Seewölfe - Piraten der Weltmeere 701

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Impressum
© 1976/2021 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-123-4
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Fred McMason
Gegen einen Judaslohn verraten sie skrupellos den Stützpunkt der Korsaren
Auf Great Abaco, dem Stützpunkt der Korsaren, war heute der Teufel los. Man schrieb den 13. Dezember 1599 im Jahre des Herrn, und dieser Dreizehnte schien ein ausgesprochener Pechtag zu sein.
Vor kurzem war in der Nähe von Great Abaco eine englische Galeone in einem verheerenden Sturm gesunken. Sieben Engländer konnten sich retten, wurden auf dem Stützpunkt aufgenommen und verköstigt.
Diese sieben Kerle, von denen Thorfin Njal schon jetzt behauptete, sie seien erbärmliche Bastarde, waren verschwunden, und zwar mit der „Empress of Sea II.“, deren Besitzer Old O’Flynn war.
Im Stützpunkt standen daher alle Anzeichen auf Sturm, denn jetzt war die Lage bekannt, und die Gefahr drohte, daß bald räuberische Elemente hier aufkreuzen würden …
Die Hauptpersonen des Romans:
Milton Smithfield – der ehemalige Dritte Offizier der untergegangenen „Glorious“ wird zum Judas Ischariot.
Jonny Warwick – empfängt einen Pistolenschuß, weil er den Verrat anprangert und die Wahrheit ausspricht.
Hosea Ashburn – hält sich als ehemaliger Kaufmann für besonders klug und wird trotzdem hereingelegt.
Don Lucian de Arellano y Aragon – will den Stützpunkt der Korsaren ausräuchern und erlebt eine höllische Überraschung.
Thorfin Njal – der Wikinger wetzt sein „Messerchen“, denn ein schwerer Kampf steht bevor.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
Der Wikinger Thorfin Njal stand mit untergeschlagenen Armen am Strand der Cherokee-Bucht und sah ergrimmt zu, wie sein Schwarzer Segler „Eiliger Drache über den Wassern“ von Wein- und Bierfässern gelöscht wurde, alles das Zeugs, das er aus Tortuga mitgebracht hatte.
Die Fässer verschwanden zum größten Teil in Old Donegals „Rutsche“, der Strandkneipe mit dem Spezialeffekt.
Thorfin wandte den Blick zum Wrack der „Nuestra Señora de la Compostela“. Das Schiff war völlig ausgebrannt, seit es angeblich vom Blitz getroffen worden war. Den Rest konnten sie bestenfalls noch als Brennholz verwenden.
Zornig spie der in rauchgraue Felle gekleidete Nordmann in den hellen Sand der Bucht. Seine rechte Sandale hieb in den Sand und ließ ihn aufwirbeln.
Neben ihm standen der Stör, wegen seines langen Gesichtes Stör genannt, die Rote Korsarin Siri-Tong und der Boston-Mann mit seinem goldenen Ring im Ohr.
Sehr weit davon entfernt, und ein bißchen in stiller Demut versunken, hielt sich ein anderes Individuum auf, bei dessen Anblick dem Wikinger jedes Mal der Kupferhelm in Flammen aufzugehen drohte.
Der Kerl, den er nicht leiden konnte, war der ehemalige Gouverneur von Havanna, Don Antonio de Quintanilla. Damals war er ein korrupter, vollgefressener und hinterhältiger Halunke gewesen, ein fetter Frosch mit dem Wanst einer großen Trommel.
Jetzt hatte er so gut wie keine Speckfalten mehr, war von der Sonne gebräunt und erstarkt. Aber seine heimliche Angst vor dem Wikinger, der ihn damals hatte aufknüpfen wollen, wurde er nicht los, und so stand er verlegen herum und knetete seine Finger. Aus diesem Nordmann und seinen rauhen Gesellen war er noch nie so richtig schlau geworden.
Zum Glück aber schenkte ihm der finstere Nordmann keine Bedeutung, und so half Don Antonio fleißig mit, als die Fässer in die „Rutsche“ gebracht wurden.
