Vorsichtshalber lasse ich meine Kontaktlinsen in Deutschland, denn die Augen sind empfindlich für Infektionen. Falls dem Wasser aus der Leitung nicht zu trauen ist, sollte ich mir vielleicht besser nicht mehrmals täglich ins Auge fassen. Ja, ich weiß, ich bin ein Viren-Phobiker mit ausgeprägtem Vollsyndrom. Stets weiß ich, welche kritischen Kontaktflächen ich seit dem letzten Händewaschen berührt habe. Richtig schlimm war das alles, als ich noch ein kleiner Junge war. Meine Mutter musste mich quasi mit Gewalt vom Waschbecken fernhalten. Im Winter platzte meine Haut sogar an den Händen auf, wegen des vielen Händewaschens mit anschließendem Gang hinaus in die Kälte. Damals gab es Handcreme kombiniert mit Baumwollhandschuhen, um sie über Nacht einwirken zu lassen. Aus dem kindlichen Waschzwang resultierte schließlich ein bewusstes Interagieren mit meiner Umwelt. Man kann davon denken, was man will … Aber ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren irgendwann einmal krank gewesen zu sein, trotz Grippewellen und einer Norovirus-Epidemie an meiner damaligen Schule, die deshalb sogar vom Gesundheitsamt geschlossen werden musste. Warum erzähle ich das?
Nun ja, auch wenn ich mein Verhalten im Gegensatz zu früher nicht mehr als zwanghaft einstufen würde, so ist Indien dennoch eine ganz persönliche Herausforderung für mich hinsichtlich meines Bedürfnisses nach Hygiene. In diesem Kontext hatte ich ein wirklich tolles Gespräch mit Heilerin und Bestsellerautorin Annette Bokpe, die bis zu ihrer Scheidung eine waschechte afrikanische Kronprinzessin gewesen war und während der Indienreise eine geschätzte Freundin werden sollte. Sie ist eine dieser inspirierenden Begegnungen, für die ich sehr dankbar bin, doch dazu später mehr. Als ich sie, wie einige andere der Mitreisenden, vorab interviewte, fiel das Thema auf meine Bedenken. Aus meinem kleinen Hygienetick machte ich kein Geheimnis und so amüsierte sie sich köstlich darüber, dass der Aufenthalt eine Grenzerfahrung für mich werden würde. Danke, Annette! Genau das habe ich gebraucht. So in etwa bewertete ich zutiefst sarkastisch ihre Anmerkung am Telefon. Doch dann zeigte sie mir anhand ihrer jahrelangen Erfahrungen in Entwicklungsländern auf, wie sehr mich diese Erlebnisse persönlich weiterbringen würden.
Sie muss es wissen. Nachdem sich der Kronprinz von Allada in sie verliebt hatte, heirateten die beiden und Annette wurde Prinzessin. Dies führte unter anderem zu dem Erlebnis, dass ihr eine vollautomatische Kalaschnikow an den Kopf gehalten wurde, um sie auszurauben. Ich liebe ihre Geschichten. Und ihre Weisheit. Der Austausch mit ihr hatte mir bereits einen neuen Blickwinkel eröffnet. Trotzdem bleiben die Kontaktlinsen daheim, da lasse ich nicht mit mir reden. Dieser Entschluss geht natürlich zulasten meiner Eitelkeit, ich hasse es, eine Brille zu tragen. Nun gut, alle Klamotten sind eingepackt sowie Arbeitsmaterial und Hygieneartikel.
Überraschenderweise lässt sich der Koffer wider Erwarten schließen. Sehr gut, dann nur noch alles ins Auto tragen … geschafft. Während ich draußen den Wagen einräume, fange ich angesichts der eisigen Kälte an, mich nach Indien zu sehnen. Wow, 36 Grad Celsius und Sonnenschein. Sehr angenehm im Winter. Morgen dann, denke ich mir, und nehme zunächst noch mit meinem warmen Wohnzimmer vorlieb. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, dass ich meine ganzen Sachen nicht in den Koffer bekommen würde. Hat doch ganz gut geklappt so weit. Und jetzt mache ich es mir gemütlich. Oh! Ich habe das Moskitonetz vergessen. Also noch einmal raus zum Auto, Koffer wieder in die Wohnung, umräumen, überlegen, was ich daheimlassen muss; das Netz nimmt mit seiner Drahtfassung viel Platz ein, doch es ist ein unverzichtbarer Begleiter in Indien.
