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Meine Ziehmutter konnte ich nicht sehen, da mein angeborenes Haus hart und nicht durchsichtig war. Aber ich hörte ihre Stimme. Eines Tages nahm sie mich aus dem Glashaus heraus und legte mich auf eine harte Unterlage. Es wurde hell in meinem Haus. Ich lag auf einem kleinen Leuchttisch.
„Schau. Da ist das kleine Kükenherz. Siehst du die kleinen Adern?“, fragte meine Ziehmutter.
„Warum bewegt sich das Herz?“, fragte ein Kind.
„Es pumpt das Blut durch die Adern, damit es leben und wachsen kann“, erklärte meine Ziehmutter.
„Oma darf ich es auch mal halten?“ Das Kind nahm mich in seine Hände, streichelte meine harte Schale und legte mich vorsichtig in das Glashaus zurück. Es wurde wieder dunkel.
Einmal erlebte ich ein tolles Abenteuer. Ich wurde in ein warmes Wasserbad gelegt und mein Haus schaukelte hin und her. Ich fand das lustig.
Das Kind lachte: „Das Ei schwimmt wie ein Boot auf dem See.“
„Das bedeutet, dass das Küken lebt und gesund zur Welt kommt“, sagte meine Ziehmutter.
Danach kam ich wieder in das Glashaus zurück. Irgendwann bemerkte ich, dass mein Haus kleiner geworden war. Ich konnte mich nicht mehr so gut darin bewegen und ich beschloss endlich mein enges Haus, zu verlassen.
Doch es war nicht so einfach. In meinem Haus gab es keine Türen und keine Fenster. Ich pickte mit meinem Eizahn erstmal ein Guckloch. Das war eine schwere Arbeit. Es hat einen ganzen Tag gedauert und danach war ich sehr müde. Am nächsten Tag machte ich mit lautem Piepsen meine Ziehmutter auf mich aufmerksam.
Sie stand an meinem Glashaus und sagte: „Streng dich an. Bald hast du es geschafft.“
„Die hat gut reden“ dachte ich. „Sie weiß ja nicht, wie hart mein Haus ist.“
Ich hackte weiter mit meinem Eizahn gegen die harte Mauer und plötzlich bekam mein Haus Risse.
„Oma die Eierschale ist kaputt gegangen“, rief das Kind.
„Das ist gut so“, sagte meine Ziehmutter.
Ich wollte so schnell wie möglich raus. Aber es dauerte noch eine ganze Nacht und fast einen ganzen Tag. Schließlich drückte ich ganz fest mit meinen Füßen an die Innenwand und die Schale krachte entzwei.
„Oma, Oma!“ Das Kind hüpfte in die Luft. „Es ist da!“
„Ich bin frei“, rief ich und sah endlich meine Ziehmutter und das Kind. „Herzlich willkommen auf dieser Welt“, sagte sie.
Das Kind sagte: „Oma, guck mal. Da ist unser Osterküken.“
„Ja“, sagte meine Ziehmutter.
„Guck mal Oma. Das Küken hat aber große Füße. Und schwarze Augen. Und das Kleid ist so gelb, wie die Sonne. Es soll Oster-Anna heißen“, sagte das Kind.
Gleichzeitig hörte ich meinen Bruder Tom piepsen. Er wollte auch aus seinem engen Haus heraus.
Im Aquarium wurde die Luft plötzlich sehr feucht, und so nahm mich meine Ziehmutter heraus. Legte mich in einen Karton unter eine Rotlichtlampe. Das tat gut. Mein nasses Kleid trocknete schell. Das Kind nahm mich aus der Kiste heraus und streichelte mein Kleid und sagte. „Das Kleid ist so kuschelig.“
Nun schlief ich die ganze Nacht. Am nächsten Tag lag Tom auch in meinem Karton, aber das gefiel mir gar nicht. Wie kam er dazu, in meine Villa einzudringen? Und ich pickte auf ihn los. Das gefiel unserer Ziehmutter nicht. Wir bekamen getrennte Häuser. So standen zwei Kisten unter der warmen Lampe.
Am nächsten Morgen flogen wir aus den Kisten heraus und liefen durch die Wohnung herum.
