Seewölfe Paket 31

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Bonger war allein auf seinem Wrack, und jede weitere Planke, die brach, bedeutete einen weiteren Schritt in den Untergang.
Aber Bonger Oluvsen kämpfte. Der Kampf mit dem Wasser hatte erst vor sechs Stunden angefangen. Es war Bonger gelungen, die Lampe aufzufischen, frisches Öl einzufüllen und anzuzünden. Er hatte Licht, aber das war auch schon fast alles, was er noch besaß.
„Nachdenken, Bonger. Nicht blind und ratlos etwas tun“, beschwor er sich selbst.
Noch war er am Leben. Wenn sich das Boot nicht stärker bewegte, konnte er warten, bis ihn jemand fand und ihm ein Seil zuwarf. Aber da sich einer der wenigen Felsen weit und breit an Steuerbord durch den Schiffsboden gebohrt und ihn auf sieben Fuß Länge aufgerissen hatte, würden sich Planken und Spanten bald in Treibholz verwandelt haben.
Die „Königin Thyra“, ein gutes und wetterhartes Schifflein, war von der Woge hochgehoben worden, und als die Welle sich verlief, bohrte sich in voller Fahrt der Brocken durch die Planken. Auf der Stelle hatte die „Thyra“ gestoppt. Mast und Segel gingen Augenblicke später nach dem reißenden Knallen des Tauwerks und dem Bersten der Holzteile über Bord.
Und jetzt spülte und riß die Strömung einen Ballen und Packen nach dem anderen aus dem Laderaum.
Der Fluß, die Stora, die durch Holstebro floß und den Fjord füllte, führte gutes Wasser. Der Durchlaß zwischen zwei schmalen, sandigen Landzungen war nicht ungefährlich, für die „Königin Thyra“ aber der schnellste Weg, um die Küstenfahrt antreten zu können. Sondervig, Hvide Sande, Nymindegab, dann Henne Strand und Fanö wären die Ziele gewesen.
Beide Landzungen waren unbewohnt.
Im Fjord fischten die Männer nur selten.
Sondervig war fünfzehn Meilen weit entfernt. An beiden Seiten des Wracks betrug die Entfernung bis zu einer Stelle, an der man an Land gehen konnte, etwa eine Kabellänge.
Wieder bewies ein grausam lautes Krachen, daß Planken losgerissen wurden und das Leck sich vergrößerte.
Leider führte die „Thyra“ kein Beiboot mit.
Bonger Oluvsen war groß und stark, ausgeruht und nicht einmal hungrig. Der größte Teil seiner Vorräte, auch die Wasserfäßchen, befand sich in den Kisten auf dem Achterdeck, vier Fuß über dem Wasser und sicher. Noch! Lenzen war sinnlos.
Das Salzwasser brannte auf den vielen Abschürfungen, der Schädel brummte vom Aufschlag auf die Planken, und die salzige Nässe der Kleider kniff und biß in den Körperfalten und unter den Achseln.
„Die Lampe“, brummte er, dann schrie er sich selbst gegen die rauschende Brandung die Worte zu. „Darf nicht ausgehen. Nachts ist sie hell. Am Tag kann ich Lumpen anzünden und mit Rauch Signale geben.“
Er riß eine Kiste auf, bändelte die Ölkanne fest und schlug Knoten um den Haltering der Lampe und um die Pinne.
„Und wenn ich Planken herausreiße und ein Floß baue? Über Spanten könnte ich es zusammennageln.“
Er sagte sich: „Zuerst nachsehen.“
Zwischen dem Heck und dem Bug, jeweils durch Schotten abgetrennt und beplankt, befand sich die offene Ducht. Das Leck war an Steuerbord, fünf Fuß hoch stand das Wasser im Schiff.
Herrschte jetzt Flut? Ebbe? Die Zeit dazwischen?
Wenn jetzt die Ebbe ablief, sank das Wasser ein wenig in dem Fjord. Nach Mitternacht kippte die Tide, dann war das Wasser ruhig geworden. Und danach stieg es wieder.
„Nägel?“
Er hatte Werkzeug dabei. Ein großes Paket Nägel war nicht in der Last, zusammen mit den anderen Waren, sondern in der Kiste verstaut. Er fand sie, einen mittelschweren Hammer und eine Säge.