„Dann habe ich also doch richtig gesehen“, schnaubte der Wikinger, „als ich sagte, die ‚Empress‘ segele zwischen zwei Nebelbänken gerade an uns vorbei.“
Er drehte sich um und blickte jetzt dem Stör in die Augen. Dessen Adamsapfel wanderte langsam nach oben, denn er kannte diesen Blick, der nichts Gutes verhieß.
„Aber was sagtest du großspurig, du halbgereffter Heringsarsch? ‚Wirst dich wohl getäuscht haben, Kapitän. Wer soll denn ausgerechnet jetzt mit der ‚Empress’ hier rumgurken!‘ Genau das waren deine Worte, du grinsende Beutelratte.“
Der Stör schluckte abermals, wobei sein Gesicht noch länger wurde. Thorfin war für seine drastischen Ausdrücke ebenso bekannt wie der Profos Edwin Carberry, und er nahm nie ein Blatt vor den Mund.
Jetzt konnte der Stör nur kleinlaut und beipflichtend nicken.
„Laß ihn“, sagte Siri-Tong sanft. „Jeder kann sich mal irren. Aber es steht fest, daß die sieben Kerle die ‚Empress‘ genommen haben und bei Morgengrauen verschwunden sind.“
„Welche Richtung?“ brüllte der Nordmann, außer sich vor Wut.
„Unbekannt. Keiner kennt den Kurs. Niemand hat die Halunken gesehen. Sie haben unsere Gutmütigkeit ausgenutzt, das Schiff gestohlen und sind auf Nimmerwiedersehen verschwunden.“
„Vielleicht sind sie ja nur mal so hinausgesegelt“, wagte der eingeschüchterte Stör zu bemerken.
„Na klar, um Seegurken zu jagen oder Prielwürmer zu angeln“, höhnte der Wikinger. „Geht das in deine verdammte Dampfglocke“, dabei hieb er dem Stör zweimal kräftig die Faust auf den Schädel, „nicht hinein, oder bist du so dämlich?“
„Ich dachte ja nur, kann ja sein, äh, oder so“, murmelte der Stör, der an den beiden Kopfnüssen zu kauen hatte. Einen anderen hätten die freundlichen Klapse schlagartig in den Sand gestreckt. Aber der Stör vertrug schon einiges.
„Diese Bastarde!“ fluchte Thorfin. „Sobald der Schwarze Segler entladen ist, jage ich den Kerlen nach, die unsere Gastfreundschaft ausgenutzt und uns auch noch beklaut haben. Und wenn ich sie erwische, werden sie an den Rahen zappeln, alle sieben.“
„Jean Ribault ist schon unterwegs und versucht, sie zu finden. Aber in diesem Inselgewirr ist das nicht einfach.“
„Weiß ich“, sagte Thorfin grollend. „Hier gibt es mehr als tausend Verstecke. Aber jetzt steht unsere Existenz auf dem Spiel, denn den verdammten Schnapphähnen ist die Lage des Stützpunktes bekannt. Eines Tages tauchen sie hier überraschend mit einer Übermacht auf. Und dann?“
„Warum sollten sie?“ fragte der Boston-Mann ruhig. „Sie haben ein Schiff geklaut und sich damit abgesetzt. In der Zeit, in der sie hier waren, haben sie nichts über den Seewolf erfahren. Und die Schatzhöhlen kennen sie auch nicht.“
„Da bin ich mir nicht ganz so sicher“, meinte Siri-Tong. „Die Ansammlung der Schätze mögen sie vielleicht nicht entdeckt haben, aber als Engländer wissen sie längst, wer sich hier aufhält. Ich bin mir jetzt auch fast sicher, daß die beiden Schiffe nicht zufällig durch einen Blitzschlag bei dem Unwetter in Brand gerieten. Jetzt gibt mir doch einiges sehr zu denken.“
„Du glaubst, die Kerle haben die günstige Gelegenheit bei dem Gewitter genutzt und die Galeonen in Brand gesteckt?“ fragte Thorfin Njal fassungslos.