„Oma, warum können sie schon so schnell laufen? Bei Babys dauert es ganz lange, bis sie laufen können.“
„Hühner sind Nestflüchter. Das bedeutet, dass sie nach dem Schlüpfen aus dem Ei sofort alleine trinken, essen und laufen können. Wir Menschen sind auf unsere Mamas angewiesen“, sagte unsere Ziehmutter.
Flugs bekamen wir einen großen Käfig. Und wurden nach draußen gebracht. Das Kind stellte einen kleinen Teller mit gutem Kükenfutter und eine kleine Schüssel mit frischem Wasser in den Käfig dazu. Dann machte es sich auf die Suche nach Regenwürmern.
Ab und zu durften wir frei in dem großen Garten herumlaufen. Hier fanden wir feines Gras und auch kleine Würmer. Der Besuch wurde von uns beiden genau untersucht. Wir flogen den Menschen auf die Schuhe und auf ihre Köpfe. Der Tisch und der Osterkuchen waren auch nicht sicher vor uns. Da war es unserer Ziehmutter zu viel und sie setzte uns in den Käfig zurück.
Die Kükenzeit war schnell vorbei und mein Kleid färbte sich weiß und das von Tom schwarzbraun. Wir zogen in den großen Hühnerstall zu unseren großen Schwestern und Brüdern. Sie haben uns natürlich zuerst nicht gemocht. Sie pickten auf unsere Köpfe. Zum Glück beschützte uns ein bunter Hahn. Er tanzte sehr elegant um mich herum und das gefiel mir sogar. Bald gehörten wir zu der Hühner Familie.
Brigitte Meertens wurde 1940 in Eberwalde geboren. Dreißig Jahre hat sie im Kindergarten gearbeitet. In ihrer Freizeit schrieb sie für Fachzeitschriften für Erzieherinnen Kindergeschichten, Gedichte, Rhythmikspiele und Erfahrungsberichte. Im Jahre 2000 ging sie in den (Un)Ruhestand und erarbeitet seitdem Projekte für die praktische Arbeit mit Kindern. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter und zwei Enkelinnen und wohnt jetzt mit ihrem Mann in Herzogenrath. I
*
Der Jesus in mir
Hatte Jesus eigentlich mal Liebeskummer? Interessante Frage, immerhin wird ihm eine Liaison mit Maria Magdalena nachgesagt. Und wenn ja – musste er dann heulen? Oder hatte ihm Papa Gott einen super Kniff mitgegeben, der Liebeskummer in Wein verwandelte? Viel interessanter ist aber: Warum beschäftigte mich das? Gute Frage. Ich saß am Karfreitag in der Kirche, Jesus hing am Kreuz vor mir und ich heulte. Nicht, weil mir der Gute so leidtat, sondern weil mich Torsten, mein Freund, heute Morgen per SMS abserviert hatte. Also müsste es auch konkret Ex-Freund heißen, was mich aber nur noch lauter schluchzen ließ. Sehr zum Unbehagen meiner Eltern übrigens, der Rest der Gemeinde dachte wohl, ich nahm tiefe Anteilnahme an Jesus’ Weg zum Kreuz. Doch hey, so leid es mir wirklich für ihn tat, Jesus war über 2000 Jahre tot, wenn man der Bibel Glauben schenken durfte. Und ich lebte im Hier und Jetzt. Hier und jetzt war mein Herz zerbrochen oder, um die hoffentlich letzte Metapher zu schaffen, festgenagelt worden.
Nach eineinhalb Stunden des Rumheulens (vom Pfarrer und mir) fiel ich wieder in mein Bett und malte mir die gruseligsten Möglichkeiten aus, mich an Torsten zu rächen. Falls er jemals heiraten würde, würde ich die sein, die an der Oder-für-immer-verstummen-Stelle in die Kirche rannte und schrie „Ich habe etwas gegen diese Ehe! Er ist ein Arschloch!“
Kurzfristiger gedacht könnte ich auch das Gerücht in die Welt setzen, dass er nur so gut in Chemie war, weil er auf unsere Lehrerin stand und für sie lernte. Sie hatte die Steinzeit schon mit erlebt und war ein Drache. Aber das ist eine andere Geschichte. Aber zunächst einmal weinte ich mein Kissen solange voll, bis es fast triefte.