Und schon fing er zu arbeiten an. Er sprang hinunter ins Wasser und fischte die treibenden Holzteile heraus. Planken, die Teile der Laufplanke, andere Stücke: Lukendeckel und immerhin vier von den Paketen, die er heben konnte. Sie waren gut verpackt und schwammen in der schwarzen Salzbrühe. Mit dem Unterarm maß er die Länge der fehlenden Planken, die er gegennageln mußte.
„Arbeit für ein paar. Tage“, sagte er laut, froh darüber, daß er etwas tun konnte. Einige Zeilen eines Wikingerliedes fielen ihm ein, und während er auf dem schwankenden Wrack die erste Planke in die richtige Länge brachte, sang er, mitten in der schwarzen Nacht, das wilde, trotzige Lied, mehr laut und stockend als richtig.
Als er unter Wasser die scharfen Kanten des Felsens ertastete, erschrak er. Das fünfundvierzig Fuß lange Schiffchen – wie sollte er es vom Felsen lösen? Er hob und senkte unaufhörlich Bug und Heck und schwankte von Steuerbord nach Backbord und zurück.
Mit wuchtigen Schlägen befestigte Bonger die erste Planke innenbords. Als er bis über die Knie im kalten, schwarzen Wasser stand, und schwankte, wurde sein Gesang wesentlich leiser.
Seine Furcht, alles zu verlieren, auch das Leben, steigerte sich.
Philip Hasard Killigrew zog tief die frische Luft in seinen breiten Brustkorb. Sie roch nach Meer, nach dem frischen Grün ringsum, nach den feuchten Wäldern und dem trocknenden Sand auf dem kleinen Halbinselchen. Die Fackeln waren inzwischen so nahe gerückt, daß die Wartenden tatsächlich neun Reiter zählen konnten. Sie waren einheitlich gekleidet, trügen aber keine Uniform.
„Es sind bestimmt Reiter im königlichen Auftrag“, erklärte Rukka und deutete hinunter zu seinem Fischerdörfchen. „Sie tragen viele Waffen.“
Im Fackellicht erkannten die Wartenden blitzende Halbrüstungen, Hellebarden und Musketen.
Auf Hasard wirkten die Reiter nicht bedrohlich, trotzdem wandte er sich an Al Conroy und sagte halblaut: „Vielleicht sollten wir zumindest in der Lage sein, uns zu wehren. Sage den Arwenacks, daß sie aufpassen sollen.“
„Aye, Sir.“
Bedächtig setzte sich der Stückmeister in Bewegung und stieg von der Düne über den Sandpfad, der in der Dunkelheit gut zu erkennen war, zu den Lichtern rund um den Hafen hinunter. Kurz darauf bewegten sich an Bord der Schebecke die Gestalten der Seewölfe.
Der erste Reiter, dessen Hellebarde einen Wimpel trug, zügelte unterhalb der Gruppe sein schweißnasses Pferd und rief: „Miliz von Herning! Wir lagern in Skjern. Habt ihr Ärger mit einem verrückten Wikingernachfahren?“
Der Älteste rief zurück: „Nein! Wir haben aber Gäste. Auch Seefahrer. Kommt ins Dorf, alles ist ruhig.“
Die Reiter rasselten heran, umrundeten die Düne und kletterten auf dem kleinen Platz zwischen Krug und Kirche aus den Sätteln. Die Pferde ließen die Köpfe hängen. Rukka eilte mit seinen Männern und den Seewölfen herbei, während die Milizreiter erstaunt das schlanke Schiff anstarrten.
Ansgar Tipperud, der Anführer der Stadtmiliz, musterte mit sichtlichem Erstaunen den Seewolf und dessen Begleiter.