„Hat jemals auf Great Abaco ein Blitz eins unserer Schiffe getroffen, obwohl hier häufig viel schlimmere Gewitter toben?“ entgegnete die Rote Korsarin. „Ich werde den Eindruck nicht los, als seien die Kerle ziemlich planvoll Vorgegangen.“
„Und die englische Galeone, die im Sturm gesunken ist?“
„Das war natürlich ein Unglück, eine Katastrophe, ein reiner Zufall. Erst als sie hier an Land waren, haben die Engländer vermutlich etwas gemerkt und sind dann zielstrebig vorgegangen. Es gab auch zwei Tote unter Hesekiels Männern, ein Vorfall, der rätselhaft erschien und nie ganz aufgeklärt wurde.“
Der Boston-Mann, ein Korsar wie aus dem Bilderbuch, schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Was wollten sie damit bezwecken?“
„Schwächung der Kampfkraft“, erwiderte die Eurasierin. Ihre dunklen Mandelaugen blieben kühl und beherrscht, obwohl sie sich der ganzen Tragweite des Geschehens bewußt war. „Kleine Nadelstiche, eine Taktik, die wir ja auch immer wieder bei den Spaniern anwenden, und die schließlich zu großen und tödlichen Wunden führt. Wir haben jetzt zwei Schiffe weniger.“
„Drei“, knurrte Thorfin, „denn die ‚Empress‘ haben die triefäugigen Kanalläuse ja ebenfalls geklaut.“
Der Wikinger sah jetzt aus wie der nordische Gott Thor, wenn er voller Wut seinen Hammer schleuderte. Sein Gesicht war so grimmig und verzogen, daß es nur noch aus drohenden Augen und einem rötlichgrauen Bart zu bestehen schien.
Er wandte den Kopf und sah Don Antonio, der sich eins der Fässer auf die Schulter gewuchtet hatte und damit über die Stelling zum Strand gehen wollte.
Der Blick des Wikingers wurde jetzt sehr wachsam und mißtrauisch.
„Steckt dieser Schmachtlappen vielleicht dahinter?“ fragte er leise und drohend. „Dem Kerl habe ich noch nie getraut, damals nicht und heute auch nicht. Vielleicht sollte man ihn doch ein bißchen aufhängen, um zu erfahren, ob er nicht doch noch etwas zu beichten hat.“
„Verrenne dich nur nicht wieder in diese verrückte Idee“, sagte die Rote Korsarin. „Aus dem Saulus ist längst ein Paulus geworden.“
„Saulus – Paulus?“ fragte der Wikinger mißtrauisch. „Ich denke, der Schmachtlappen heißt Antonio.“
„Das war nur ein biblischer Vergleich, Thorfin. Ihn kannst du getrost ausklammern, er hat sich immer sehr zurückgehalten. Die sieben Kerle haben das alles allein bewerkstelligt und ganz sicher niemanden in ihre Pläne eingeweiht.“
Der Wikinger war bekannt für seine Sturheit und seinen Eigensinn. Daher schüttelte er zweifelnd den Kopf, auf dem der gewaltige und blankpolierte Kupferhelm saß, von dem Carberry immer behauptete, der Nordmann züchte darunter eine besondere Art von Riesenläusen.
„Dem Kerl traue ich alles zu, alles, bei Odin und seinen Raben! Der kriegt es fertig und beklaut noch einen toten Priester.“
„Er hat nichts damit zu tun“, versicherte auch der Boston-Mann. „Du kannst dein Mißtrauen ihm gegenüber vergessen.“
Der Stör, der immer gern die letzten Worte nachquatschte, wenn er sie für wichtig hielt, wollte gerade den Mund auftun, doch er schloß ihn schnell wieder, als er den grimmigen Blick sah. Zwei Kopfnüsse hatte er heute schon weg, und auf die dritte wollte er gern verzichten.
Während der Schwarze Segler weiter entladen wurde, faßten sie noch einmal kurz die Geschehnisse zusammen.
