Seewölfe - Piraten der Weltmeere 60

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Die Stimmung wurde immer drükkender. Niemand wußte, ob es Mittag, später Mittag oder Abend war. Immer wieder blickten sie zum Achterkastell mit dem Ruderhaus, zum Seewolf hin, zu Ben Brighton, die sich beide unterhielten.
Ferris Tucker schüttelte den Kopf. Seine roten Haare leuchteten wie eine Fahne aus Kupfer, sein Gesicht war blaß.
„Ich verstehe nicht, daß die beiden so ruhig sind“, sagte er, mit dem Daumen nach achtern deutend. „Das muß doch selbst dem Seewolf auf die Nerven gehen, zumindest aber Ben. Aber die tun fast so, als hätten wir das schönste Wetter.“
„Denen geht es auch nicht anders als uns“, versicherte Carberry. „Nur merkt man es ihnen nicht an. Habt ihr übrigens schon mal festgestellt, aus welcher Richtung der Wind weht? Seht doch einmal in die Takelage!“
An Deck war kein Windhauch mehr zu spüren, und doch waren die Segel schwach mit Wind gefülllt, und drängten das Schiff immer weiter vorwärts durch das schwarze Wasser. Unheimlich war das, nervenaufreibend. Woher wehte der Wind, den man nicht spürte, den man nicht hörte? Kam er aus jenem schmalen Himmelstreifen, der wie ein kleiner gelber Riß aussah?
Die See vor der „Isabella“ ließ sich kaum noch erkennen. Sie schien in ein riesiges Tor hineinzufahren, in die Wolken, wie der alte O’Flynn schon gesagt hatte. Schon jetzt reichten die Mastspitzen bis weit in den Himmel und verschmolzen mit ihm. Der Ausguck im Großmars war nicht mehr zu sehen.
„Dan!“ schrie der alte O’Flynn plötzlich voller Entsetzen. „Dan, melde dich!“
Alles blieb ruhig. Es folgte keine Antwort. In den Gesichtern der Männer spiegelte sich das Grauen.
Sie alle dachten an die Geschichte, die der Alte vorhin erzählt hatte. Von den Schiffsjungen, die als Greise wieder aus dem Großmars zurückgekehrt waren.
„Dan!“ brüllte er noch einmal.
„Was ist denn los?“ Die Stimme ertönte aus einer diffusen Nebelwand, die fahlgelblich schimmerte. Sie klang weit entfernt. Zu sehen war Dan immer noch nicht.
„Junge!“ keuchte Old Flynn. „Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Was siehst du, Dan?“
„Überhaupt nichts. Ich glaube, ich befinde mich irgendwo im Himmel. Ich sehe nichts mehr!“
„Enter sofort ab!“ donnerte der Alte.
„Ich darf den Ausguck nicht verlassen“, widersprach Dan.
„Und ich sage dir, verdammt noch mal, du sollst sofort abentern, nur ganz kurz, dann kannst du wieder aufentern.“
„Möchte wissen, was in den Alten gefahren ist“, nörgelte Dan vor sich hin. Aber er gehorchte, denn vor dem alten Donegal hatte er immer noch gehörigen Respekt.
Er enterte die Wanten ab, bis sie ihn alle sahen.
„Und jetzt?“ fragte Dan.
„Jetzt kannst du wieder aufentern. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet.“
Kopfschüttelnd verschwand Dan wieder. Er hatte den Großmars noch nicht ganz erreicht, da war er wie durch Zauberei verschwunden. Der Alte sah richtig erleichtert aus, er stieß einen langen Seufzer aus.
Hasard sah dem Treiben mit stoischer Ruhe und Gelassenheit zu. Was soll’s? dachte er. Ich kann es ja doch nicht ändern. Sollen sie sich meinetwegen die Köpfe heiß reden. Einmal werden sie sich schon wieder beruhigen. Und ich selbst fühle mich ja auch nicht ganz wohl in meiner Haut, wenn ich ehrlich zu mir bin.
Zu allem Überfluß begann es am Bug, des Schiffes leicht zu schaben und zu kratzen. Das Schaben verstärkte sich und wurde lauter.
„Gott steh uns bei“, murmelte Carberry und schlug mit den Fingern ein Kreuz in die Luft.
„Tiefe ausloten!“ rief Hasard laut. „Beeil dich, Smoky!“
Smoky schien ihn gar nicht gehört zu haben. Mit schreckgeweiteten Augen lauschte er dem unheimlichen Geräusch nach.
Da war es schon wieder. Die „Isabella“ hob sich ein wenig höher aus dem Wasser. Das Schaben und Kratzen lief an der Steuerbordseite entlang, dann hörte es auf.
Erst jetzt gehorchte Smoky. Blitzschnell lief er nach Backbord und feuerte das Lot über Bord. Es lief ab, bis er den Rest der Lotleine in der Hand hielt.
„Mehr als fünfzig Faden“, verkündete er.
Der Seewolf warf dem Deckältesten einen strengen Blick zu.
„Das nächste Mal etwas schneller, Smoky, verstanden?“
„Aye, aye, Sir, Verzeihung!“
Wieder ein ganz feines Schaben am Schiffsrumpf. Ferris Tucker begannen sich die Haare zu sträuben. Carberrys Gesicht überzog sich mit einer fahlen Blässe. Die anderen duckten sich unwillkürlich hinter das Schanzkleid, als würde gleich der Teufel persönlich seine Klauen nach ihnen ausstrecken.
„Meermänner“, flüsterte der Profos.
Es kostete ihn eine unwahrscheinliche Überwindung, über Bord zu sehen. Jeden Augenblick glaubte er, dort einen Kopf aus dem Wasser ragen zu sehen, den Kopf eines Meermannes, wie sie seit eh und je durch die Geschichten der Seefahrt geisterten. Aber er sah nichts. Dennoch wurde das Schaben und Kratzen wieder lauter.
