Seewölfe Paket 31

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„Guten Abend, Magister“, sagte Hasard und stellte sich und seine Begleiter vor. „Ich bin überrascht, hier am Ende der Welt, zwischen Wasser und Land, einen Mann zu finden, der die letzten Dinge zu ergründen sucht.“
Cedomirs Kopf fuhr herum. Er starrte Hasard aus dunklen Augen an und war sichtlich überrascht, einen solchen wohlgesetzten Spruch zu hören. Gedankenlos schüttelte er Dans Hand und deutete dann geradeaus.
„Jaja“, murmelte er. „Von den letzten Dingen – es ist ein weiter, beschwerlicher Weg bis dorthin.“
„Das wissen wir Seefahrer auch recht gut“, sagte Hasard und schaute sich neugierig um.
Cedomir von Emch war alles andere als versponnen oder gar unsympathisch. Er zählte etwa fünfzig Herbste, war groß und schlank und bewegte sich mit der Schnelligkeit einer Katze. Sein grauweißer Kinnbart war gepflegt, aber seine Handrücken schienen von Brandflecken übersät und waren von Altersflecken gezeichnet. Unter den Fingernägeln befanden sich schwarze Ränder.
„Was kocht, brodelt und stinkt dort?“ fragte Don Juan.
Das Innere des Hauses war rund fünfundvierzig zu dreißig Fuß groß. Mächtige Bohlen trugen das Dach. Von ihnen hingen Bändsel und dünne Ketten nach unten. An einen mächtigen Kamin waren sieben Feuerstellen angeschlossen. An drei Wänden standen wuchtige Brettertische, auf denen ein undurchschaubares Chaos aus Bechern, Schalen, Gestellen, Tiegeln und Pfannen, aus Steinen und Metallbrocken, Flaschen und Krügen voller unbekannter Flüssigkeiten, aus Öllampen und Kerzen herrschte.
Hasard wiederholte die Frage, während der Alchimist im dunklen Teil des Hauses verschwand und mit einem Krug und einem Tablett wieder erschien, auf dem acht unterschiedliche Becher standen.
„Wir Alchimisten“, fing er an und räumte von wackligen Schemeln und Sesseln die dicken Bücher herunter, „sind die wahren Sucher und Erforscher der Dinge. Die Weisen aus der alten Zeit haben uns gesagt, daß die Welt aus wenigen Elementen besteht. Feuer, Wasser, Luft und Erde sind vier davon. Es gibt aber viel mehr. Alles, was wir kennen, ist eine Verbindung von Elementen. Auch die Sterne, die Einfluß auf unser Leben haben, zählen dazu. Ein jeder von uns versucht, herauszufinden, was man braucht, damit aus zwei oder drei verschiedenen Elementen ein neues entsteht. Wir suchen aus, wiegen ab, schmelzen und mischen, und alles wird aufgeschrieben. Setzt euch, meine Freunde.“
Er vollführte eine schwungvolle Armbewegung und fegte einen Leuchter vom Wandbord. Wein gluckerte in die Becher.
„Genügt das Leben eines einzelnen Mannes, um das herauszufinden?“ fragte der Seewolf interessiert. „Man hat uns gesagt, du könntest Gold herstellen?“
„Ich versuche es. Bisher ist es noch nicht gelungen“, antwortete Cedomir und lachte verlegen. „Außer mir versuchen es noch viele andere. Mich hat es hierher, in die Ruhe und Abgeschiedenheit, verschlagen. Das eine oder andere kann ich den Bauern und Fischern zeigen. Dafür lebe ich gut von ihrer Milch und dem fetten Käse.“
„Was kann ein Alchimist eigentlich?“ wollte Dan O’Flynn wissen.
Hasard übersetzte.
„Albertus Magnus hat es uns gesagt: Wir können nicht die Elemente verändern, aber es gelingt, Gleichwertiges an ihre Stelle zu bringen. Wir färben Metalle, die golden oder silbern erscheinen. Noch können wir kein Gold herstellen, aber es wird uns gelingen. Bei den Forschungen nach den tiefsten Gründen entdecken wir vieles.“
„Zum Beispiel?“ fragte der Seewolf. Der Wein schien von weither zu stammen. Er war rot, schwer und duftete herrlich.
