen und zwinkerte. Die Dunkelheit war fast vollkommen. Voraus tauchten einige gelbe Lichter auf, deren Widerschein auf den vielen steilen Wellen im Kanal blitzte und funkelte.
„Also“, fing Kristian an, „die drei anderen und ich, wir wohnen vor dem Dorf. Aber wir bleiben bei euch, ja, und wir sagen dem Schulzen, daß ihr uns gerettet habt.“
„Ein guter Vorschlag“, lobte grinsend der Seewolf. „Ich hoffe, daß es sich in Hoyer aushalten läßt. Gibt es dort einen guten – wie heißt er, einen Tischler? Schiffszimmermann?“
„Natürlich. Eine kleine Werft haben sie dort.“
„Noch besser“, brummte Pete Ballie. „Sie haben sich gleich einen guten Arbeitsauftrag eingehandelt. Nur wissen sie’s noch nicht.“
Zwischen den Deichen war der Sturm weniger stark und böig, aber immer wieder fuhr er in die knallenden Segel. Die Lichter wurden größer und rückten näher. Der Kanal verbreitete sich, und im Fahrwasser tauchten wieder weiß angemalte, besenartige Bäumchen auf, von denen der sichere Teil markiert wurde.
„Wie viele Leute wohnen dort?“
„Knapp zwölf Dutzend, Kapitän“, antwortete Kristian. „Lauter fleißige, zufriedene Leute. Der Herrscher ist weit weg, und der Steueramtmann erscheint selten.“
An einigen Stellen vor den Deichen, die weniger als zwanzig Fuß hoch waren – wenn Hasard den Tidenhub mit zehn Fuß rechnete –, erstreckten sich Bänder aus eingeschlagenen Pfählen und mit Buschwerkgeflecht dazwischen.
„Wir nennen das ‚die Lahnungen‘, mit ihnen gewinnen wir Land und halten die Deiche fest.“
„Ich sehe überall eure Deiche“, sagte Hasards Sohn. „Ihr habt euer Land gut geschützt.“
„Viele, viele Generationen haben hier geschuftet.“ Der Fischer seufzte. „Wir haben viel Land gewonnen. Für Äcker, für Schafe, für das andere Vieh, die Milchkühe …“
Vom Bug bis zum Heck hingen die windgeschützten Laternen. Ihr Licht wurde von der Schwärze geschluckt. Nur über dem Land war die Sicht einigermaßen frei. Die Crew erschien zögernd an Deck, einige Männer waren noch an der Pumpe und lenzten das Schiff. Pete Ballie blieb allein am Ruder, und der Fischer stellte sich aufs Vorschiff und rief die Richtung aus, in der die Schebecke zu steuern war.
An der breitesten Stelle zweigten rechts und links schmalere Kanäle ab und verloren sich in der Dunkelheit. Hinter der nächsten Biegung wurden auch die Lichter der Siedlung zahlreicher und deutlicher. Unverändert blieb das heulende Kreischen des Sturms.
„Holt die Fock ein!“ rief Hasard. „Wir brauchen sie nicht mehr. Sonst haben wir zuviel Geschwindigkeit.“
„Verstanden, Sir.“
Die Schoten wurden gefiert, die Rahrute senkrecht gewuchtet, als der Wind aus der Leinwand war. Die Fock killte, dann lag die Rah waagerecht, und bedächtig zurrte die Crew die Leinwand fest.
Der Fischer vorn rief: „Zwei Strich Steuerbord, dann seht ihr die Lichter!“
Hinter den Dämmen duckten sich langgestreckte, mit Reet gedeckte Häuser. Die Bäume, deren nasse Blätter im Mondlicht glänzten, schüttelten sich und wurden vom Sturm gebeutelt. Aus den Sanddünen riß er unzählige Körner heraus, wirbelte sie durch die Luft und ließ sie waagerecht gegen Schiff, Männer und Deiche prallen.
Die Schebecke wurde langsamer, glitt in einen Querkanal und war plötzlich in völlig ruhigem Wasser. Eine Baumreihe, mehrere Häuser und ein Deich, der hölzerne Hafenstege erkennen ließ, schirmten den Wind ab.