„Um es euch zu erleichtern“, sagte Nils, der einwandfrei übersetzte, was Hasard erklärte, „wir sind auf der Spur dieses Wikingers. Wir kennen ihn, und er ist nicht wirklich ein Verrückter, nur leicht erregbar. Wahrscheinlich segelt sein schwarzes Schiff inzwischen oben an der norwegischen Küste.“
„Ihr seid seine Feinde?“ fragte Hauptmann Tipperud verblüfft. „Wollt ihr sein Schiff kapern?“
„Sagen wir es anders“, entgegnete Nils. „Zwischen ihm und uns ist noch eine Rechnung offen. Eine Rechnung, die wir bezahlen müssen, und wir wollen einen Nachlaß. Deswegen brauchen wir allerdings unsere Geschütze nicht zu laden.“
„Ich verstehe. Eine alte, offene Rechnung unter Freunden.“
Die Reiter verhandelten mit den Dörflern und Fischern. Die Pferde wurden abgesattelt und einzeln in verschiedene Ställe geführt.
„So könnte man es nennen.“
Die Milizreiter umkreisten das Schiff und blieben mißtrauisch. Aber das überaus freundliche Grinsen der Seewölfe und das Geräusch aus Scherzen und klappernden Bierhumpen, das aus dem offenen Krug drang, waren friedlich. Die Fischer waren aus den Häusern getreten, einige Frauen und Mädchen standen vor den Häusern, und schließlich lehnte der Hauptmann seine lange Waffe gegen die Wand der Kirche.
„Kapitän Killigrew“, sagte Ansgar nach kurzer Überlegung, „Ihr segelt dem sogenannten Wikinger hinterher?“
„Genauso verhält es sich“, antwortete der Seewolf, packte Ansgar am Arm und zog ihn auf das helle Viereck der Tür zu. „Sollen wir ihn von Dänemarks Küsten vertreiben?“
„Es wäre angenehm, wenn wir von ihm nichts mehr hören und sehen würden. Die Leute hier am Meer können sich nicht gegen einen Piraten wehren, wenn der mit Kanonen in ihre Dörfer schießt.“
„Wenn wir ihn getroffen haben, gibt es keinen Übergriff mehr“, versprach der Seewolf.
„Würde uns helfen. Bis hinauf nach Skagen ist die Küste dünn besiedelt“, sagte der Hauptmann. „Aber auch einzelne Schiffe wird er wieder angreifen. Wir wissen von der ‚Ragnhylt‘, – habt etwa ihr dem Handelsmann geholfen? Wart ihr das fremde Schiff?“
„Ja.“
„Dann können wir also sicher sein. Ihr legt morgen früh ab?“ fragte der Hauptmann.
„Beim ersten Sonnenlicht, es sei denn, es gibt heute noch Weststurm.“
Ansgar Tipperud nickte, schlug dem Seewolf auf die Schulter und versicherte: „Wir werden Boten in die einzelnen Orte schicken. Sie sollen den Leuten sagen, daß ihr mit eurem Schiff mit den Dänen befreundet seid und den Wikinger jagt. Man wird euch überall gut empfangen.“
„Das ist ein vernünftiges Wort“, pflichtete Nils Larsen seinem Landsmann bei. „Darauf trinken wir alle noch einen Humpen, und danach geht die Crew in ihre Kojen. Wir ziehen es vor, nüchtern zu segeln.“
„Löblich, ihr Seewölfe.“
Aber es dauerte doch noch eine Stunde, bis alle Arwenacks an Bord waren. Die Laternen wurden bis auf Bug- und Hecklicht gelöscht, die Wache zog auf. Als Hochwürden Marian Ladelund am Morgen vor die Tür seines Häuschens trat und die weißen Wolken im blaßblauen Himmel sah, vermißte er die Masten des Schiffes.
Unbemerkt, wenigstens für ihn, hatte die Crew die Segel gesetzt und war aus dem Hafen Nymindegabs verschwunden.
3.
Ben Brighton lehnte sich gegen das Schanzkleid, nickte Piet Straaten an der Pinne zu und bemerkte zu seiner Beruhigung, daß die Segel richtig getrimmt waren. Die Schebecke lief, gerade noch in Landsicht, auf genauem Nordkurs.