„Wie sich Metalle verhalten, wie man Farbstoffe findet, welche Pflanzen heilen, welche vergiften, warum das Bier sauer wird und solcherlei. Für die Bauern ist es wichtig, daß sie ihre Wolle färben und die Farbe in der Sonne nicht bleicht, im Wasser nicht ausläuft, kein Hautjucken erzeugt und leuchtet. Da, die Verzierungen an deiner Jacke, Kapitän, sie sind mit einer Farbe hervorgerufen, die ich gefunden habe.“
„Ich verstehe“, sagte Don Juan schließlich. „Er untersucht alles. In meiner Heimat hätte er lebensgefährliche Schwierigkeiten mit der Kirche und ihren Priestern.“
„Nicht hier. Nicht bei uns“, widersprach der Schulze energisch.
„Du liest viel?“ fragte Dan O’Flynn und hob einige Bücher auf. Er blätterte darin, nachdem es ihm gelungen war, seinen Becher auf einem freien Platz abzusetzen.
„Es ist vieles, fast alles, in der Sprache der Gelehrten geschrieben. In Lateinisch“, erläuterte der Magister. „Du kannst sie lesen?“
In sehr holprigem Latein gab Dan die Antwort. „Nur das, was ich in Seekarten lesen können muß. Mehr nicht.“
„Bedauerlich. Wollt ihr sehen, wie ich arbeite?“
„Gern.“
Cedomir sprang auf und eilte auf seine Tische zu. Im Hintergrund des Hauses, durch eine halbhohe Wand abgetrennt, kochte und schlief er. Offenbar war ihm nicht daran gelegen, viel Tageslicht in den Ort seiner Studien zu lassen. Auch von ihnen waren die wenigen Fenster mit Brettern verkleidet.
„Hierher!“ Der Magister winkte.
In einem Tiegel aus gebranntem Ton von weißer Farbe brodelte, drei Finger hoch, eine silberne Flüssigkeit. In der Nähe stand eine Sanduhr, die zur Hälfte abgelaufen war, ein riesiges Ding, das vermutlich nach jeder Stunde einmal umgedreht werden mußte.
Mit einer zierlichen Zange nahm der Magister vier Stücke, die wie frisch zerbrochenes Metall aussahen, und legte sie nacheinander vorsichtig in den geschmolzenen Bodensatz. Ununterbrochen murmelte er dabei Unverständliches. Die zähe, heiße Flüssigkeit färbte sich nacheinander rot, blau, schneeweiß und nahm schließlich, als der letzte Brocken geschmolzen war, eine funkelnde Goldtönung an.
„Herrlich, nicht wahr?“ Der Alchimist unterbrach seine unverständliche Litanei und las etwas von einem Pergament ab. „Aber es ist kein wahres Gold. So wie Albertus Magnus sagt: ‚Ich prüfte das Gold der Alchimisten, und siehe, nachdem es sechsmal, siebenmal erhitzt wurde, verbrannte es und wurde zu Bodensatz.‘ Habt ihr Kupfermünzen?“
„Natürlich“, brummte der Seewolf und fischte kleine Kupfermünzen aus London aus seiner Gürteltasche. Auf der Handfläche hielt er fünf von ihnen dem Alchimisten entgegen.
„Danke. Und nun – schaut genau hin!“
Mit der Zange, die in nadelfeinen Spitzen auslief, nahm der Magister die Münzen und tauchte sie einzeln in die Schmelze. Er murmelte etwas von „Pyrit, Narrengold, gutes Blei, Chakozit“ und legte dann die Münzen auf den Tisch.
Unter ihnen quoll Rauch hervor, sie brannten sich einen halben Finger tief ins Holz.
„Gold!“ flüsterte Schulze Berthold entgeistert und verschüttete seinen Wein.
„Es ist das Gold der Narren“, sagte der Magister traurig. „Ein trügerischer Überzug, ein falscher Glanz, weiter nichts.“
„Aber die Münzen glänzen, als kämen sie aus der königlichen Münzanstalt“, sagte Don Juan.