„Es müssen mehrere sein“, sagte er leise. „Sie sehen einem Menschen verblüffend ähnlich, nur der Unterkörper läuft ähnlich spitz zu wie bei einem Fisch. Manche sind den Seeleuten wohl gesonnen, andere wiederum bösartig.“
Das hatten die anderen auch schon gehört. In den Kneipen erzählte man davon, daß es im geheimnisvollem Sargassomeer etliche von ihnen geben sollte. Sogar Nathaniel Plymson, der feiste Wirt von der „Bloody Mary“, kannte sie.
Aber zum Glück hatte der Profos ein Rezept gegen sie.
„Kutscher!“ befahl er mit heiserer Stimme. „Lauf schnell in die Kombüse und bringe eine leere Flasche mit. Verschließe sie gut!“
Der Kutscher, von Aberglauben genauso geplagt wie die anderen, hauptsächlich was dieses Meer betraf, rannte los, packte eine leere Flasche, verkorkte sie und kehrte wieder zurück. Hoffnungsvoll reichte er sie dem Profos.
„Sehr gut, Kutscher. Ich werde die Flasche jetzt über Bord werfen, ganz dicht am Rumpf, und dann werdet ihr sehen, das verdammte Kratzen dieser Meermänner hört auf. Sie spielen am Schiff herum, aber wenn sie die Flasche sehen, finden sie sie interessanter, und dann beginnen diese Unholde mit ihr zu spielen. Jedenfalls lassen sie augenblicklich vom Schiff ab!“
Carberry begab sich aufs Vorschiff, beugte sich über die Reling, sah ins Wasser und ließ die Flasche dann langsam an der Bordwand entlanggleiten. Er verfolgte sie mit den Blicken, wie sie am Schiff verbeiglitt, in etwas Dunkles geriet, das er nicht identifizieren konnte, und dann verschwand.
Da hörte das seltsame Kratzen auf. Triumphierend sah der Profos sich um.
„Na, was habe ich gesagt, was, wie! Da staunt ihr. He! Eben reckte sich ein dunkler Arm aus dem Wasser und zog die Flasche zu sich herunter. Ich wette, die Meermänner sind jetzt mit der Flasche beschäftigt.“
Sie lauschten angestrengt, aber das Schaben und Kratzen wiederholte sich nicht. Der Profos ging stolzgeschwellt zum Achterdeck, um Hasard sein Gegenmittel anzupreisen. Er kam von der Backbordseite an der Five Rail vorbei, und wollte einen Schritt weiter nach achtern tun, als ihn fast der Schlag traf.
Er glaubte, jeden Moment verrückt werden zu müssen. Seine Zähne klapperten, er zitterte leicht und wurde aschgrau im Gesicht. Er stand nur da, starrte und brachte keinen Ton heraus.
Auf der Reling des Achterdecks hockte der Riesenvogel! Unbemerkt hatte er sich hinter dem Ruderhaus niedergelassen.
„Du Höllenvieh!“ brach es gequält über des Profos zuckende Lippen. „Du verdammter Satansbraten. Verschwinde, du Mißgeburt, du bringst uns allen den Tod!“
„Was ist denn jetzt schon wieder los, Prof ...“
Das Wort blieb Hasard im Hals stecken, als er den fluchenden und leichenblassen Profos sah und vor ihm den dunklen Riesenvogel, dessen linkes Auge Carberry höhnisch zu fixieren schien. Hasard war total verblüfft. Niemand hatte bemerkt, wie sich der schwere Albatros hier niedergelassen hatte.
Die ganze Meute stürzte über die Kuhl. Stenmark und Matt Davies, der Mann mit der Hakenprothese, stürmten allen voran aufs Achterkastell. Der Kutscher hatte sich einen Belegnagel geschnappt und schwang ihn wie ein Wilder seine Keule.
„An Deck kann man ihn erschlagen, hast du gesagt“, schnaufte der Kutscher, „da kann nichts passie ...“
In dem Moment breitete der Albatros seine Schwingen aus, furchterregend und drohend, sie überspannten fast das halbe Deck. Die Männer wichen zurück, als der große Schnabel sich öffnete, die Schwingen einmal die Luft peitschten und der Riesenvogel in den Beinen einknickte, um sich dann fallen zu lassen. Noch im Fall schlugen die Schwingen weiter und hoben den großen Körper schwerfällig in die Luft. Danach begann er elegant zu segeln, beschrieb eine Kurve, schraubte sich in den greifbar nahen Himmel und verschwand darin.
Hasard sah seine Leute an, der Reihe nach. Er musterte die blassen, bleichen und grauen Gesichter, dann lachte er plötzlich los, daß man seine weißen Zähne blitzen sah.
„Der Vogel ruht sich doch nur aus“, erklärte er, „der ist doch völlig harmlos. Wahrscheinlich ist er nur vor einem Sturm geflüchtet, der uns noch einholen wird. Ob ihr in tötet oder nicht, hat auf das Wetter nicht den geringsten Einfluß. Außerdem hätte ich es nicht zugelassen.“
„Und die Meermänner, die vorhin am Schiff gekratzt haben?“ hielt Carberry dagegen. „Jetzt hat das Kratzen aufgehört, weil ich eine Flasche über Bord geworfen habe, mit der sie spielen können. Ich sage euch, der Vogel bringt noch mehr Unglück über uns, schon weil er sich auf dem Schiff niedergelassen hat.“
Diesmal sollte der Profos allerdings recht behalten, auch wenn Hasard ihm das auszureden versuchte. Und damit fand der alte Aberglaube wieder neue und reichliche Nahrung.
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