So, jetzt aber: Das Packen ist endgültig geschafft!
Jetzt noch ein letztes Mal ins Fitnessstudio, bevor es losgeht. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich bald am Strand spazieren werde, in einem weit entfernten Land. Meine Freunde kommen nicht aus dem Staunen heraus, als ich es ihnen bei einem gemeinsamen Abendessen berichte.
Ja, das Leben als Journalist hat auch seine Vorzüge. Den Begriff »Lügenpresse« kennt in Indien wahrscheinlich niemand. Fairerweise muss ich sagen, dass ich derartige Bezeichnungen für meinen Berufsstand nur aus dem Fernsehen vernehme. Bei uns im schönen Oberbayern sind viele Dinge weitgehend in Ordnung.
Jetzt ist es 21 Uhr: Es ist der Abend vor der Abreise. Einen letzten Blick werfe ich in die WhatsApp-Heilergruppe, bevor ich mich schlafen lege. Ein gewisser Martin Kälin verkündet, dass die Schweiz, damit meint er seine Nationalität, auch an Bord sei und schickt einige Bilder vom Flughafen unter anderem den Abschied von seinen bezaubernden Kindern.
Auch Martin wird mir im Zuge der Reise seine Lebensgeschichte offenbaren. Es ist die eines ehemaligen Rohstoffmanagers, eine sehr harte Branche mit bedenklichen Praktiken. Er wird während des Camps vollends zum Heiler werden und zu sich selbst finden. Seine Erzählungen sind mir bis heute eingehend im Gedächtnis. Ich will nun wirklich nicht zu viel verraten oder den Spannungsbogen übertrieben aufbauen, aber die Menschen, denen ich im Zuge meiner journalistischen Begleitung während der Indienreise begegnen und kennenlernen durfte, sind allesamt außergewöhnliche Persönlichkeiten. Und es erfüllt mich mit einem gewissen Stolz, ihre Geschichten erzählen zu dürfen.

So früh am Flughafen München, mit so guter Laune Gegen 22 Uhr abends, ich bin schon fast eingeschlafen, klingelt das Telefon. »Wer ruft denn jetzt an?«, frage ich mich etwas verwirrt. Der Blick aufs Handy zaubert mir ein Grinsen ins Gesicht: Annette Müller live aus Indien. Sicher ein letztes Update. Augenblicklich hellwach gehe ich ans Telefon: »Hey, Neti, na wie geht’s?« Sofort folgt die euphorische Antwort: »Hey, Max, du bist aber gut gelaunt. Und ich dachte, du schläfst vielleicht schon. Ich bin total aufgeregt und kann das Ganze noch nicht wirklich fassen. In Kürze ist es so weit, aber ich glaube es erst, wenn ihr alle da seid.« Ja, da ist etwas dran. Auch für mich ist die Situation äußerst surreal. »Also, meine Koffer sind gepackt«, entgegne ich ihr voller Vorfreude. »Das ist super, ich freue mich riesig. Es ist alles vorbereitet. Jetzt fehlt nur noch ihr. Mena und Sonya aus den USA und Annette Bokpe sind bereits hier und wir waren schon schwimmen im Pool.« Das hört sich ziemlich gut an. Habe ich doch eine falsche Vorstellung von unserem Reiseziel? »Wow, ein Pool? Das hört sich herrlich an. Gut, dass du das noch sagst. Dann packe ich schnell noch meine Badehose ein«, entgegne ich ihr. »Ich glaube, du würdest da nicht rein wollen«, folgt die ernüchternde Antwort aufs Wort. »Warum das?«, frage ich nach. »Es riecht sehr stark nach Chlor und um uns herum lauern krächzende Krähen. Das hat etwas durchaus von einem Steven-King-Roman. Ich wollte heute noch entspannen, bevor es dann losgeht, aber die starrenden Krähen lassen einem keine Ruhe. Fürchterlich!« Okay, aber das entspricht doch ziemlich genau meinen Vorstellungen von unserem Reiseziel. »Und erst diese unaufhörlichen Hupengeräusche im Hintergrund. Das ist wirklich heftig«, merke ich an. »Oh ja, aber die höre ich inzwischen gar nicht mehr. Stimmt, es hupt die ganze Zeit. Ich bin gespannt, was dich mehr überwältigt - der Geruch oder die Geräusche«, entgegnet sie trocken. Klasse. Etwas sarkastisch antworte ich: »Du weißt wirklich, wie du Vorfreude weckst.