„Ein Alchimist, der betrügen will, würde das jetzt behaupten“, erklärte mit seltsamem Grinsen der Magister. „Aber auf diese Weise erscheint Eisen wie Gold. In ein paar Tagen wird der Glanz stumpf sein. Da, steckt eure goldenen Kupfermünzen wieder ein.“
Er schreckte sie in Wasser ab und ließ die Zange fallen. Dann drehte er sich zu seinen Besuchern herum und breitete die Arme aus.
„Natürlich stellen wir noch immer kein wirkliches Gold her. Aber ich bin nahe daran. Dafür kenne ich alle Elemente, die hier zu finden sind, und sogar dem Heiner kann ich sagen, wie er besseres Bier brauen kann, ganz abgesehen von den Krankheiten der Schafe, die mit meiner Medizin kuriert werden, auf das beste und gesündeste sogar.“
„Das ist richtig“, bemerkte der Schulze. „Damit hat er recht, unser Magister.“
Der Alchimist erklärte dem Seewolf, den er wohl für den geeigneten Zuhörer hielt, daß es auf dieser Welt noch so vieles zu entdecken gäbe, vom Groben, Großen, Gewaltigen bis hinunter zu den winzigsten Partikeln, die von Demokritos als „atomos“ bezeichnet würden.
Er versuchte, Ideen und praktische Erfahrungen zusammenzufügen und auf dem Umweg über die verschiedenen Grade der Hitze – die er in den unterschiedlichen Feuerstellen garantierte – die Zusammenhänge und das innerste Wesen des Kosmos zu erkennen.
Schulze Berthold gähnte und brummte: „Aber auf diesem sehr langen Weg, edler Magister, erzeugst du eine gewaltige Menge an schweflichten Dämpfen. Mir dreht sich alles vor den Augen und im Kopf.“
„Dann nimm einen Schluck Wein und hole draußen tief Luft. Hier herinnen kannst du nur Weisheiten einsaugen, die noch zu groß für dich sind.“
Berthold lachte, stand auf und schenkte sich nach. Ohne beleidigt zu sein, erklärte er: „Ein Vorschlag, lieber Cedomir, der etwas für sich hat.“
Während sich der Alchimist zerstreut von Don Juan und Berthold verabschiedete, fuhr er fort, Dinge zu erklären, die nichts weniger als wunderbar waren.
Es wäre möglich, nach einem sehr langwierigen und aufwendigen Verfahren in der Wärme eines Misthaufens künstliches Leben zu erzeugen, und zwar Menschen nach Wunsch, fingerlang, die in Glasgefäßen als König, Kurtisane oder Bischof „geboren“ würden. Nachdem der Seewolf in steigender Verwirrung zugehört hatte, leerte auch er sein Glas. Dan O’Flynn schüttelte den Kopf und glaubte kein Wort.
„Uns bleibt, verehrter Magister von Emch“, sagte Hasard und betrachtete das sehenswerte Durcheinander von Gegenständen und Werkzeugen, „nur noch das Staunen. Morgen müssen wir hart arbeiten. Besuche uns doch beim Schiff. Vielleicht fällt dir etwas Neues, Überraschendes ein, wenn du uns hämmern und spleißen siehst. Wir sind weidlich müde.“
Er stellte den Becher ab und war mittlerweile halb krank von den ätzenden und stechenden Gerüchen, die aus den Tiegeln aufstiegen. Auch Dan stand auf und hielt dem Magister die Hand entgegen.
„Ach“, sagte der Forscher, „es gäbe noch so vieles, was ich euch zeigen und erzählen könnte.“
„Wir haben die Erzählungen dieses Abends noch nicht ganz begriffen“, murmelte Dan.
Der Magister brachte sie zur Tür. Die frische Luft traf die Männer wie ein Fausthieb. Sie stolperten, weit gegen den Wind vorgebeugt, auf die schaukelnde Laterne des Schulzen zu.
„Er ist verrückt, meine ich“, sagte Dan.