Sieben Engländer hatten die Strandung überlebt und waren aufgenommen worden, weil sie absolut hilflos gewesen waren. Gedankt hatten sie es den Korsaren, indem sie eine Menge Ärger verursacht hatten – Schiffe in Brand gesteckt und wahrscheinlich zwei Männer ermordet.
Siri-Tong vermutete, daß die beiden Männer unliebsame Zeugen bei irgendeiner nächtlichen Aktion gewesen und deshalb umgebracht worden waren.
Die Engländer hatten es allerdings so geschickt eingefädelt, daß es aussah, als wären die beiden mit Messern übereinander hergefallen und hätten sich gegenseitig umgebracht.
Einen Haken hatte die Sache allerdings, denn ausgerechnet die beiden waren dicke Freunde gewesen, die sich nie gestritten hatten.
„Da haben wir uns sieben dicke Läuse in den Pelz gesetzt“, sagte Thorfin etwas bekommen. „Eines Tages werden sie hier wieder aufkreuzen, wenn wir sie nicht bald schnappen. Ich könnte mir selbst in den Hintern treten, daß ich sie gesehen und nicht sofort verfolgt habe.“
Dabei traf den Stör wieder ein eisiger Blick, der ihn erschauern ließ.
„Immer ich“, murrte er. „Ich bin an allem schuld, egal ob es Schnapphähne waren oder ehrliche Männer. Ich bin auch schuld, wenn dein Helm nicht richtig poliert ist.“
„Einer muß die Schuld haben“, knurrte der Wikinger. „Ich als Kapitän habe die Verantwortung, und wenn etwas schiefgeht, dann bist du daran schuld. Das war schon seit allen Zeiten so.“
Siri-Tong ließ den wunderlichen Kauz von Nordmann brummeln und grummeln. Sie kannte ihn ja zur Genüge. Der nordische Poltermann, der selbst in der Hitze der Karibik nie seine rauchgrauen Felle ablegte und herumlatschte wie ein Relikt aus grauer Vorzeit, würde noch eine Weile herummeckern und dann mit seinem Viermaster zur Suche nach den Kerlen aufbrechen.
„Gehen wir zum Schwarzen Segler hinüber“, schlug sie vor. „Wenn wir mithelfen beim Löschen, sind wir schneller fertig.“
Thorfin Njal überhörte das glatt.
Ohne ein Wort zu verlieren, drehte er sich um und ging mit großen Schritten dorthin, wo einst an der kleinen Holzpier die „Empress of Sea II.“ gelegen hatte.
Jetzt lag da nur noch ein Nachen, und auf dem Holzsteg hockte Martin Correa, der Steuermann der „Empress“, der mit wahrer Engelsgeduld die Marotten des Old O’Flynn über sich hatte ergehen lassen. Martin war der Bootsmann und Navigator der „Empress“ gewesen.
„Ist dir eigentlich nicht aufgefallen“, polterte der Wikinger los, „daß man dir den Kahn direkt unter dem Hintern weggeklaut hat?“
Martin, dunkelblond und grauäugig, schreckte hoch. Er war ein ruhiger und besonnener Mann mit einer Geduld, die sogar Old Donegal manchmal erschüttert hatte.
„Ja, das ist mir schon aufgefallen“, sagte er.
„Und jetzt hockst du da und pennst vor dich hin. Davon kehrt das Schiffchen aber auch nicht zurück.“
„Ich denke scharf nach.“
„Aha, er denkt scharf nach“, höhnte Thorfin. „Willst du vielleicht warten, bis Odins Raben hier aufkreuzen und dir den Kurs der ‚Empress‘ zeigen?“
„Odins Raben sind fort“, sagte Martin seelenruhig. „Und Odin selbst ist längst untergegangen. Hugin und Munin sind davongeflogen, weil dein beknackter Odin sie falsch behandelt hat.“
„Beknackter Odin“, fragte der Wikinger entgeistert. „Du willst dich wohl versündigen, was?“
Martin grinste den Wikinger an.