Der Seewolf rief: „Müssen wir ankern, Fischer, oder können wir anlegen?“
„Anlegen, Kapitän. Unser kleiner Hafen fällt trocken – wenn nicht gerade Sturmflut herrscht.“
„Alles klar zum Anlegen in Hoyer!“ rief Hasard.
Mittlerweile standen auch die Fischer an Deck und halfen den Seewölfen beim Festzurren und Belegen. Mit letztem Schwung glitt die Schebecke aus dem schmalen, engen Kanal in einen einfachen Hafen und vollführte eine Wendung von neunzig Grad.
Jemand mußte wohl aus dem Fenster oder einem Türspalt geschaut haben, denn plötzlich tauchten zwischen Balken, vorspringenden Dächern und spärlich belaubten Hecken mehrere Fackeln auf, aus denen der Wind lange Flammen und Funken riß.
„Ein Schiff!“ schrie jemand. „Tatsächlich, ein fremdes Schiff!“
Der Wind drückte die Schebecke mit der Backbordseite an einen Brettersteg und zwischen verwitterte Holzstämme, die als Poller dienten. Jung Hasard und sein Bruder sprangen über das Schanzkleid und zogen die Festmacher hinter sich her. Drei Männer rannten mit Fackeln heran.
Ihnen rief der Fischer Kristian zu: „Diese fremden Seeleute haben uns gerettet. Mich und Pieter, den Andreas und Niklas, den Plattfisch. Unsere Boote, die Netze – alles weg.“
„Gott sei Dank. Gerettet. Sie sind auf dem Schiff!“
Die Crew hatte sich schnell beruhigt. Eile war jetzt nicht mehr wichtig. Die Schebecke wurde an den Steg gezogen. Ein paar Fender, präzise angebändselt, knirschten zwischen den Bohlen und der Bordwand. Vorläufig war es nicht wichtig, den Festmachern so viel Lose zu geben, daß die Schebecke trockenfallen konnte.
Philip Hasard Killigrew nahm seinen nassen Hut ab und schwang sich ächzend über das Schanzkleid. Ein Brett krachte unter seinen Stiefeln. Die Fackelflammen und die vielen Laternen des Schiffes erhellten den Steg und einen Kiesweg, der zu einer schmalen Haustür führte, an Zäunen und Hecken vorbei.
„Kristian hat uns hierhergelotst“, erklärte der Seewolf, zog den Handschuh aus und streckte den Männern die Hand entgegen. „Es war ein wüster Sturm, dort draußen. Ich glaube, wir haben Arbeit für eure Werft.“
„Willkommen“, entgegnete ein breitschultriger Mann in einem geölten Segeltuchmantel und hielt die Fackel höher. „Ich bin der Dorfschulze. Berthold heiße ich.“
Noch immer fauchte und gurgelte die Lenzpumpe. Die Luken der Schebecke wurden geöffnet, mit feuchten Lappen wischten die Seewölfe Wasser und auskristallisiertes Salz von den Sülls. Der Kutscher und Mac Pellew hatten auf rätselhafte Weise ihr Feuer in Gang gebracht; wie der helle Rauch bewies.
Im Hafen von Hoyer herrschte weitaus größere Ruhe. Der eiskalte Sturm war hier zwischen den Häusern vergleichsweise warm, aber das Heulen und Pfeifen bewies, daß er noch immer mit unverminderter Kraft wehte. Aus den Fackeln riß er knisternde Funken.
„Ohne Kristian hätten wir euren Kanal nicht gefunden“, sagte der Seewolf und schüttelte ein paar Hände.
Die geretteten Fischer liefen auf ihn zu, und Kristian rief: „Und ohne ihn und seine Leute wären wir elend ersoffen! Sie werden hungrig sein. Und natürlich haben sie Durst, Berthold.“
Etwa die Hälfte der Crew stand jetzt auf den rissigen Brettern. Die Seewölfe sahen sich um und merkten, wie nach und nach in allen Häusern Lichter angezündet wurden. Die Lampen leuchteten durch die winzigen Glasscheiben der schmalen Fenster. Läden wurden zurückgeschlagen, aus allen Richtungen ertönten Stimmen. Aus allen Jacken tropfte das Wasser, und Dan O’Flynn schob sich an die Seite des Kapitäns.