« Dann legt sie noch einen oben drauf: »Hey, ich habe doch noch überhaupt nichts über die Hygiene hier berichtet.« Eine Minute lang folgt kein Wort meinerseits. Dann die Nachfrage: »Max? Bist du noch dran?« Es vergehen noch einige Sekunden, ehe ich antworte. »Ja. Ich glaube schon«. Natürlich war das nur ein Spaß, wenngleich mit wahrem Kern. Dann folgen aufbauende Worte von der Initiatorin des Healing Camps: »Aber jetzt mal im Ernst, das wird ein tolles Abenteuer. Ich kann es nach wie vor einfach überhaupt noch nicht fassen, dass das jetzt alles Realität wird. Es ist ein Traum, der nun wahr wird. Wir konnten in den vergangenen Jahren gemeinsam so vieles erreichen, doch das ist ein neuer Höhepunkt. Max, dieser Trip wird dein Leben verändern!« Davon bin ich überzeugt. Die Reise ist schon jetzt etwas Besonderes für mich: »Ich kann es kaum erwarten. So weit war ich noch nie außerhalb meiner Komfortzone, aber ich freue mich unglaublich darauf. Ich kann mir allerdings noch überhaupt nicht vorstellen, was mich dort erwartet.« »Also eines kann ich dir schon mal verraten, es erwartet dich großartiges Essen. Pondicherry ist außerdem ein wunderschöner Ort, hier wird es dir auf jeden Fall sehr gut gefallen. Und ich kann dir noch etwas versprechen. Wir werden jede Menge Spaß haben.« Gute Antwort. »Darauf wette ich!«, entgegne ich enthusiastisch, »Hast du noch letzte Tipps für mich?« Dann überlegt sie kurz, bevor es wie aus der Pistole geschossen kommt: »Führe so viele Interviews, wie es nur geht! Fange die Stimmung und die Emotionen aller Mitreisenden ein. Dieser Trip wird sie verändern. Wenn du mit deinen Worten und Werner Dück mit seiner Kamera die Stimmung schon am Flughafen einfangt wird das großartig. Ganz wichtig ist mir dabei deine neutrale Sicht auf die Ereignisse.« Das bekomme ich hin. »Apropos Veränderung … Hat Indien dich denn verändert?«, will ich von ihr wissen. Ohne lange nachdenken zu müssen antwortet sie: »Selbstverständlich! Mein erstes Mal in Indien war der wichtigste Aufenthalt in meinem gesamten Leben, weil ich hier erlebt habe, wie gut es mir eigentlich geht. Armut im Fernsehen ist etwas komplett anderes als über arme Menschen hinweg auf dem Bürgersteig gehen zu müssen. Menschen, für die es ein Luxus ist, einen Karton als Unterkunft zu besitzen. Das hat mir verwöhnte West-Göre den Kopf richtig zurechtgerückt. Als Teenager, der in gehobenen Verhältnissen groß geworden ist, war das ein einschneidendes Erlebnis. Das hat viel in mir verändert«, gibt die gebürtige Hessin preis. Da spricht sie etwas Wesentliches an. Ich finde es toll, wie offen sie mir aus ihrem Privatleben erzählt. Meine Arbeit wird das um einiges leichter machen und das Buch interessanter. »Da sprichst du etwas wirklich sehr Interessantes an. Ich glaube, das wird uns allen guttun, mir selbst sicher auch. Ich lasse mich jetzt einfach mal überraschen. In jedem Fall ist meine Vorfreude auf das Abenteuer kaum zu toppen. Jetzt muss ich nur noch die Nacht herumbringen und dann geht es los!« Nachdem mir Neti noch liebe Grüße und eine sichere Reise wünscht, beenden wir das aufschlussreiche Gespräch. Es wird mir nun immer stärker bewusst, welchen lebensverändernden Charakter solch eine Reise in sich birgt. Wird Indien auch mich verändern?