„Wenn es nicht gerade brennt“, sagte er laut, „kümmern wir uns nicht um Sondervig. Klar?“
„Aye, Ben“, erwiderte der Holländer. „Warum sollte es brennen? Der Wikinger segelt nach Norden, nicht rückwärts.“
Der Erste Offizier grinste breit und verkündete: „Dem traue ich alles zu. Im Ernst: wir sollten uns nicht lange aufhalten, hat der Kapitän lobenswerterweise angeordnet. Schließlich wollen wir nicht bis in alle Ewigkeit hier herumkreuzen.“
„Verstanden. Begreiflich. Ist auch nicht viel los an der flachen Küste.“
„Das wird sich in Norwegen ändern, über dem Skagerrak“, sagte Ben.
Die Nordsee zeigte sich mäßig bewegt. Eine weite Dünung hob und senkte das Schiff. Die Wellen rollten aus Südwest und Westen an, der Wind wehte stetig aus dem südlichen Quadranten und trieb die Schebecke entlang der Küste in guter Fahrt vorwärts.
Gelbweiß leuchtete die Sonne. Dicke weiße Wolken segelten über das fahle Blau des Himmels. Über dem Schiff schrien ein paar Möwen. Nur wenige kleine Segel von Fischerbooten zeichneten sich vor den Dünen und den stückweise bewachsenen Deichen ab.
Ein dritter Rundblick durch das Spektiv zeigte dem Ersten, daß sich außer ihnen kein zweites Schiff in der Nähe befand, weder auf gleichem Kurs noch auf Gegenkurs.
„Was liegt hinter Sondervig?“ fragte Piet nach einer Weile.
Sie hatten die Kragen hochgeschlagen und drehten sich nicht oft um. Achterlich war noch weniger los als voraus und dwars.
„Ein Kaff, das sich Thyborön nennt“, antwortete Brighton.
Die Segelgasten holten die Großschot dichter, als das Segel zu killen anfing. Die Schebecke legte sich ein wenig über und richtete sich sofort wieder auf.
„Dort hinein oder vorbei?“ erkundigte sich der Rudergänger.
Ben hob die Schultern und erwiderte: „Weiß ich nicht. Es kann sein, daß wir bei Anbruch der Dunkelheit Thyborön querab haben. Bis dahin wissen wir mehr. Das Wetter? Es verspricht, so zu bleiben.“
„Aber gerade hier ändert es sich schnell.“
„Ich weiß“, meinte der Erste. „Frage später den Seewolf.“
Es gab keinen auffälligen Unterschied zur Landschaft, die sich vor einem Tag an Steuerbord ausgebreitet hatte. Schlickiges braunes Watt, heller Sand und einige weiße Dünen, dann ein paar Deiche und dahinter Nadelwälder in frühlingsgrüner Farbe. Das war alles, und so blieb es Seemeile um Seemeile, die das Schiff nordwärts zurücklegte.
Die „Königin Thyra“ hob, als die erste große Welle heranrauschte, den Bug. Im Heck rutschten Werkzeuge und Kästen krachend und klappernd zum Dollbord und prallten dagegen. Bonger Oluvsens Lied riß ab, er fluchte laut und drehte sich um. Mit ausgebreiteten Armen versuchte er, als sich das Heck hob, die Gegenstände aufzufangen. Mit bösartigem Knirschen brachen weitere Planken in Stücke.
„Verdammte Nordsee!“ stöhnte er auf.
Seine Augen waren blutunterlaufen. Die Finger – geschwollen und rot vom eisigen Salzwasser – bluteten. Am ganzen Körper gab es Schnitte, Risse und blaue Flecken. Bonger war triefnaß, vom Haar bis hinunter in die Zehen der hochschäftigen Stiefel.
Als er mit beiden Schienbeinen gegen den Unterwasserfelsen geschmettert würde, fluchte er noch mehr und kletterte mühsam hinauf zur Ruderpinne. Er stemmte sich an ihr hoch, verbrannte sich die Finger an der schaukelnden Lampe und merkte es nicht, weil die Haut vom Wasser klamm war.
„Das hilft nichts. So komm ich nicht weiter“, sagte er sich und zog mit schmerzenden Zähnen den Stopfen aus dem Metallkrug. Er nahm einen kräftigen Schluck des klaren Branntweins, der nach Wacholder schmeckte.
Dann, als er die Wärme im Hals und im Bauch spürte, schüttelte er sich. Noch immer war es dunkel. Die Ebbe war längst abgelaufen und hatte das vollgeschlagene Boot tiefer auf den Felsen sacken lassen. Jetzt war auch der massige Kielbalken so schwer gebrochen, daß Bonger das Schlimmste fürchten mußte.