Dann muss ich wohl irgendwann einfach eingeschlafen sein und wild geträumt haben. Ich glaube nicht an Visionen oder so, aber hey – ich war so verzweifelt, dass ich diese genoss. Denn da war ein Engel, der sah irgendwie aus wie Veronica Ferres. Vielleicht etwas jünger. Und mit sanfter Stimme sagte sie: „Fürchte dich nicht.“
Ich dachte mir: Na, das kennst du doch. Irgendwo ist ein Jesuskind geboren worden.
Wider Erwarten sagte aber der Engel. „Du bist mit deinem Schmerz nicht allein. Jeder Mensch hatte schon einmal Liebeskummer.“
„Ach ja. Sehr tröstlich, vielen Dank.“
Der Engel blickte mich mit dem typischen Veronica-Ferres-Gesicht an, was mir sagen sollte: Kindchen, du musst noch viel lernen. „Ich könnte dir sagen, dass es nicht dein Mann fürs Leben war, aber das weißt du selbst. Ich könnte dir sagen, dass du bald wieder verliebt bist, aber das lindert deinen Schmerz nicht. Ich könnte dir sogar sagen, wann du heiraten, Kinder kriegen und sterben wirst. Aber weißt du was? Das macht das Leben eben aus. Es gibt nicht nur Hochs, sondern auch Tiefs. Das ist der Sinn des Lebens. Nämlich das Leben selbst.“
Ich nickte und fragte mich, aus welchem Ratgeber sie das wohl hatte. Und dann, ob sie Gedanken lesen konnte. Als würde sie es können, lächelte sie verschmitzt. „Wird es lange dauern, bis es mir wieder besser geht?“
Wieder grinste sie mich verschmitzt an. „Schneller als du denkst.“
Und das war’s. Dann war der Engel weg und ich wachte wieder auf. Vorsichtig tastete ich mein Gesicht ab, meine Arme, meinen Bauch. Alles da, alles fühlte sich so an wie immer – auch der Liebeskummer. Na toll, dachte ich, jetzt fantasiere ich mir schon so einen Kram zusammen, und dass nur wegen eines Kerls, mit dem ich zwei Monate gegangen war. Was er wohl jetzt tat? Bestimmt nicht das dritte Päckchen Taschentücher vollrotzen. Er guckte wahrscheinlich fern oder machte was mit seinen Freunden. Und ich? Schnappte mir mein nächstes Taschentuch.
Zwei Tage war Karfreitag nun her, es war Ostersonntag. Wieder Kirche. Irgendwo in der Ferne zwitscherten Vögel, die Orgel übertönte sie aber fast immer. Die Sitzbänke waren hart, meine Eltern blickten erwartungsvoll zu mir. Würde ich gleich wieder anfangen zu weinen? Nein, würde ich nicht! Angeblich gibt es diese fünf Phasen der Trauer: Verneinung, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Was wohl Jesus Familie, die noch mitten in der Trauerarbeit war, gedacht hatte, als er plötzlich auferstand? Bei mir war es eher so, dass ich Torsten zu Grabe getragen, das Kreuz abgeworfen hatte und nun wieder aufstehen konnte. Theoretisch. Praktisch war ich war noch irgendwo zwischen Verhandeln und Depression, auch wenn die Akzeptanz schon mal so ab und an ein Stelldichein gab. Kurzum: Ich weinte nicht mehr so oft, fühlte mich nicht mehr wie ein Häufchen Elend und wollte nicht mein Leben lang heulen. Trotz allem hatte ich so einen säuerlichen Geschmack im Mund, wenn ich an Torsten dachte. Aber hey! Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, das Christentum auch nicht und die Säkularisierung geschah auch nicht von heute auf morgen. Oder, wie mein Vater sagen würde: Gut Ding braucht Weile.
Alexander Karl, Jahrgang 1989, studiert in Tübingen Medienwissenschaft und Geschichte. Er schreibt gerne Kurzgeschichten und Bücher, spielt derzeit Handball und macht gerne etwas mit seinen Freunden.