Krähen überall
Dienstag, 2. Januar 2018: Niemals: Das lasse ich mir doch nicht entgehen!
Es ist sehr früh, als ich an diesem Morgen aufstehe. Normal brauche ich ewig, um aus dem Bett zu kommen. Unter 30 Minuten Wake-up-Time geht bei mir überhaupt nichts. Noch einmal umdrehen, vor sich hindösen. Die ersten freiwerdenden kognitiven Ressourcen nutze ich, um den Fernseher einzuschalten und Nachrichten zu hören, wie jeden Morgen.
Doch nicht so heute. Ich wache 15 Minuten vor dem Weckton auf, hoch motiviert wie lange nicht mehr – INDIEN ruft! Jetzt geht es also wirklich los. Sogleich springe ich aus meinem Bett und unter die Dusche. Zum vielleicht ersten Mal in meinem jungen Leben fange ich unter ebendieser zu singen an. »In the jungle, the mighty jungle, the lion sleeps tonight ...« Immer noch summend ziehe ich mich an und mache mich für die Fahrt zum Flughafen fertig.
Das erneute Schleppen meines Koffers (ich habe die Badehose trotzdem eingepackt) betrachte ich als morgendlichen Work-out. Endlich habe ich mein Auto erreicht, die Ankunft am Flughafen München wird in 50 Minuten sein, das Parken meines Wagens mit einkalkuliert –, die Zeit läuft und die Reise wird immer realistischer. Dabei klingelt mein Smartphone schon seit 5 Uhr morgens im Minutentakt. Die WhatsApp-Gruppe der Heiler ohne Grenzen hält alle über die individuelle Anreise der Teilnehmer auf dem Laufenden, die ersten schicken Fotos von ihrer nahenden Ankunft am Flughafen München, von dem aus die Gruppenreise startet. Es entwickelt sich eine einzigartige Euphorie, denn alle wissen, bald geht’s los. Auf nach Indien! In die weite Ferne! Als ich kurz nach 8 Uhr morgens die Eingangshalle des Flughafen Münchens betrete, sehe ich auf meinem iPhone schon die erste besorgte Nachricht: »Maximilian? Bist du da?« Sie stammt von einer gewissen Angelika Höhne, die mir in den letzten Tagen sehr behilflich war, als es um organisatorische Fragen ging.

Angi prüft ob alle da sind Noch bevor ich antworten kann, gleich ein Anruf von Neti Müller aus Indien: »Max, bist du schon auf dem Weg?« Ich entgegne ihr, dass ich gerade am Flughafen angekommen bin. »Puh, na da bin ich aber erleichtert. Ich hatte schon Sorge, du kneifst doch noch in letzter Sekunde und kommst nicht.« Schmeichelhafte Aufmerksamkeit, so früh am Morgen. Um auch die besorgte Angelika zu beruhigen, schicke ich ein Foto von der Reisegruppe, die ich soeben erblicke, per WhatsApp. »Wir dachten schon, du drückst dich«, entgegnet mir Annette Bokpe prompt schriftlich. »Niemals – das lasse ich mir doch nicht entgehen!« Endlich in der Reisegruppe angekommen, ich kannte den Großteil der Mitreisenden bislang nicht - erblicke ich zuerst Thomas Krack. Den hatte ich wenige Tage zuvor interviewt und dabei sehr viel Spaß gehabt. »Wir Männer müssen zusammenhalten«, »Ein paar gesellige Abende mit ein paar Bierchen sind ja sicher drin.