Mit der einsetzenden Flut rollten aus der offenen See lange Dünungswellen heran, lautlos und unsichtbar in der Schwärze der Nacht. Sie hoben unaufhörlich das Schiff, und wenn sie sich an den Sänden der Meeresenge brachen und in den Fjord hineinzischten, krachte die „Thyra“ wieder schwer nach unten, ins Wellental und auf den Felsbrocken.
Mit zitternden Fingern füllte Bonger Öl in die Lampe ein.
Wieder nahm er einen Schluck Schnaps, aber seine Finger zitterten deswegen nicht weniger.
„Und weit und breit nichts – niemand, der mich sieht“, murmelte er mit gefühllosen Lippen.
Alle Bündel und Ballen, die er in der Ducht hatte auffangen und herausfischen können, waren inzwischen zusammengebändselt und aneinander festgelascht. Vielleicht schwammen sie wirklich lange Zeit. Er hatte noch zwei leere Fässer, von denen er sich einiges an Schwimmfähigkeit erhoffte. Und es wollte nicht hell werden, nicht wärmer – aussichtslos, hoffnungslos: die Lage wurde schlimmer und bedrohlicher.
Wieder gab es ein furchtbares Krachen und Knistern. Das Wrack sank mit einem Ruck schwer auf den Felsen, der die „Thyra“ noch immer nicht freigeben wollte. Mutlos saß Bonger neben der Pinne und überlegte fieberhaft, was er tun konnte.
„Ein Floß? Aus den Fässern und Planken?“
Schmerzgepeinigt und vor Kälte schlotternd, dachte er nach. Er war nicht mehr in der Lage, klare Gedanken zu fassen. Selbst wenn er überlebte, war er zu einem Leben in Armut und Ausweglosigkeit verdammt. Das Meer hatte ihn ernährt – bisher. Jetzt wollte es ihn vernichten.
Irgendwo im Fjord trieben die Leichen der beiden Schiffsgehilfen. Tüchtige, ehrliche Männer, dachte der hünenhafte Däne. Drei Jahre lang war er mit ihnen gesegelt.
Tot. So wie er in der nächsten Nacht. Wenn es überhaupt noch so lange dauerte. Wieder trank er und schüttelte sich. Er fühlte seine Zehen nicht mehr.
Die flachgehende „Königin Thyra“ war zwischen Skagen und Hoyer so gut wie jedem Dänen gut bekannt.
Von Holstebro aus nahm Bonger besonders teure und wichtige Waren auf, die einzelnen Frauen oder Männer aus den Dörfern bestellt hatten. Meist war es schneller und sicherer, die Waren auf dem Wasserweg zu transportieren. Selbst im Winter war es, hielt man sich an die Regeln richtiger Seemannschaft, schneller und sicherer als über die eisigen und zugeschneiten Wege und Straßen.
Oft zahlte Bonger aus seiner eigenen Börse und holte sich das Geld von denen, die ihre Ware erst nach Monaten in den Händen hielten. Er war noch nie überfallen und beraubt worden.
Es gab keinen Hafen, keinen Steg und kein Haus am Strand, das er nicht erreicht hätte. Bei Ebbe setzte die Thyra weich in den Schlick, schwamm bei Flut wieder auf. Es war ein ruhiges Leben, das drei Familien gut ernährte.
Die Hälfte der Waren – abgetrieben.
„Die andere Hälfte wahrscheinlich verdorben“, brummte er. Natürlich wußte er, was in den Ballen verpackt war.
Sein einziger Besitz, vom Haus in Holstebro abgesehen, war das Boot. Ein gutes Boot, sieben Jahre alt und fest wie ein Wikingerschädel. Und jetzt hörte und sah er, wie es zu Kleinholz zerhackt und zersplittert wurde. In zehn Jahren brachte er das Geld nicht zusammen, um sich ein zweites Boot dieser Art zu kaufen.
Falls er überlebte.
Er nahm den vorläufig letzten Schluck, und irgendwie gelang es ihm, den Krug wieder zuzustöpseln.