Der Seewolf widersprach: „Mag sein, daß er viel Unsinn verzapft. Aber er wird immer wieder auf eine Entdeckung stoßen, die ihm und anderen Menschen hilft. Ohne Leute wie ihn gäbe es heute weder Kompaß noch Spektiv.“
„Da hast du wieder recht, Sir“, sagte Dan und schlug den Kragen hoch.
Der Sturm kreischte und heulte. Langsam stapften sie auf das Haus des Schulzen und den Fischerhafen zu, der so lang war wie die Schebecke, die unruhig an den Festmachern zerrte, aber sicher lag.
„Kein Stern, kein Mond. Und langsam sollte das Wasser sinken!“ rief der Schulze. Er blieb an einem Poller stehen und hielt die Lampe über das Wasser. Im Holz waren verschiedene Markierungen eingesägt.
„Eine halbe Handbreite, immerhin“, sagte er und richtete sich wieder auf. „Vielleicht haben wir heute Glück.“
Wenn die Ebbe tatsächlich ablaufe, dann könne selbst der schlimmste Sturm das Wasser nicht über die Deiche drücken und die Dammkronen zerstören, belehrte er die Seewölfe.
Zufällig schaute Dan O’Flynn in die Höhe und sah den Funkenschauer, der aus einem Schlot fuhr.
Markus, der Kürschner, lebte dort. Offensichtlich hatte er in der Glut herumgestochert. Wieder wurden die Funken quer über den Weg und die Hecken gewirbelt und landeten prasselnd im feuchten Reetdach.
Der Seewolf stieß Dan an und fragte alarmiert: „In der Scheune – da hat Will unsere Segel verstaut. Wahrschau, Dan. Die Funken, der Wind …“
Er packte den Schulzen am Oberarm, drehte den Mann halb herum und deutete zu dem Dach. Die meisten glühenden Pünktchen waren verloschen, aber an zwei Stellen bildeten sich, vom Wind angefacht, winzige Glutnester.
„Gleich brennt es! Die Feuerglocke! Alle aus den Häusern, mit Ösfässern und Pützen.“
Der Schulze hatte verstanden. Dan rannte nach rechts, Don Juan nach links. Der Seewolf warf sich herum und spurtete, in den Sturmstößen schwankend wie ein Betrunkener, zum Schiff hinunter. Er fing zu brüllen an.
„Achtung! Alle Mann mit allen Ösfässern, die ihr findet, an Deck! Eine Kette von Wasser zum Haus dort drüben!“
Drei Gestalten sprangen auf. Stimmen riefen aufgeregt.
„Aye, aye! Verstanden! Wir kommen.“
Die Dörfler bewiesen innerhalb kurzer Zeit, daß sie gewohnt waren, mit Gefahren richtig umzugehen. Noch brannte es nicht, aber zwei handtellergroße Glutkreise wuchsen in dem dicken Belag aus Reet und dünnem Reisig. Die ersten glimmenden Stücke wurden bereits herausgerissen und wirbelten in die Dunkelheit.
Das Geräusch der kleinen Glocke mischte sich in das Gebrüll der Männer. Türen flogen auf. Zusammen mit den Bauern sprangen auch Arwenacks ins Freie, meist noch vollständig angezogen.
„Hierher!“
Von Bord schwangen sich Luke Morgan, Stenmark und Bill. Jeder schleppte mindestens drei Lederpützen. Hasard stand am tiefsten Punkt des Steges und warf sich hin. Noch einmal brüllte er. Man drückte ihm eine Pütz in die Finger. Er tauchte sie tief ein, wuchtete sie auf den Steg, und schon packte er die zweite.
Eine Gruppe Männer stob heran und riß einander die wassergefüllten Pützen aus den Händen. Die Kette der Hände und Arme wurde mit jedem Atemzug länger. Unverändert gellte die Glocke.
Als sich auch Bauern mit schweren Holzkübeln einreihten, krachte plötzlich Edwin Carberry neben Hasard auf die knarrenden Bretter und schöpfte ebenfalls Wasser.
Am anderen Ende der Menschenkette, die etwa zwei Dutzend Männer lang war, erkannten sie in den ersten, hochlodernden Flammen des Daches den Magister, der einen Kübel packte und ihn wohlgezielt hochriß. Der Wasserschwall traf mitten in den höher gelegenen Flammenkreis. Es zischte bis zum Wasser hinunter, und eine Dampfwolke breitete sich aus.