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Hexe Rosina und der verzauberte Osterhase
Rosina saß am Küchentisch, eine dampfende Tasse Kakao in den Händen. Die roten, langen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Missmutig starrte sie in die Flamme der Kerze, die vor ihr auf dem Tisch stand und die Küche flackernd erhellte. Dann las sie, bestimmt schon zum 100. Male, den Brief, der vor drei Tagen mit der Rabenpost kam.
Liebe Hexentochter,
wir vom Hexen-Rat wissen nicht weiter. Weil wir Wildisbrand nicht in den Hexen-Rat aufgenommen haben, will sie sich rächen. Sie hat den Osterhasen verzaubert, um unser Fest zu ruinieren. Er ist weit und breit nicht zu finden. Dieses Rätsel hat sie uns geschickt: Was ist rot und trägt eine magische Zahl auf dem Rücken? Was ist flink und schnell? Vorher zu viert, dann zu sechst oder mehr? Was ist weiß oder braun und fast rund, sehr empfindlich? Der Rätsel Lösungen bringen, mit den ersten Sonnen-Strahlen am Frühlingsmorgen, den Osterhasen zurück.
Schau bitte in meinen Büchern nach, ob du etwas dazu findest. Ariadne kann dir sicher helfen. Passt sie auch gut auf dich auf? Es wird leider noch etwas dauern, bis ich nach Hause kommen kann. Liebste Hexengrüße
Deine Mama
Über den Tisch krabbelte eine große Spinne auf Rosina zu. Das weiche Fell auf ihrem Rücken glänzte golden im Kerzenschein. Es war Ariadne, der gute Hausgeist. Jede Hexenfamilie hat einen Beschützer, der auf Haus und Familie aufpasst.
„Rosina-Kindchen“, sagte Ariadne, „willst du nicht langsam ins Bett gehen? Mitternacht ist schon lange vorbei.“
„Aber Ariadne. Bei Sonnenaufgang ist die Frist vorbei. Ostern ohne Osterhase. Ohne Eiersuchen. Kein Hexenfest mit Osterfeuer. Mir muss noch etwas einfallen. Haben wir wirklich alle Bücher durchgesehen?“, fragte Rosina.
Ariadne nickte. Traurig blickte Rosina aus dem Fenster.
Auf der Fensterbank stand eine Primel mit rosa Blüten. Ein kleiner Käfer saß auf einem ihrer Blätter. Rosina ging hin und hielt ihre Hand dem Marienkäfer hin, sodass er hinaufkrabbeln konnte.
„Wie alt du wohl bist?“ Sie zählte die Punkte auf seinem Rücken. Sieben Jahre. Sieben? Das war die magische Märchenzahl: sieben Zwerge, sieben Fliegen auf einen Streich, sieben Geißlein …
„Ariadne, das ist es. Die Lösung des ersten Rätsels: Ein Marienkäfer!“, rief Rosina.
„Gut gemacht, Kindchen! Zieh schnell einen Bindekreis, sonst fliegt er davon.“
Rosina setzte den Käfer auf ein Blatt. Dann malte sie mit dem Zeigefinger einen Kreis um ihn und sprach:
„Marienkäfer flieg’ nicht weg,
brauch’ dich für ’nen guten Zweck.“
Dort, wo ihr Finger das Blatt berührt hatte, erschien ein goldenes Leuchten und bildete einen Kreis. Der Käfer blieb nun ruhig auf der Stelle sitzen.
„Toll gemacht, Rosinalein. Das war sehr gut für eine Nachwuchs-Hexe“, sagte Ariadne und sprang dabei freudig auf und ab.
Doch Rosina blickte bereits wieder hinaus in den Garten, eine große Denkfalte auf ihrer Stirn. Die anderen Rätsel würde sie auch lösen.
Draußen vor dem Fenster wackelte ein Busch. Ein kleiner brauner Kopf mit langen Ohren lugte heraus, dann hüpfte das ganze Häschen hervor. Wo waren wohl die anderen fünf? Letztes Jahr waren es nur vier gewesen. Diese flinken Möhrendiebe. Rosina musste lächeln, als sie sich an die lustige Jagd erinnerte. Drei Stunden lang hatte sie die Hasen immer wieder aus dem Gemüsebeet verjagt. Vergeblich. Sie waren viel zu schnell wieder drinnen gewesen und die Möhren für den Winter mussten sie auf dem Markt kaufen. Aber sollte ein Hase wirklich die Antwort auf das zweite Rätsel sein? Natürlich, was sonst.