Dann hackte er mit dem Beil nach dem vorbeitreibenden, drehenden Faß und zog es heran. Er fing an, ein Floß zu bauen, mit Nägeln, die ihm nicht gehörten.
Hvide Sande mit dem Durchlaß von Holmsland Klit, Sondervig und dann endlose Dünen und Salzwiesen zogen vorbei.
Jan Ranse hatte den Rudergänger abgelöst, eine andere Crew trimmte die Segel. Achtern standen Dan O’Flynn und Hasard.
„Der Wind bleibt, denke ich“, meinte der Seewolf. „Wir sollten den Limfjord und Thyborön vergessen und weitersegeln.“
Sie hatten die Karten studiert, und auch Dan gelangte zu dem Ergebnis: „Sollte in der Nacht schweres Wetter aufkommen, haben wir einen Hafen in der Nähe. Ich habe mit den Leuten von Nymindegab gesprochen. Die Hafeneinfahrt von Hanstholm soll von zwei Feuern gekennzeichnet sein.“
„Hängt sicher mit den Ostseefahrern zusammen?“ antwortete Hasard und dachte an die Schiffe, die Skagen rundeten und in Küstensicht zuerst nach Südwest, und dann, etwa auf der Höhe von Hanstholm, nach West steuerten.
Er lachte kurz und fügte hinzu: „Jedenfalls waren wir bestimmt schneller als jeder reitende Bote. Unseretwegen werden die Dänen dort keinen Hafen befeuern.“
„Nein“, brummte Dan. „Wegen uns bestimmt nicht.“
Die Schebecke war gut vorangekommen, aber nicht so schnell, wie sie es gehofft hatten. Der Wind hatte sie gezwungen, in einigen weiten Schlägen zu kreuzen. Jetzt befanden sie sich wieder auf Nordkurs und erwarteten, Thyborön spät in der Nacht oder erst am Morgen zu sehen.
Auf der Kuhl, um den Großmast, hockten der „Admiral“ Old Donegal, Ben Brighton und der Kutscher. Zwischen ihnen lag Plymmie auf den Planken, hatte den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und blinzelte von einem zum anderen. Die Wolfshündin schien angespannt dem Garn zuzuhören, das die Seefahrer spannen.
Plötzlich lachte der Erste schallend und fragte zurück: „Wo hast du denn diesen Schwachsinn gelesen, Old Donegal? Wie soll man die Leute im alten Ägypten genannt haben?“
Old Donegal schaute ihn an, als habe er gesagt, daß der Regen von unten nach oben falle.
„Das weiß doch jeder. Das sind die Mumien.“
Der Kutscher zog die Brauen hoch und erklärte mit einer belehrenden Handbewegung.
„Die Mumien, sind sie nach deiner Meinung lebendig oder tot? Ich meine, daß irgendwann jeder den Geist aufgibt – falls er einen hat –, wenn man ihn mit Binden zusammenschnürt und er keine Luft mehr kriegt.“
Dan O’Flynns Vater hatte also wieder einmal in einem Buch gelesen. Er schaffte es mühelos, den Text und seine Bedeutung zu verdrehen oder zu verstümmeln. Immer dann, wenn sich der Alte mit dem Holzbein zurückzog und mit dem Finger eine Zeile entlangfuhr, ahnten die Arwenacks, daß er, von dem neuen Wissen überwältigt, herzerfrischende Erklärungen von sich geben würde. Jetzt waren also wieder einmal die Mumien dran.
„Natürlich kriegt er dann keine Luft mehr und geht über den Hades“, sagte Old Donegal.
„Aber die alten Ägypter haben, bevor sie Mumien waren, gelebt. Oder sind sie nach deiner Meinung als Mumien auf die Welt gekommen?“ bohrte der Kutscher weiter.
Die Frage berührte den „Admiral“ unangenehm. Er kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr, fast so wie Plymmie. Dann maulte er: „Nein. Sind sie nicht.“
„Also waren sie lebendig, nicht wahr?“ fragte Ben Brighton und zog das Spektiv aus der tiefen Tasche der gefütterten Segeltuchjacke.