Hasard hob, weil Nachschub fehlte, den letzten gefüllten Kübel hoch und reichte ihn, weniger hastig, weiter.
„Das war schnelle Arbeit“, sagte er.
Der Schulze rannte vorbei, Frau Marthe zog wohl am Glockenseil.
„Erfolgreich ist sie auch“, sagte der Profos und fing ein leeres Ösfaß auf, das ihm jemand zuwarf. „So schnell kann das gehen, wie?“
Drei oder vier Dutzend Wassergüsse ergossen sich nicht nur auf das Dach. Aber die meisten trafen die Glut und löschten die Flammen.
Dann breitete der Besitzer der Scheune die Arme aus und schrie: „Hört auf, danke: Es ist gelöscht!“
Heiner rannte mit einer Leiter herbei und verteilte unbeabsichtigt mit den Enden, die er wild herumschwenkte, Kopfnüsse und Püffe gegen die Schultern. Dann erreichte er unter einem Chor von Geschrei und Flüchen das Haus. Er legte die Leiter an und enterte flink wie ein Affe auf.
„Noch Wasser her!“ schrie er. „Da glimmt es noch!“
Er schüttete vorsichtig und langsam fünf Kübel voll Wasser in die Reetbündel, nachdem er sie mit den bloßen Händen und dem Messer auseinandergezerrt hatte. Mittlerweile gab es genügend Fackeln und angezündete Laternen.
Der Schulze schrie aus voller Lunge: „Löscht die verdammten Fackeln, ihr Narren! Oder wollt ihr das Dorf niederbrennen?“
Fünfmal stiegen Dampfwölkchen aus dem Reet, dann erklärte Heiner den Brand für gelöscht.
„Wahrscheinlich werden wir nunmehr zu Dorfheiligen erklärt“, sagte Don Juan und betrachtete seine geschwärzten Hände. Der Wind wirbelte jetzt die Rußflocken durch die Nacht.
„Und wahrscheinlich endet es wieder in einer Sauferei.“ Dan O’Flynn versuchte, die Feuerglocke zu übertönen.
Im selben Augenblick hörte Frau Marthe am Seil zu zerren auf.
„Nicht mit mir“, sagte der Seewolf und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Er blickte aufmerksam zum Dach der Scheune hinüber, wo inzwischen zwei Dörfler nach versteckten Schwelbränden suchten. „Wenn wir nicht den Magister besucht hätten …“
Dan senkte den Kopf und kicherte. „Ich erkenne den Nutzen eines Alchimisten. Wenn er so flink denkt, wie er löscht, dann wird er doch noch Gold herstellen können.“
Plötzlich schleuderte der Sturm mit erheblicher Gewalt riesige Regentropfen fast quer durch die Luft.
Die Männer duckten sich unter einem wütenden Regenschauer.
„In die Häuser!“ brüllte jemand. „Der Regen setzt ein. Das bricht dem Sturm das Genick.“
Die Dörfler handelten ebenso wie die Seewölfe. Sie ließen fast alles stehen und liegen und liefen auseinander. Auch Don Juan und der Seewolf stürmten auf das helle Rechteck der offenen Haustür zu. Noch während sie liefen, verstärkte sich der Regen. Binnen weniger Atemzüge übertönte ein gewaltiges Brausen und Rauschen das Heulen des Sturms. Es goß, und es schien, als wollten sich die Wolken am Löschen beteiligen, zu spät zwar, aber desto gründlicher.
Die letzte Tür krachte zu.
Nur noch die Laternen der Schebecke, von denen dünner Dampf aufstieg, leuchteten über dem sinkenden Hafenwasser, das in unzählbare winzige Ringe zerrissen wurde. Die Wachen waren längst unter Deck verschwunden und wärmten sich an dem Glutkorb, über dem der Teekessel der Arwenackköche hing.
5.