„Munin war die Erinnerung und Hugin der Gedanke“, sagte er. „Und genau das vollziehe ich jetzt im Geiste nach. Ich versuche mich in die Lage der Kerle zu versetzen. Sie haben die ‚Empress‘ bei Nacht und Nebel geklaut, als ich nicht an Bord war, und sind losgesegelt. Ich weiß nur nicht, ob sie sich in dieser Gegend auskennen. Wenn sie sich auskennen, dann sind sie nach Andros gesegelt, wo man sich vorzüglich verstecken kann. So würde ich das jedenfalls tun, denn dort sind Mangrovensümpfe mit prächtigen Verstecken.“
„Und wenn sie sich nicht auskennen?“
„Dann decken sie sich mit Wasser und Proviant irgendwo ein und gehen auf nordöstlichen Kurs Richtung England. Dort können sie dann wie die Made im Speck bis ins hohe Alter leben.“
„Das verstehe ich nicht“, brummte Thorfin. „Wenn sie den Kahn verkaufen, kriegen sie bestimmt nicht so viel dafür, daß es etliche Jahrzehnte reicht.“
„Wenn ich von hier verschwinden wollte und ein ausgekochter Bastard wäre“, entgegnete Martin, „dann hätte ich nicht nur das Schiff genommen.“
„Sondern?“
„Ein paar Schätze vielleicht.“
Dem Wikinger gefror das Blut in den Adern. Er kniff die Augen zusammen, strich über seinen rötlichgrauen Bart und musterte Martin Correa.
„Du willst doch damit nicht etwa sagen, daß sie sich auch noch an unseren Schätzen vergriffen haben“, flüsterte er.
„Das wollte ich damit allerdings sagen.“
„Und das sagst du so ruhig?“ brüllte Thorfin.
„Ändert es etwas, wenn ich es in die Welt brülle – so wie du? Es ist ja nur eine Vermutung. Ich denke eben. Du solltest mal deinen Helm abnehmen, damit sich die Gedanken freier entfalten können. Denken bringt viel mehr ein, als herumzupoltern und zu brüllen.“
„Verdammt, bei Odins Geiern!“ röhrte der Wikinger. „Da soll mich doch gleich ein Eisbär am Hintern kratzen.“
„Hier gibt’s keine Eisbären“, sagte Martin und stand auf. „Los, wir sollten mal nachsehen.“
2.
Der Wikinger rannte los wie ein Büffel. Erstaunte Blicke folgten ihm, wie er in Richtung der unterirdischen Schatzhöhlen davonstürmte.
Mary O’Flynn, geborene Snugglemouse, und Edwin Shane, der jüngste O’Flynn-Ableger, sahen dem Büffel nach, wie er tobend seinen Weg am Strand entlang nahm.
„Hat den Nordpolaffen was gestochen?“ fragte Edwin Shane. „Warum rennt der so?“
Mary O’Flynn seufzte ein bißchen und gab dem Bengel einen leichten Klaps.
„Du sollst nicht immer Nordpolaffe zu ihm sagen“, tadelte sie mit ihrer rauchigen Reibeisenstimme. „Er hört es lieber, wenn man ihn Wikinger oder Nordmann nennt.“
„Daddy sagt aber auch immer Nordpolaffe“, krähte das Söhnchen.
Martin Correa und die Rote Korsarin folgten dem Wikinger zu den labyrinthartigen Hohlen. Karl von Hutten, der hochgewachsene Sohn einer indianischen Häuptlingstochter und Sohn des Generalkapitäns vom deutschen Walser-Handelshaus Venezuelas, schloß sich ihnen an.
Vor den gut getarnten und nicht sichtbaren Höhlen blieben sie alle vier stehen.
„Ich kann mir schon denken, was passiert ist“, sagte Karl von Hutten. „Die Kerle haben sich an unserem Gold vergriffen, bevor sie von hier verschwanden. Also sehen wir nach.“
„Woher willst du das wissen?“ fragte Thorfin.