„Na klar.“
„Keine gewickelten Mumien also“, stellte der Kutscher zufrieden fest. „Da haben wir wieder mal recht. Das heißt, daß die Leute im alten Ägypten die Ägypter waren.“
„Nicht die Mumien?“ fragte Old Donegal. Er war sichtlich verwirrt.
Ben Brighton stand auf, schaute über die See und suchte dann die Wellen mit dem Spektiv ab.
Nach einer Weile sagte er mit ernstem Gesicht: „Dort schwimmt ein alter Ägypter. Eine Mumie.“
„Du willst mich bloß auf den Arm nehmen“, wetterte Old Donegal. „Ihr habt mir auch nicht geglaubt, daß es Kings Island gibt.“
„Ich weiß, was ich sehe“, erwiderte der Erste. „Hier, nimm! Schau hinein mit deinem Triefauge. Und sage mir, was du erkennst.“
Auch Old Donegal stand auf. Ben gab ihm das Spektiv, zeigte über die See an Steuerbord, und dann rief er zum Heck: „Wahrschau, Sir! Fast dwars! Treibgut in ungewöhnlicher Form!“
„Verstanden, Ben“, ertönte es vom Grätingsdeck.
Nach einer Weile, in der sich der treibende Gegenstand in den Wellen hob und hinter den Kämmen wieder verschwand, in der sich auch die Schebecke in die Höhe schwang und in die Dünungstäler hinunterrauschte, drehte sich Old Donegal um und sagte entgeistert: „Tatsächlich, eine Mumie. Genauso stand’s im Buch.“
„Sollen wir sie rausholen?“ fragte der Kutscher und blickte zum Heck.
„Auffällig genug. Ziemlich groß“, sagte Ben. „Mal warten, wie Hasard entscheidet.“
Der Gegenstand konnte durchaus ein Leichnam sein oder ein schwimmender Mensch, aber ebenso gut auch ein großer Fisch, der bauchoben schwamm. Auch viele andere Deutungen waren möglich. Das Ding bewegte sich nicht, schlug nicht um sich und winkte nicht. Wahrscheinlich war es irgendein Abfall, zu irgendeiner Zeit über Bord irgendeines Schiffes gekippt. Man konnte nie wissen. Sie hörten, wie der Seewolf seine Befehle gab, und dann sprangen sie, um die Segelstellung zu verändern. Die Schebecke nahm direkten Kurs auf das weiße, längliche Treibgut.
Gegen Mittag dachte Bonger Oluvsen zum erstenmal daran, alles aufzugeben und einzuschlafen.
In diesem Fall gab er auch sich auf und warf bewußt sein Leben weg.
„Warum hilft mir keiner?“ rief er undeutlich.
Er hatte aufgehört zu fluchen. Der nächste Blick zeigte ihm, wie es um sein Boot stand.
Die Planken waren bis zum Dollbord aufgerissen. Das Wasser schwappte drei Handbreiten unter den Planken des Hecks, auf dem der Däne kauerte. Noch ein paar Stöße, und das Wrack zerlegte sich in Trümmer.
Aber Bonger hatte mit seinen abnehmenden Kräften nicht hausgehalten. Aus leeren und halb gefüllten Fässern bestand das Floß, das seinen Namen nicht verdiente, und aus allen Planken und Holzteilen, die er hatte packen können. Die Bündel und Kisten standen darauf. Er wußte, wie leicht diese wüste Konstruktion kippen konnte. Sie sollte ihn nur bis hinüber zum Ende der Düne bringen.
Er erinnerte sich, halb eingeschlafen, an seine Arbeit, die noch in der Nacht ihn selbst hatte retten sollen. Nicht die „Thyra“, das Wrack mußte er aufgeben. Der Felsen hatte sie fast völlig zerschmettert. Immer wieder hob Bonger die Schultern und ließ sie, völlig mutlos geworden, sinken.
Er drehte sich schwankend um. Sein Magen knurrte. Es war weit nach Mittag, und der Däne spürte nagenden Hunger. Die Kleidung war salzverkrustet, jeder Fingerbreit der Haut schien sich in rohes Fleisch verwandelt zu haben. Die Möwen glaubten schon, eine leichte Beute zu haben. Mit einer Spiere schlug er kraftlos nach ihnen.