„Es ist ein Hase. Los Ariadne wir müssen einen fangen!“ sagte Rosina. Sie zog ihren Umhang an und legte das Käferblatt und eine Möhre in einen Korb. Ariadne schaffte es gerade noch auf Rosinas Schulter zu springen. Dann liefen sie hinaus.
Auf der Wiese vor dem Haus malte Rosina wieder einen Kreis und sang dazu:
„Hase komm doch her,
ich brauche dich so sehr,
hüpfst du in den Kreis,
ist die Möhre hier dein Preis.“
Schon hüpfte der Hase näher heran und sprang in den Lichtkreis hinein, um an der Möhre zu mümmeln. Rosina legte das Blatt mit dem Marienkäfer dazu.
In diesem Moment schallte ein Kikeriki über den Hof. Rosina zuckte zusammen. Die Sonne wird bald aufgehen und sie hatte das letzte Rätsel noch nicht gelöst. Schon schrie der Hahn wieder. Er war ein guter Wach-Hahn, aber die Hexen ließ er zum Eierholen nicht in den Hühnerstall. Gestern waren ihr die Hälfte der Eier auf der Flucht vor dem Hahn zerbrochen. Die Eier. Sie sind weiß oder braun und rund.
„Ariadne. Im Hühnerstall, dort ist die Antwort auf das zweite Rätsel!“, rief Rosina.
„Du bist fast so schlau wie unsereins, Rosinchen! Wie schade, dass du keine Spinne bist, ich würde dich sofort adoptieren“, sagte Ariadne mit einem breiten Lächeln.
Vor der Tür zum Hühnerstall stand der Hahn, den Kopf angriffslustig gesenkt und mit den Füßen scharrend. Was nun? Bannsprüche wirkten nicht bei ihm. Rosina runzelte ihre Stirn und dachte angestrengt nach. Der neue Schlafzauber könnte klappen. Sie hob eine Hühnerfeder auf und sprach:
„Schlaf kommt leicht wie eine Feder,
fällst gleich um und schnarchst wie jeder.“
Die weiße Hühnerfeder glitzerte nun blau. Rosina pustete sie an und wie von Geisterhand schwebte sie zum Hahn, um dort auf seinem Kopf zu landen. Dort versprühte sie kleine blaue Sterne. Der Hahn guckte verdutzt, doch die Augen fielen ihm schon zu, er sank zu Boden und begann gleich zu schnarchen.
Kurz darauf kam Rosina mit einem Ei aus dem Stall heraus und legte es zu Marienkäfer und Hase.
„Puh, das war knapp“, sagte sie und ließ sich auf die Wiese fallen.
„Ich bin so aufgeregt, Hexen-Kindchen. Hoffentlich klappt es“, sagte Ariadne, während sie aufgeregt im Gras hin und her lief.
Die ersten Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch die Baumwipfel und trafen den Kreis. Der Hase hörte auf an der Möhre zu knabbern und schaute hoch. Der Marienkäfer öffnete seine Flügel, wie um abzuheben. Das Ei kullerte wild hin und her. Dann schwebten die drei hoch, umgeben von einem hellen Glanz. Plötzlich blendete sie ein greller Blitz, gefolgt von einem lauten Knall. Rosina sprang vor Schreck auf. Dann saß dort, wo vorher Käfer, Ei und Häschen waren, ein Hase. Ein sehr großer Hase. Sein Kopf reichte Rosina bis an die Schulter. Ihr stand der Mund vor Staunen offen.
„Bist du es wirklich?“, fragte sie.
„Ja, ich bin der Osterhase“, antwortete er lächelnd. „Ich danke dir Rosina. Du musst die schlaueste Hexe weit breit sein, denn nur du hast mich retten können. Doch jetzt muss ich schnell los, ich habe noch viel zu tun.“
Ein Windstoß zerzauste Rosinas Haare und der Hase war weg, aber ihr Korb war voll mit bunten Eiern und Süßigkeiten.