„Wann soll die Ebbe einsetzen? Ich meine, wann sitzen wir fest?“
„Sechseinhalb Stunden“, sagte Berthold, ohne zu zögern. „Kapitän, wir laden Sie und Ihre Mannschaft herzlich ein. Wie viele Köpfe zählt die Crew?“
„Dreiunddreißig“, erwiderte der Seewolf. „Du meinst, wir passen nicht alle in ein Haus, wie? Kein Problem, in ein paar Stunden ist alle Aufregung vorbei.“
„Ich spreche für uns alle. Die Fischer leben, euer Schiff ist hier in Sicherheit, ihr alle auch – irgendwann hört der Sturm wieder auf. Einundzwanzig Häuser stehen hier.“
„Und drei stehen weiter deichwärts!“ rief ein Fischer. „Los! Holt endlich etwas zu trinken. Oder wollt ihr unsere Retter mit rohem Fisch bewirten?“
Überall öffneten sich die Türen und wurden vom Wind wieder krachend zugeschlagen. Menschen erschienen aus allen Richtungen. Einige trugen Krüge, aus denen weißer Schaum tropfte. Unentwegt wurden Hände geschüttelt, und die wenigen Seewölfe, die deutsch sprachen, mußten übersetzen. Sven Nyberg und Nils Larsen, deren Heimat praktisch an diesen Teil des Herzogtums angrenzte, erklärten ihren Freunden, daß in den Krügen Bier wäre, und daß alle Seewölfe in den verschiedenen Häuser eingeladen wären.
„Da ist es wenigstens trocken, hoffe ich“, sagte Ben Brighton. „Wollen wir in der besten aller Schebecken schlafen oder in einem warmen schleswigschen Bett?“
„Das weiß ich noch nicht“, sagte der Profos und schlug den Fischer Pieter kräftig auf die Schulter. Wassertropfen stäubten aus der Segeltuchjacke. „Aber sicher sind die Betten trockener als unsere Kojen.“
„Nun, überzählige leere Betten sind bei uns etwas rar“, schränkte der Dorfschulze ein. „Aber natürlich haben wir warme, trockene Ställe, trockenes Stroh und Decken. Und alles andere.“
„Zuerst sollten wir einen Umtrunk nehmen, ehe wir erfrieren oder davongeblasen werden“, schlug Ferris Tucker vor. „Das Bier wird schal, fürchte ich.“
„Der beste Vorschlag des Abends“, stimmte Batuti mit einem kehligen Lachen zu und nahm, breit grinsend und seine weißen Zähne zeigend, einem Dörfler den Krug aus der Hand. Unter Deck fing Plymmie zu kläffen an und sprang den Niedergang hinauf. Jung Philip packte ihr Halsband.
Mac Pellew hatte seine schlechte Laune gemeinsam mit seiner Sprache wiedergefunden und schrie erbost zum Steg hinüber: „Sollen wir etwas kochen oder braten? Wollt ihr Tee oder Suppe? Oder belieben die Herrschaften an Land zu speisen?“
Brüllendes Gelächter antwortete ihm. Der Seewolf musterte die Gesichter der Umstehenden und gab laut, für alle Arwenacks deutlich zu verstehen, seine Antwort.
„Die Künste eurer Kombüsen kennen wir, Mao. Ich schlage vor, wir nehmen die Einladungen an und probieren aus, was uns die Deutschen vorsetzen.“
„Einverstanden!“ riefen Roger Brighton und Dan O’Flynn wie aus einem Mund.
Noch während die Bierkrüge kreisten und die Crew versuchte, mit den Gastgebern zu sprechen, verteilten sich die Seewölfe. Kichernde Junge Mädchen und breithüftige Bäuerinnen packten die Arme der Männer und zogen sie mit sich. Hasard und der Schulze grinsten sich an, während Old Donegal O’Flynn ein Gesicht schnitt, als traue er der Freundlichkeit nicht.
„Berthold, ich glaube, ich werde die Beine unter deinen Tisch strecken“, erklärte Hasard gutgelaunt. „Los, Freunde! Hinein in die warmen Stuben!“
Binnen kurzer Zeit war der Steg leer, und die Schritte verloren sich in allen Richtungen, in die auch die Laternen und Fackeln schwankten. Mit einem schmetternden Knirschen riß ein Ast ab, wirbelte durch die Luft und klatschte in das schwarze Wasser des Hafens.