« Von wem diese Aussage stammt, lasse ich an dieser Stelle offen. Dass unter uns ein gewisser Konsens besteht, liegt auf der Hand. Doch zu den Abenteuern des ›Wolfsrudels‹, wie ich das Gespann aus Thomas Krack, Gerhard Neugebauer und meiner Wenigkeit kurzentschlossen benenne, ebenfalls an anderer Stelle mehr. Jetzt müssen zuerst die übrigen Strapazen des Fernreisens gemeistert werden. Die Koffer müssen fernreisetauglich gemacht werden (dabei fällt mir ein, dass ich immer noch Thomas‘ Gepäckband habe, dass er mir freundlicherweise ausgeliehen hat). Nachdem der Koffer aufgegeben wurde, folgt die Passkontrolle. Dort muss ich einer bildhübschen, aber überraschend kritischen Bundespolizistin erklären, wie ich es geschafft habe, zwei Personalausweise zu verlieren. Die sind wirklich sehr gründlich. Nachdem ich scherzhaft versichere, dass ich künftig weniger schlampig sein werde, darf ich die Kontrolle passieren. Und dann geht alles ganz schnell. Security Check, der Weg zum Gate, das Einsteigen ins Flugzeug, in wenigen Minuten werden wir starten. Eine freundliche Dame setzt sich neben mich. Nachdem wir ein wenig geplaudert haben, stellt sich heraus, dass sie ebenfalls ein Mitglied der San Esprit Delegation ist und nach Indien reist. Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit war durchaus hoch bei so einer großen Gruppe, doch noch kenne ich bisher die wenigsten. Einer von ihnen ist Gerhard Neugebauer, den ich auch schon interviewt hatte. Kurz vor Abflug wuselt er sichtbar nervös in Richtung Toilette. Stimmt, da war was, er mag das Fliegen nicht so gerne. Während ich die meiste Zeit beim Fliegen tief und fest schlafe, denn ich habe einen hervorragenden Schlaf, konnte er während des Fluges kein Auge zumachen, wie er mir später berichten wird. Wie erwartet, schlafe ich bald ein. Als ich wenige Stunden später wach werde, fliegen wir gerade über das atemberaubend schöne Taurus-Gebirge der Türkei. Nachdem ich die ersten Eindrücke des Aufbruchs in die Ferne eifrig in mein MacBook getippt habe, fallen mir erneut die Augen zu. Ich bin wie gemacht fürs Fliegen. 
Foto - Taurus-Gebirge, Türkei Als wir gegen Abend den Persischen Golf erreichen, erstrahlt Dubai in seiner vollen Pracht. Ich habe noch nie ein derart eindrucksvolles Panorama einer Metropole gesehen. Schon von Weitem blinken die Lichter der Stadt, es ist gigantisch. Die aus dem Nichts geschaffene Stadt macht mir in diesem Moment den Einfluss des Menschen auf die Umwelt erst so richtig bewusst. So weit das Auge reicht, hell leuchtende Straßenzüge, Hochhäuser und die klar umrissenen Konturen einer Retortenstadt. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es hier nichts als Sand und Wüste, heute erstreckt sich dort ein imposantes Monument menschlicher Ingenieurskunst und Technik. Sofort fällt auf, dass selbst die fernen Autobahnen hell beleuchtet sind. Die dunklen Flecken der Wüste wirken aus dem Flugzeug wie riesige Seen und Teiche. Länger als gedacht dauert der Landeanflug über das Emirat, er kommt einem inszenierten Sightseeing-Flug gleich oder einer Machtdemonstration. Seht her – das ist Dubai! 