„Kindchen, ich bin so stolz auf dich. Ich sollte dich doch adoptieren, obwohl du nur ein Menschlein bist“, sagte Ariadne, ihr ganzer Körper strahlte golden vor Begeisterung.
Rosina war glücklich. Das Fest war gerettet. Nun musste sie laut gähnen. Sie war furchtbar müde nach dieser schlaflosen Nacht.
Gerade als Rosina sich in ihr Bett gekuschelt hatte, ging die Zimmertür auf. „Rosina, ich bin wieder da mein Schatz“, sagte ihre Mutter. „Weißt du was, mein Liebling? Der Osterhase wurde gesehen. Alles ist wieder in Ordnung. Doch der Rat weiß noch nicht, wer das Rätsel gelöst hat.“ Sie ging zu Rosina ans Bett und strich ihr über das Haar.
„Lass dir das von Ariadne erzählen“, murmelte Rosina, ohne die Augen zu öffnen. Dann war sie schon mit einem Lächeln auf dem Gesicht eingeschlafen. Sie träumte von einem wunderbaren Hexenfest, bei dem sie mit dem Osterhasen um das Feuer tanzte.
Sandra Hummel, 34 Jahre, lebt in Witten. Als sie endlich lesen konnte, machten ihre Eltern ihr ein großes Geschenk: einen Büchereiausweis. Das Tor zu anderen Welten war geöffnet
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Bankrott! Ruin! Exklusivinterview mit dem Osterhasen Mr. O
Darf man den Berichten der letzten Monate annähernd Glauben schenken, so steht die kommerzielle Osterindustrie unlängst vor dem Untergang. Zu groß sei der übermächtige Druck des saisonalen Winterkonkurrenten Xmas Empire & Secret Santa Inc. Seit Jahren beherrscht das Unternehmen mit seinen zahlreichen Idolen kassenklingelnd den Markt: Kinderherzen schlagen für den Weihnachtsmann, Rudolph und Co. Der Osterhase bleibt in repräsentativen Umfragen in der Liste der beliebtesten Wunscherfüller schon lange weit hinter diesen Winterrivalen zurück. Die aktuellen Werte ergaben, dass er die Top Ten in dieser Saison gar zugunsten von Jurymitgliedern der Sendung „Deutschland sucht den Superklon“ räumen musste. Wird Ostern in diesem Jahr also zum ersten Mal in der modernen Konsumgeschichte gestrichen werden? Müssen wir damit rechnen, eine Festtagsübernahme durch eine Frühlingsvariante des Weihnachtsfests zu erleben (und wenn ja: Trägt der Weihnachtsmann dann Badeshorts zu seinem Langhaarbart oder wird er seine Bikini-Engel vorschicken)? Diese und weitere brisante Fragen freuen wir uns, dem Vorsitzenden und Hauptwerbeträger der Osterkompanie Hello Hasi GmbH nun persönlich stellen zu dürfen.
Reporterin: Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Interview nehmen konnten, verehrter Osterhase.
Osterhase: Sehr gerne. Ich bin mümmel-mäßig froh, endlich mit diesen hässlichen Gerüchten aufräumen zu können. Was musste ich dort tagtäglich im Easter-Echo lesen über das angeblich nahende Ende meines Festes (schüttelt so heftig den Kopf, dass die langen Ohren nur so fliegen). Beim Zahne meiner Hoppelhasenkinder kann ich Ihnen versichern: Ostern wird nicht abgeschafft (haut mit seiner Puschelpfote auf den Tisch)!
R: Was ist aber nun dran an diesen Meldungen? Wie schlecht geht es der Hello Hasi GmbH wirklich?
O: Ach, immer fragen nur alle nach den Moneten. Messen Sie den Wert des Osterfestes etwa daran, wie viele Karotten ich schon auf die hohe Kante legen konnte?
R: Na gut, sprechen wir also nicht über Karotten, äh, Moneten. Aber zumindest die Umfragewerte bieten doch größten Anlass zur Besorgnis?