Als letzter verließ der Kutscher das Schiff, schaute sich mißtrauisch um und lief schließlich auf quietschenden Sohlen dorthin, wo die Prothese von Matt Davies glänzte, an deren Haken ein leerer Krug baumelte.
Die dicken Mauern waren heimelig warm und rauh. Die Bodendielen glänzten und rochen nach Bienenwachs. In einem gemauerten Kamin lag ein großer Haufen roter Glut. Die Frau des Schulzen legte mehrere Scheite Treibholz hinein, als der Seewolf die schwere Jacke auszog und sich an Berthold wandte. Der Fischer Andreas setzte sich auf die Bank neben dem Kamin und rieb seine klammen Finger.
„Ich habe einen Wunsch“, fing Hasard an und drehte sich um, als die Tür sich öffnete und wieder schloß. „Don Juan“, sagte er. „Hier lernst du neue Sitten kennen.“
„Wenn ich den Wunsch erfüllen kann“, erwiderte der Schulze. Seine Töchter und seine Frau zogen ein weißes Tuch über die große Tischplatte, und ein etwa elfjähriger Junge strahlte den riesigen fremden Mann mit großen blauen Augen an.
„Ich würde gern diese langen Stiefel ausziehen. Sie sind naß, durch und durch. Vielleicht kann ich sie über Nacht am Feuer trocknen lassen?“
Der Schulze nickte und nahm einen Krug und Zinnbecher aus einem hölzernen Wandschrank, der ins Mauerwerk eingepaßt war.
„Marthe“, sagte er liebenswürdig. „Hole dem Herrn Kapitän und dem anderen Herrn die Socken. Die Schafwollenen, dicken.“
Voller Erleichterung zogen der Seewolf und auch Don Juan ihre Langschäfter aus. Sie hatten erhebliche Mühe damit. Die Haut fing zu kitzeln und zu prickeln an, als sie ihre nackten Beine in die Nähe der Flammen und der Glut ausstreckten. Ganz langsam wich die eisige Kälte aus den Zehen.
„Erst einmal einen klaren Schnaps, die Herren“, sagte Berthold und reihte die Becher auf der Tischkante auf. Jeder erhielt den Zinnbecher bis zum Rand voll und leerte ihn in einem Zug. Sich selbst goß Berthold so fort nach.
Das Zeug, das nach irgendwelchen Beeren oder Früchten roch, rann heiß durch die Kehlen und verwandelte sich hinter den Hippen in eine Bahn aus Feuer, die im Magen endete.
Andreas hielt dem Schulzen den leeren Becher entgegen und keuchte ein bißchen.
„Ein Zufall, Kapitän, daß ihr uns gesehen habt?“ fragte er. In einem Gesicht stand noch immer die Angst. „Oder sind wir von euch über größere Entfernung entdeckt worden?“
Der Seewolf schüttelte den Kopf und erwiderte: „In letzter Sekunde, sozusagen. Vielleicht eine Seemeile weit, eher weniger. Es war ein Zufall, Andreas. Ich denke, ihr habt schon lange versucht, die Boote leerzuösen?“
Der Fischer schluckte und senkte den Kopf. „Das andere Boot schlug gleich voll, als der Sturm losging. Wir haben uns länger halten können. Wir haben das Tau ausgebracht, aber dann zerriß auch unser Segel.“
Seine Finger zitterten, und er verschüttete wieder einige Tropfen des wasserhellen Schnapses. Er stützte den Inhalt hinunter, keuchte wieder und fuhr fort: „Wir haben gehofft und gebetet, daß uns der Sturm an irgendeinen Strand wirft. Aber wahrscheinlich wären wir ertrunken.“
Schalen standen schon auf dem Tisch, Holzbretter, ein Brot wurde in dicke Scheiben geschnitten, ein Stück Butter und zwei Brocken Käse wurden auf geflochtenen Schalen aus der angrenzenden Küche gebracht. Messer und Löffel klirrten. Ein Schinken, größer als Carberrys Pranken, lag in der Mitte des Tisches. Frau Marthe, von der die fingerdicken Socken gestrickt worden waren, teilte dampfende Suppe aus und stellte gebeizten Fisch auf den Tisch.