Landeanflug Dubai Nachdem wir bei der Zwischenlandung das Flugzeug verlassen haben, flaniere ich alleine durch den riesigen Flughafen Dubai. Dieser wurde seit seiner Errichtung 1960 imposant ausgebaut und ist mit einer Fläche von 1400 Hektar und mehr als 88 Millionen Passagieren jährlich der drittgrößte der Welt. Über 90.000 Beschäftigte kümmern sich hier um den reibungslosen Ablauf. Dubai ist eine Stadt der Hyperlative. Kaum vorstellbar, dass derzeit bereits der zweite, noch größere Flughafen in Dubai entsteht. Dieser soll dann endgültig der größte der Welt werden und dem Emirat die Vormachtstellung im internationalen Luftverkehr sichern. Ich bin schon von diesem hier überwältigt. Überall Lichter, multikulti und hochmoderne Gebäudekomplexe. Schnell macht sich trotz der guten Verpflegung an Bord bei mir Hunger breit und ich suche mir einen sympathischen irischen Laden, der schmackhafte Clubsandwiches anbietet. Ich erkenne in einer Gruppe aus drei Leuten Mitreisende der San Esprit Delegation wieder und bitte sie, Platz zu nehmen und mir Gesellschaft zu leisten. Während des Gesprächs stellt sich ein Verdacht, den ich seit kurzem hege, als richtig heraus. Der angesehenste Steuerberater meiner Heimatstadt, dessen Kanzlei ich selbst kenne, ist Heiler ohne Grenzen. Da er mich noch nicht persönlich kennt, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, mir einen kleinen Spaß mit ihm zu erlauben. Die meisten der Gruppe hatten bereits von dem mitreisenden Journalisten gehört, entsprechend ging im Zuge unseres Tischgesprächs auch der ein oder andere Scherz auf meine Kosten. Klar, über Stereotype kann man gut ins Gespräch kommen. Doch die Rache folgt zugleich. Ich kündige deshalb meine mysteriösen Fähigkeiten an. »Ihr seid vielleicht Heiler, aber ich habe auch mentale Kräfte.« Ich bitte also, vermeintlich zufällig, den Herrn Steuerberater mir nicht zu erzählen, was er denn arbeitet, er solle sich bitte seinen Arbeitsplatz genau vorstellen, im kleinsten Detail. An dieser Stelle sei erwähnt, dass alle Mitreisenden aus verschiedenen Teilen Deutschlands, Österreichs und weiteren Ländern kommen und er nicht damit rechnen konnte, dass ich die kleine unbedeutende Stadt in unserem Landkreis, in dem er arbeitet, genauestens kenne. Ich schließe die Augen und meine, er solle nun gedanklich aus dem Fenster schauen und für sich behalten, was er im Geiste sehe. »Ich sehe einen Platz, einen Marktplatz mit den Ständen eines Bauernmarktes. Und eine Kirche, da steht eine große Kirche«, rufe ich höchst konzentriert. Im ersten Moment sind alle völlig verdutzt und schauen ungläubig. Eine der Frauen fragt ihn, ob das denn nun stimme, was er bestätigt. Dann fragt er mich, ob ich im Vorfeld zu seiner Person recherchiert hätte. Ich löse das Ganze amüsiert auf und wir stellen fest, wie viele gemeinsame Bekannte wir haben. Übrigens auch den befreundeten Unternehmer, der mich und Neti ›zusammengebracht‹ hat. Was für ein Zufall! Viele meiner Unternehmerfreunde sind seit Jahren seine Mandanten. Er ist eine Koryphäe im Steuerrecht und postet auf Facebook Videos in denen er abwechselnde Themen erläutert. Zudem ist er ein überzeugter und passionierter Heiler, wie wir noch erkennen werden. Irgendwie passt das für mich nicht wirklich zusammen, aber es gefällt mir immer wieder herauszufinden, dass entgegen der öffentlichen Meinung das energetische Heilen nicht zwingend ein Sammelbecken für weltfremde Esoteriker ist. Nein, unter ihnen gibt es sogar renommierte Steuerberater; mal ernsthaft, was liegt denn noch weiter von diesem Klischee entfernt? Vielleicht ein Rohstoffmanager aus der Schweiz? Doch dieser ergänzt das Team der Heiler ohne Grenzen ebenfalls. Zwar war ich auch vor der Reise