„Eine logische Vermutung. Ich wollte vorhin schon mal nachsehen.“
„Na klar“, tönte Thorfin. „Das war gleich mein allererster Gedanke. Gehen wir mal hinunter.“
Das Labyrinth, eine gigantische Tropfsteinhöhle, die einen riesigen Teil der Insel unterirdisch durchzog, nahm sie auf.
Diese Höhlen hatte Old O’Flynn durch einen reinen Zufall entdeckt, nämlich damals, als er mit Mary O’Flynn Streit gehabt und sie ihm kurzerhand eine Bratpfanne auf den sturen Schädel geschlagen hatte. Daraufhin war der „Admiral“ wütend und zugleich dösig über die Insel getaumelt und ganz plötzlich im Boden versunken. Dieser Zufall hatte ihnen die Höhlen beschert und Old O’Flynn eine alptraumhafte Nacht, denn hier unten gab es fürchterliche Gestalten aus Stalagmiten und Stalaktiten, die Geister und Gnomen, Riesen und Trollen ähnelten.
In der letzten Zeit war ein Weg in die Tiefe aus dem Gestein angelegt worden. Man sauste jetzt nicht mehr hinunter wie damals, sondern konnte über zwei lange Windungen nach unten gehen.
Kurze Zeit später standen sie in der riesigen Haupthöhle, einem Dom, in dem Kristalle in allen Farben glänzten und künstliche Seen und eine Himmelskuppe vorgaukelten.
Karl von Hutten entzündete eine Fackel.
In dem Labyrinth waren überall Halterungen für Fackeln angebracht worden. Eine weitere Höhle war zu einem Versteck umfunktioniert, falls Great Abaco ganz überraschend angegriffen werden sollte. Dann konnten sich hier vorerst einmal die Frauen und Kinder verstecken.
Als die Fackel brannte, sahen sie sich um.
„Genau das habe ich mir gedacht“, sagte Martin Correa in die Stille hinein. „Die Kerle haben kräftig abgeräumt.“
Er sagte es leidenschaftslos und ohne sich aufzuregen, aber den nordischen Oberschrat regte es mächtig auf, daß man nicht nur ihr Vertrauen mißbraucht, sondern sie auch noch so heimtückisch beklaut hatte.
„Diese Mistkerle“, ächzte er und hob drohend die Faust. „Diese Bande werde ich bis zum Jüngsten Tag jagen. Wir werden noch mehr Schiffe losschicken und alles absuchen.“
„Jean ist unterwegs“, sagte von Hutten ruhig. „Jerry Reeves geht ebenfalls auf Suche. Mit dir sind das drei Schiffe. Mehr können wir nicht abstellen, ohne unsere Kampfkraft zu schwächen. Zwei segeln Patrouille, und den Rest brauchen wir auf der Insel.“
Thorfin wollte das natürlich wieder nicht einsehen, doch schließlich gab er nach, als von Huttens Blick etwas kühler wurde. Der blonde und dunkeläugige Mann mit dem exotischen Aussehen hatte so eine Art, den Wikinger anzublicken, daß der ständig das Gefühl hatte, seine rauchgrauen Felle würden in Salzwasser schwimmen.
„Na gut“, knurrte er, „aber mich hält keiner auf. Ich werde …“
„Das wissen wir bereits“, sagte Siri-Tong knapp. „Du wirst sie bis zum Jüngsten Tag jagen. Jetzt wollen wir mal feststellen, was die Halunken mitgenommen haben.“
Kein Geringerer als ausgerechnet Don Antonio de Quintanilla, an dessen klebrigen Fingern früher viel Geld und Gold hängengeblieben war, hatte eine Aufstellung über die Schätze angelegt. Peinlich genau hatte er jede Kiste, Truhe oder Faß aufgeführt, und das alles noch einmal für die einzelnen Höhlen aufgegliedert.
Der Korsarin fiel es nicht schwer, genau festzustellen, was insgesamt fehlte. Die Kerle hatten in Eile gehandelt und sich daher in der großen Haupthöhle bedient.