Die Regenmassen stürzten stundenlang herunter. Der Sturm riß und wirbelte die Tropfen durch die Nacht, ununterbrochen und mit größter Wucht. Hin und wieder drehte der Wind und ließ für lange Momente nach, dann rauschte der Regen nur noch schräg oder gar senkrecht auf die Dächer, die Deiche und in das zurückflutende Wasser des Hafens und der Kanäle. Niemand traute sich ins Freie, das Erdreich verwandelte sich in dicken Morast und die Halme lagen flach im nassen, sandigen Grund.
Gegen Mitternacht erreichte die Ebbe ihren tiefsten Stand. Aber auch da fiel die Schebecke nicht völlig trocken. Ein paar Handbreiten Wasser blieben im Hafenbecken stehen.
Der Regen prasselte auf das Deck der Schebecke, sammelte sich in breiten Rinnsalen, floß nach Steuerbord und Backbord, gurgelte an den Sülls und lief durch die Speigatten ab.
Die zweite Wache löste die Männer an Bord ab, die sich in die warmen Ställe zurückzogen und traumlos schliefen.
Unverändert heulte der Sturm. Obwohl das auf- und abschwellende Brausen und Wimmern höchste Gefahr signalisierte, schliefen die Dörfler ebenso gut wie die Arwenacks.
Aber während der letzten Wache, noch vor dem ersten Morgengrauen, stellte sich Schritt um Schritt eine willkommene Änderung ein.
Der rasende, schwere Regen ließ nach, bis nur noch einzelne Schauer winziger Tropfen wie dünner Nebel über das flache Land wehten.
Dann jagte der Sturm – dessen Wut noch immer nicht gebrochen war – die Wolken vom Himmel. Stern um Stern zeigte sich, und der volle Mond tauchte hinter den ufernahen Wäldern auf. Binnen einer Stunde war das gesamte Firmament klar und völlig wolkenlos. Die Sterne funkelten und blinkten, bis einer nach dem anderen verschwand, während sich im Osten der erste graue Streifen abzeichnete, der einen sonnenstrahlenden Morgen versprach.
Der Dorfschulze blinzelte ebenso wie sein Gast, als sie gegen eine halbierte Sonnenscheibe von honiggelber Farbe blickten.
„Das erlebst du oft an der Küste“, sagte Berthold. „Aber der Sturm bleibt uns noch.“
„Wird es ein einigermaßen warmer Tag?“ wollte der Seewolf wissen.
„Ich bin sicher. Komm herein. Marthe hat das Essen auf dem Tisch.“
„Seltsam“, meinte der Seewolf und zuckte mit den Schultern. „Euer Land ist auch ohne brechende Deiche und Sturmflut unter Wasser.“
„Das ist eine lange Geschichte“, erklärte Berthold, als sie ihre Brote mit gelber Butter bestrichen, kuhwarme Milch, mit Honig gesüßt, tranken und einzelne Stücke aus der Schüssel mit Fleisch hervorholten. „Du weißt, daß wir vieles Land eingedeicht haben. Früher war es salziges Watt. Je mehr Regen fällt, desto schneller wird das Salz aus der Erde geschwemmt. In ein paar Tagen sind die Entwässerungsgräben wieder voll, und durch die Priele läuft fast süßes Wasser.“
„Überdies werden Sonne und Sturm eure Felder schnell trocknen“, fügte Don Juan seine Meinung hinzu. „Oder nicht?“
Berthold nickte und lauschte nach draußen, wo die ersten Arbeitsgeräusche zu hören waren.
„So ist es.“
Es dauerte keine halbe Stunde, und alle Arwenacks waren auf den Beinen und fingen dort zu arbeiten an, wo sie gestern bei Anbruch der Dunkelheit aufgehört hatten.
In der Werft wurde gesägt und gehobelt, aus der Schmiede hörte man das Klingeln der Hämmer. Der letzte Rest von Salz war von Deck und den wenigen Aufbauten der Schebecke gewaschen worden.
Die Sonne kletterte höher, und überall dort, wo es ein wenig windgeschützt war, brannte sie mit stechender Hitze.
Aus den Deichen und Wällen, aus Hecken und Bäumen, aus den Feldern – überall stiegen leichte Nebel auf. Der Sturm wirbelte ihn fort, und an einem ungewohnt leuchtenden Himmel ballten sich behutsam die ersten Wolken zusammen. Sie trieben rasend schnell nach Osten. Man konnte beinahe zusehen, wie sich die niedergeklatschten Halme aufzurichten begannen.