kein Mensch, der allzu viel auf Vorurteile und Schubladendenken gab, immerhin sollte man als Journalist aufgeschlossen sein als Voraussetzung für dieses Metier –, doch nach dieser Reise kann ich endgültig versichern, dass der Schein oftmals trügt. Und wie fatal es ist, Menschen auf eine Facette ihres Selbst zu reduzieren. Jeder Mensch ist einzigartig, doch manche verblüffen einen so sehr, dass man es kaum zu beschreiben vermag. Dabei muss ich auch an Gerhard Neugebauer und Thomas Krack denken. Gerhard, einst leitender Techniker in einem Krankenhaus, ein bayerischer Handwerker und gestandenes Mannsbild, kündigt seinen sicheren Job als Beamter, um in leitender Funktion an der École San Esprit tätig zu werden, so überzeugt ist er vom Geistigen Heilen nach Annette Müller. Davon ist auch Thomas Krack überzeugt. Dieser war im ›früheren Leben‹ erfolgreicher Unternehmer und leitete als selbstständiger Handwerker eine Bäder- und Fliesenausstellung samt Onlineshop und 25 Mitarbeitern. Dazu war er ein Materialist, wie er im Buche steht. Einst ließ er sich zur Hochzeit mit Europas längster Stretch-Limousine fahren, besaß eine Villa mit 300 Quadratmetern und vielen Zimmern und alles Weitere, was sich ein Materialist so wünscht, um vermeintlich glücklich zu sein. Damit das alles irgendwann realisiert und bezahlt werden konnte, arbeitete er mehr als zwei Jahrzehnte rund um die Uhr. Alles drehte sich nur im die Arbeit, sodass er die schönen Dinge, die er besaß, nicht einmal mehr genießen konnte. Denn alles, was er abgesehen vom Schlafen tat, war schuften. Dies führte ihn in den Burn-out, gefolgt von einem langen Klinikaufenthalt. Der Wendepunkt kommt, als er seine neue Lebenspartnerin zu den Heilertagen im Chiemgau begleitet und dort Gerhard Neugebauer trifft. Er spricht ihn verwundert darauf an, dass er doch aussehe wie ein Handwerker. Ein altes Sprichwort sagt: «Ein Fischer wird aus der Ferne immer einen anderen Fischer erkennen«, und so verhielt es sich auch bei den beiden. Auf den Heilertagen erlebt Thomas die gleiche Überraschung wie ich. Unter den Heilern sind Banker, Journalisten, Geschäftsleute, Mediziner, Handwerker und sogar Steuerberater und natürlich viele weitere Menschen aus den unterschiedlichsten beruflichen Branchen mehr, mit denen ich so nicht gerechnet hätte. Ebenso wenig Thomas Krack, der an jenem Tag beschloss, Heiler zu werden, und heute, just in diesem Moment, am Flughafen Dubai als Heiler ohne Grenzen zusammen mit uns auf seinen Anschlussflug nach Indien wartet. Es sind Geschichten wie diese, die mir auf der Reise begegnen und die mich zutiefst faszinieren. Um 21 Uhr Ortszeit hat das subjektiv sehr kurze Warten ein Ende und das Boarding für den Anschlussflug nach Chennai in Südindien beginnt. Weitere Heilerinnen aus anderen Ländern sind in Dubai zugestiegen. Kaum im Flugzeug sitzend, beginnt auch schon mein erstes Erlebnis, das mir kulturelle Unterschiede zwischen ›hüben und drüben‹ aufzeigt. Es ist das respektlose und unverschämte Verhalten einer dem Anschein nach gut betuchten indischen Großfamilie vor mir. Ich kann mich noch an den netten Herrn erinnern, ich vermute aus Bayern, der auf dem Flug nach Dubai vor mir saß. Dieser drehte sich zu Beginn zu mir um und fragte mich höflich, ob es denn in Ordnung wäre, wenn er die Lehne etwas nach hinten verstelle. Freundlich entgegnete ich ihm ein »Selbstverständlich,« und bedankte mich für die rücksichtsvolle Nachfrage. Was wäre die Welt für ein herrlicher Ort, wenn alle Menschen höflich und etwas einfühlsamer wären? Nun denn. Beispielhaft rücksichtslos sind jedenfalls die erwähnten Mitreisenden vor mir. Da wird der Sitz so weit nach hinten verstellt, dass eine freundliche Stewardess den Herrn