O: Leider muss ich Ihnen in diesem Punkt zustimmen. Die Ergebnisse der renommierten Wunscherfüller-Top Ten können nicht unter den Frühlingswiesenteppich gekehrt werden. Leider ließen die aggressiven Verkaufsstrategien der Xmas Empire & Secret Santa Inc. erstmals kein friedliches Nebeneinander der Feste mehr zu. Ostern sah sich von einer festtagsfeindlichen Übernahme bedroht, man bot uns bereits hohe Summen an, damit ich den Vorsitz Hello Hasis aufgebe. Doch auch wenn ich kurzzeitig die Löffel traurig hängen ließ, werde ich selbige ganz sicher nicht abgeben (knackt entschlossen mit seinen Hasenhauern)!
R: Wie gedenken Sie, ihren Platz zu sichern?
O: Es war nicht einfach, mir einzugestehen, dass selbst die traditionellen Familienfeste mit der Zeit gehen müssen. Heutzutage reicht es anscheinend nicht mehr aus, Kinder mit ein bisschen Farbe, harten Eiern und versteckten Körben begeistern zu wollen. Wir sehen ja, was die Weihnachtsmitstreiter so alles auffahren. Aus diesem Grund habe ich mir ein erfahrenes Marketing-Team zusammengestellt. Mit dessen Hilfe habe ich mich selbst und das gesamte Konzept von Ostern quasi-hasi komplett überarbeitet.
R: Oh. Wie haben wir uns das vorzustellen und wer stand Ihnen dort so hilfreich zur Hasenhüften-Seite?
O: Nun, da gibt es zunächst einmal meinen Style-Berater Bruce Bel-Lapin, der mich nicht nur eingekleidet hat (schwellt seine mit Karl Hasenfeld zwirnumhüllte Hasenbrust), sondern mir auch einen topmodischen Fellschnitt verpasst hat. Jeden Morgen ein haselnussgroßes Portiönchen des „Rocky Rabbit“-Gels einarbeiten – ruhig auch rebellisch gegen die Wuchsrichtung – und schon bin ich très chique für alle Fotoshootings. Sie müssen wissen, auch marketingtechnisch werde ich diesem „phat in red“-posierenden Nikolaus bald in nichts mehr nachstehen: Osterkalender, Poster, der ganze Schnickschnack eben. Außerdem gedenken wir, über Jahre hinweg die HopHop-Szene etablieren zu können.
R (irritiert): HopHop? So wie HipHop?
O: Yo! Ganz recht. Nur so kann man sich nachhaltig für die heranwachsende Zielgruppe interessant machen (der Mümmelmann versucht, ein wenig cooler im Sitz zu lümmeln). Die Redaktion der größten Jugendzeitschrift ließ einen HopHop-Künstlernamen für mich wählen. Egg-minem kam zum Glück nicht so gut an. So werde ich als Mr. O in naher Zukunft meine erste CD präsentieren und dazu mit meinen Choreografen einen neuartigen Hoppel-HopHop-Tanz kreieren.
R. macht ein „Oh nein, jetzt singt er auch noch“-Gesicht.
O: Dieser Schritt ist wirklich dringend nötig, um der erfolgreichen CD-Reihe „Secret Santa’s Supersongs“ die Rentierstirn zu bieten. Oder können Sie mir etwa ein einziges Osterlied nennen?
R: Zählt „Häschen in der Grube“? (Böser HopHop-Gangster-Blick von Mr. O). Äääh, lassen Sie uns doch abschließend noch auf Ihre neuen Multimedia-Produkte zu sprechen kommen.
O: Jawohl. Abgerundet wird die allumfassende Erneuerung der Hello Hasi GmbH durch ihre neuen Hasen-Handelswaren. Zum einem haben wir da den Musikspieler Ei-Pod in dottergelb und dazu die weltweit einzigartige Egg-App, mit der man per GPS selbst die härtesten Osterei-Verstecke orten kann. Natürlich bin ich als gebildetes Lese-Langohr aber auch der Meinung, die Literatur nicht vernachlässigen zu dürfen. Das soll in dem ganzen neumodischen Bling-Bling nicht zu kurz kommen. Aus diesem Grund ist es mir eine besondere Freude, verkünden zu dürfen, dass ein vorbildlicher Kinder- und Jugendbuchverlag ein von Hello Hasi initiiertes Buch veröffentlichen wird. Reine Ostergeschichten, eieiei, es wird ein Hasenfest (hat leuchtende Augen)! In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen und Ostern Olé, sagt euer Mr. O!