Mac O’Higgins und Pete Ballie kletterten in den dunkelgrauen, sandigen Schlamm des Fischerhafens hinunter und prüften jeden Quadratzoll des Ruders, der massiven Lager und der hölzernen Teile. Um das Ruderblatt ungehindert bewegen zu können, hatten sie einen Halbkreis im Schlick freigeschaufelt. Bei dieser Gelegenheit überprüften sie auch die Planken im Bereich des Hecks und des Grätingsdecks, aber sie fanden weder Risse noch Lecks zwischen Planken und Spanten.
Mac und Pete enterten wieder auf den Steg und meldeten: „Die nächsten Stürme überstehen wir – wenigstens mit unserem Ruder. Es gibt keine Schäden.“
„Das höre ich gern“, sagte der Seewolf. Er schleppte den Anker den Steg entlang und ließ ihn keuchend fallen.
Eine Gruppe erschien aus der Werft. Eine Schar Kinder rannte um sie herum. Sie trugen die schweren, roh geschnitzten Stützen des Schanzkleides. Sie waren nach den Maßen der vorhandenen, zersplitterten und abgebrochenen Stücke hergestellt worden.
„Habt ihr alle geschafft?“ rief der Seewolf vom Ende des Steges.
„Sogar zwei in Reserve!“ rief Ferris Tucker zurück. „Aber sie müssen noch geschliffen und gebeizt werden, versiegelt und so weiter.“
„Könnt ihr sie einbauen?“
„Wir fangen schon damit an.“
Die Sonnenhitze und der Sturm, der mit unverminderter Heftigkeit von See her heulte, sogen die Feuchtigkeit aus dem Land und nicht weniger aus allen Holzteilen. Ferris Tucker und seine Helfer beitelten die Vertiefungen aus, füllten stinkenden Leim ein und schlugen eine Stütze nach der anderen mit hölzernen Schlegeln ein. Mit Richtschnur und Winkel kontrollierte der Schiffszimmermann Senkrechte und Waagerechte. Ein anderes Team fing am Bug mit der Einrichtung der ersetzten Teile an.
Die Lenzpumpe beförderte das Regenwasser, das nachts eingedrungen war, außenbords.
„Das sieht alles ganz gut aus“, sagte Hasard und verbrachte den Rest der Stunden bis Mittag damit, überall dort anzupacken und zuzugreifen, wo es nötig war und sein Rat gefragt wurde. Mittlerweile wurden stehendes und laufendes Gut des Großmasts untersucht, erneuert, ersetzt und nachgespannt. Will Thorne, zurückhaltend, leise und bestimmt wie immer, kümmerte sich um die Rahruten und seine Leinwand. Der gesamte Umkreis des Hafens bot ein Bild der Betriebsamkeit.
Die Dörfler öffneten die Tore und Gatter und entließen die genügsamen Wollschafe aus den Ställen in die Weite ihrer Weiden.
Bald waren die schwarzgrünen Flächen zwischen den Dämmen und Dünen von den rundlichen Körpern der Schafe gesprenkelt. Überall dort, wo die Sonne hinleuchtete, trocknete die Wärme in Verbindung mit dem Sturm den Boden in überraschender Schnelligkeit aus.
Das Wasser in den Kanälen begann langsam zu steigen, die nächste Flut setzte ein.
Stunde um Stunde verging.
Die Crew der Arwenacks setzte im Lauf des Tages die Rahruten mit den Segeln, simulierte sämtliche Segelmanöver und spleißte das Tauwerk, wo es nötig war. Der Kutscher und Mac Pellew handelten mit den Dörflern und füllten ihre Küchenvorräte auf. Handbreit um Handbreit wurde das Schanzkleid eingesetzt, die massiven Holztafeln zwischen die Stützen geschoben und eingeleimt, die eisernen Beschläge genagelt und vernietet. Während all der Arbeiten wimmerte und fauchte der Sturm weiter und trocknete den Schweiß der Männer.