„Kommt“, sagte sie. „Ihr müßt etwas Warmes in den Bauch kriegen. Danach schläft es sich besser.“
Die Männer setzten sich auf hölzerne Schemel und merkten plötzlich, wie groß ihr Hunger war. Aus hölzernen Bechern tropfte der Bierschaum. In der Hitze fing auch die Gesichtshaut zu glühen an. Mit roten Köpfen saßen sie alle da und löffelten die Suppe, die große Fleischbrocken enthielt und voller Gemüse war, gut gewürzt und ungeheuer nahrhaft. Marthes wohlgemeinter Hinweis stimmte: langsam löste sich zugleich mit der Starre auch die Erinnerung an den mörderischen Sturm auf.
„Ihr seid viel zu freigiebig“, meinte Hasard eine Weile später zum Dorfschulzen. „Könnt ihr sicher sein, daß wir nicht euer Dorf ausplündern wollen?“
„Wenn Andreas und Kristian das gemerkt hätten, wärt ihr nicht hier.“
Der Seewolf hörte zu lächeln auf. „Sondern? Wo wären wir?“
„In einem anderen Kanal“, sagte Andreas und schüttelte sich. „Er ist sehr gefährlich und voller Felsen. Ihr wärt in der Dunkelheit aufgelaufen. Mit einem bösen Schaden unter der Wasserlinie, sehr wahrscheinlich.“
„Und ihr?“ wollte Don Juan wissen.
Hasard übersetzte. Die Augen des Fischers, die aus einem Netz langer und tiefer Falten blinzelten, waren sehr ernst geworden.
„Wir wären über Bord gesprungen und über die Salzwiesen davongerannt. Roland und der Plattfisch verstehen recht gut eure Sprache. Wir haben uns unter Deck Zeichen gegeben.“
Hasard meinte es nicht im mindesten spöttisch, als er entgegnete: „Vier Fischer haben gute Menschenkenntnis bewiesen. Im Ernst, Freunde, wir sind über euren Hafen ebenso dankbar wir für die Gastfreundschaft. Und es schmeckt herrlich, was ihr uns vorsetzt.“
„Man sieht’s“, sagte die Bäuerin und lachte schallend.
Auf das duftende, graue Brot wurde dick die gelbe Butter gestrichen und darauf eine Käsescheibe oder Schinken gelegt, der nach Rauch schmeckte und schier auf der Zunge zerging.
„Braut ihr das Bier selbst?“
„Heiner, am Ende des Dorfes, ist der Bierbrauer. Er hat es, sagt er, von einem Mönch gelernt. Und den Schnaps stellt jeder selbst her. Nur die Fischer nicht.“
„Dafür fangen die Bauern auch keine Fische!“ rief Andreas.
Die Wärme und die Gastfreundschaft, die einfache, aber blitzsauber eingerichtete Stube, die Dachbalken, meist aus gebeiztem Treibholz, dazu die Schnäpse und das Bier ließen müde werden und vertieften die Gemütlichkeit. Es war keine Stunde vergangen, und schon sprachen sie über ganz andere Dinge.
Über die Nachbarschaft zu Dänemark, die Landgewinnung – die wahre Fronarbeit bedeutete und immer wieder Rückschläge brachte –, die Schafe und die Werft, die eigentlich ihren Namen nicht verdiente, weil sie nur für kleine Boote zu gebrauchen war, sie sprachen über Steuern und die ständig drohenden Sturmfluten und den gegenwärtigen Sturm, der in diesem Jahr der schlimmste war.
„Ich sage euch“, brummte der Schulze, „er wird uns noch schaden, der Aprilsturm. Ich spüre es in meinen Knochen. Fünf Tage lang bläst er. Ob er die Deiche überspringt? Ich weiß es nicht. Und dann erscheinen sie wieder aus Flensburg und treiben Steuern ein.“
„Flensburg liegt weit drüben, an der Förde, am Baltischen Meer oder der Ostsee“, sagte Hasard. „Und bei dem Sturm wagt sich keiner hierher.“
Der Schulze nickte grimmig. „Aber danach. Vielleicht hält der Magister, was er uns versprochen hat, nicht wahr, Frau? Dann sind wir reich. Reicher als der Herzog.“
„Magister?“ fragte Don Juan und kaute mit anerkennendem Grinsen auf dem Käsebrocken.