Ein paar Minuten schwiegen sie, bis Siri-Tong alles verglichen hatte.
„Na, was fehlt nun?“ fragte Thorfin ungeduldig.
Das Gesicht der Roten Korsarin war ernst. Nicht aus dem Grund, weil etliche Truhen oder Kisten fehlten. Sie dachte viel weiter, behielt diese Gedanken aber vorerst noch für sich.
„Es fehlen sechs eisenbeschlagene Truhen. Drei davon waren mit indischem Schmuck aus Südamerika gefüllt, drei andere enthielten Silberbarren. Vierzehn Kisten, gefüllt mit Gold- und Silbermünzen, sind ebenfalls verschwunden. Und ein Fäßchen voller erlesener Perlen haben die Schnapphähne außerdem mitgenommen.“
„Ist das alles?“ fragte Thorfin.
„Ist das etwa nichts?“ entgegnete Siri-Tong.
„Einundzwanzig Kisten, Truhen und Fässer insgesamt“, zählte Thorfin auf. „Das ist nur ein Bruchteil, obwohl mich das mächtig ärgert.“
Siri-Tong sah sich noch einmal um, konnte aber nicht feststellen, daß noch mehr fehlte. In die hinteren Höhlen, wo ebenso kostbare Dinge lagerten, waren die Engländer jedenfalls nicht vorgedrungen. Das wäre viel zu zeitraubend gewesen. Also hatten sie sich beeilt und sich mit dem begnügt, was sie in der großen Höhle in aller Eile zusammenraffen konnten.
„Es geht nicht allein um ein paar Kisten mit Münzen“, erklärte die Rote Korsarin. „Es geht darum, daß diese Kerle Blut geleckt haben. Sie haben sich hier gründlich umgesehen, und jetzt, da sie einen Teil der Beute haben, wird ihre Gier die Oberhand gewinnen, wie das leider so üblich ist. Man gibt sich nicht mit ein paar Goldstücken zufrieden, wenn man weitere tonnenweise haben kann. Das ist es, was ich befürchte: Irgendwann, vielleicht schon bald, werden sie wieder aufkreuzen, geblendet von den Schätzen, unberechenbar, alles aufs Spiel setzend, auch ihr Leben.“
„Was wollen sieben Kerlchen gegen uns ausrichten?“ fragte Thorfin und schnippte mit den Fingern. „Nicht so viel!“
„Sie haben bereits eine ganze Menge gegen uns ausgerichtet“, sagte Karl von Hutten ernst. „Sie haben zwei Schiffe versenkt, zwei Männer getötet, uns bestohlen und sich die Lage des Stützpunktes gemerkt. Das sind sehr empfindliche Nadelstiche. Wir werden Mühe haben, diese Kerle zu erwischen, die längst über alle Wellen sind. Du vergißt, Thorfin, daß die Dreimast-Karavelle ein ungewöhnlich schnelles Schiff ist. Das holen wir mit den Galeonen oder deinem Viermaster niemals ein.“
„Der Meinung bin ich auch“, sagte Siri-Tong. „Diese Männer werden andere aufhetzen oder um sich scharen, seit sie wissen, was hier verborgen ist. Möglicherweise tun sie sich sogar mit den Spaniern zusammen, wenn das Erfolg verspricht.“
Wie recht die Rote Korsarin mit ihrer Vermutung hatte, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Ihre Besorgnis war daher echt, und auch der Poltermann wurde immer nachdenklicher.
„Martin vermutete, daß sie sich auf Andros verstecken oder aber direkt nach England zurücksegeln“, meinte Thorfin schwach. „Ist die ‚Empress‘ denn gut verproviantiert?“
Martin Correa nickte düster. „Leider, leider. Sie ist, wie immer bei unserer Genauigkeit, mit Trinkwasser und Proviant für mindestens einen Monat ausgerüstet. Und das für mindestens ein halbes Dutzend Männer. Die Kerle werden also für eine lange Zeit keine Not leiden.“