auch ohne meine Bitte aufweckt und ihn maßregelt. Inzwischen ist die Familie der Mittelpunkt des Fluges. Die Kinder schreien und ein übler Fäkaliengeruch durchdringt die Reihen.... Doch es folgt schon kurz darauf eine äußerst positive Begegnung, als mich mein indischer Sitznachbar in exzellentem Englisch anspricht. Woher ich denn käme und was ich in Indien vorhätte, fragt er mich. Bevor ich ihm antworte, überlege ich kurz, wie er denn wohl auf einen Journalisten reagieren würde. Egal, denke ich mir, und schildere ihm meine dokumentarische Begleitung der Reise. Er ist begeistert und erzählt mir seinerseits von seinem Master-Studienaufenthalt in den USA, seiner Faibles für die westliche Kultur und seinem Vorhaben, die Familie in der Heimat zu besuchen. Wir verstehen uns auf Anhieb und so versuche ich ihm einige interessante Antworten auf Fragen zu entlocken, die ich bezüglich des indischen Subkontinents habe. Ich berichte ihm von meinem Antrag auf ein indisches Visum. Das ganze Prozedere hat mich nachhaltig verunsichert. Was Indien denn für ein Land sei, in dem Einreisende penibel genau zu ihrer ethnischen Herkunft befragt werden, möchte ich wissen. Das erinnert mich an den Ahnenpass, von dem ich im Geschichtsunterricht der siebten Klasse erfuhr als wir über das Dritte Reich sprachen. Galt das Interesse damals einer etwaigen jüdischen Abstammung, zielten die Fragen im indischen Visumsantrag auf den verhassten Nachbarn Pakistan ab. Ich fand das alles sehr befremdlich, denn abgesehen von der Herkunft wollte man auch wissen, ob man in den vergangenen Jahren als Tourist in das nordwestlich von Indien gelegene Land gereist sei. Unverblümt frage ich ihn, was das solle, immerhin hat uns die Geschichte unzählige Male gelehrt, wohin staatlich geförderte Ausgrenzung führt. Zu meiner Überraschung erhalte ich einen lehrreichen Exkurs in indischer Geschichte. Nach dem Rückzug der britischen Kolonialmacht vom Subkontinent 1947 erhoben die beiden Nachfolgestaaten Indien und Pakistan Anspruch auf die Fürstenstaaten Jammu und Kaschmir. Als eine von Pakistan unterstützte Revolte in der Region ausbrach, bat die Führung Indien um militärische Hilfe. Indiens Bedingung war der formale Beitritt. Als dieser beantragt wurde, kam die indische Streitmacht zu Hilfe. Seitdem gab es immer wieder Kriege, Revolten und Konflikte zwischen beiden Staaten, die auch zu deren Nuklearisierung, sowie zur Gründung des Staates Bangladesch geführt haben. Mein Sitznachbar bedauert sichtlich, wie aus Menschen die einst das selbe Land geteilt hatten, erbitterte Erbfeinde werden konnten. Nach Schilderung der zahlreichen Vergehen, die beidseitig, aber dem Anschein nach vor allem von Pakistan begangen wurden, verstehe ich den Einreiseprozess nun ein bisschen besser, wenngleich ich ethnische Diskriminierung nach wie vor verurteile. Wir lenken das Gespräch auf ein neutraleres Thema und so schildert er mir die spannenden kulturellen Unterschiede, die ich bald erleben darf. Mein Reiseziel Pondicherry beschreibt er mir als wunderschönen Ort mit einer tollen Landschaft und offenen, herzlichen Menschen. Es ist jetzt Mitternacht, ich bin gespannt auf die nächsten beiden Wochen und freue mich umso mehr, in weniger als zwei Stunden zu landen. Währenddessen ist Gerhard, der sympathische Rosenheimer mit gewissen Bedenken, die er mir vorab in seinem Interview geschildert hat, ebenfalls in Kontakt mit seinem Sitznachbarn, wenn auch unfreiwillig. Der dezent adipöse, groß gewachsene Inder lehnt kuschelnd an dem gutmütigen Bayern und schläft tief und fest. Wenn doch nur jemand Gerhards etwas verlorenen und verzweifelten Blick auf einem Foto festgehalten hätte, es wäre das Buchcover geworden. 
Ankunft in Chennai