„Magister Cedomir von Emch, so nennt er sich. Er sagt, er könne Gold machen.“
Stirnrunzelnd blickte der Seewolf von Andreas zur Bäuerin und wieder zu Berthold.
„Gold machen? Habe ich richtig gehört? Hier, in eurem Dorf, in Hoyer?“
„Jawohl“, erwiderte Berthold. „Er wohnt gleich neben Heiner, dem Bierbrauer. Er wird sich freuen, so weitgereisten Seefahrern seine seltsamen Künste zu zeigen.“
Nach einigen Atemzügen und einem weiteren Schnaps fügte er weniger zuversichtlich hinzu: „Gold haben wir zwar noch keins gesehen. Aber wir haben von ihm sehr viel gelernt. Er Versteht es, fremdes Wissen beizubringen.“
„Ich muß ihn sehen, euren Zauberer“, sagte Hasard. „Doch bevor wir von eurem Bier ganz betrunken sind: Ihr habt wirklich ein warmes, trockenes Plätzchen für uns nasse Wasserratten?“
„Was ich gesagt habe, stimmt. In jedem Haus in Hoyer wird jeder von euch mit Freuden aufgenommen. Schlaft euch aus. Niemand wird euch stören. Wir versorgen euch mit trockenem Stroh und Heu, kuscheligen Schaffellen und selbstgewebten Decken.“
Er trank das Bier aus, warf seinen beiden blondzopfigen Töchtern und dem Sohn einen finsteren Blick zu, der sie keineswegs erschreckte, dann rief er streng: „Und ihr drei verschwindet augenblicklich in eure Betten! Die fremden Seeleute sind morgen auch noch da. Wenn ihr brav seid, dürft ihr auch in der Werft schnitzen und sägen helfen. Los! Ab in die Betten!“
Kichernd und halb widerwillig verschwanden die Töchter, über eine schräge Leiter und zogen den Jungen mit sich. Hinter ihnen klappte in der Decke, die den hinteren Teil der Stube abschloß, eine Falltür zu.
„Bringe noch einen Krug Bier, Frau“, sagte Berthold. „Satt, Kapitän?“
Zwischen Hasards Zähnen verschwand der letzte Brotrest und der geräucherte Fisch.
„Mehr als satt, glücklich“, sagte Hasard überzeugt. „Die Krönung wäre ein repariertes, seeklares Schiff – es gibt im Dorf auch Männer, die mit Holz umgehen können?“
„In drei Tagen ist euer Schiff so gut wie neu“, versicherte der Dorfschulze selbstbewußt. „Noch einen Schnaps, der spanische Herr?“
„Por favor“, erwiderte Don Juan. „Gracias.“
3.
In Abständen von vier oder fünf Atemzügen schlug der Sturm zu.
Er rüttelte an den schweren Schlagläden und fuhr durch den gemauerten Kamin, wirbelte Asche und Flammen hoch, ließ die rote Glut weiß aufleuchten und erzeugte ein stöhnendes, langgezogenes Geräusch.
Fischer Andreas hatte sich auf der schmalen Ofenbank ausgestreckt und war eingeschlafen. Frau Marthe holte eine Decke und breitete sie über dem schnarchenden Mann aus.
Eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür. Ein Sturmstoß, vermischt mit feinem Regen, fegte herein. Philip junior und Will Thorne schoben sich in das Zimmer und stellten die Laterne ab.
„Wir haben fast jedes Haus besucht, Dad“, sagte Philip. „Alles klar?“
„Natürlich. Ihr habt uns gesucht?“ fragte der Seewolf zurück. „Geht es ums Schiff?“
„Richtig“, erwiderte der Segelmacher. „Die Schebecke ist versorgt worden. Wir haben an Steuerbord einen Anker ausgebracht und die Festmacher verlängert. Das Wasser ist gefallen.“
„Sie wird ein wenig auf der Seite liegen“, sagte der Schulze. „Aber der Grund ist weich, ohne Felsen. Keine Gefahr fürs Schiff. Wieviel Lose habt ihr gegeben?“