Gewaltlosigkeit und Klassenkampf

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Herbert Meißner
Gewaltlosigkeit
und Klassenkampf
Revolutionstheoretische Überlegungen
2014 • Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund
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Der Autor

Prof. Dr. habil. Herbert Meißner wurde 1927 in Dresden geboren.
An der Karl-Marx-Universität Leipzig studierte er Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.
Nach einem fünfjährigen Studienaufenthalt in der UdSSR promovierte er an der Universität Leningrad. Danach baute er an der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst als Dozent das Fachgebiet »Geschichte der ökonomischen Lehren« auf und leitete den entsprechenden Lehrstuhl. An dieser Hochschule habilitierte er sich, wonach an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin die Berufung zum Professor erfolgte. An der Akademie leitete er im Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften den Fachbereich Geschichte der politischen Ökonomie. Die Akademie wählte ihn zu ihrem Ordentlichen Mitglied.
Seine über 250 Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen betreffen Wissenschaftsgeschichte, Friedensforschung, Kapitalismuskritik, Wirtschaftspolitik und Revolutionstheorie. Einige seiner Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Als Exekutivratsmitglied der Weltföderation der Wissenschaftler sowie als Mitglied mehrerer internationaler Fachgremien nahm er leitend an der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit teil. Seit seiner Emeritierung ist er Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.
Von Herbert Meißner erschien im Verlag Wiljo Heinen zuletzt »Trotzki und Trotzkismus – gestern und heute«.
Inhalt
Über den Autor
Vorbemerkung
1. Das Phänomen GEWALT
2. Gewaltlosigkeit – wann?
3. Klassenkampf und Gewaltlosigkeit?
4. Kapitalistische Restauration – gewaltfrei
5. Klassenkampf und Gewaltlosigkeit – heute
6. Das Gewaltmonopol des Staates
7. Gewaltlosigkeit bei Kriegsgefahr?
8. Gewalt im Sozialismus?
9. Lokomotiven der Geschichte
Impressum
Vorbemerkung
In den antikapitalistischen oder auch kapitalismuskritischen Strömungen und Gruppierungen, die in ihrer Gesamtheit das linke Spektrum politischen Denkens repräsentieren, wird viel nachgedacht über Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung und über die Wege zu einer neuen Gesellschaft. Dabei besteht Einmütigkeit darüber, dass dies harter politischer Auseinandersetzungen bedarf. Zugleich wird vielfach Gewaltlosigkeit angemahnt. Aber im Raum stehen viele Fragen. Sind diese Auseinandersetzungen noch Klassenkampf? Ist Klassenkampf mit Gewaltlosigkeit vereinbar? Kann Gewaltlosigkeit erfolgreich sein gegenüber einer administrativ, polizeilich und militärisch hochgerüsteten Staatsmaschinerie mit Gewaltmonopol? Welche Unterschiede gibt es bei diesen Vorgängen in verschiedenen Ländern und sogar Kontinenten? Wie steht es heute um die Behauptung von Karl Marx: »Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.« [➚1]? In welcher Beziehung steht die heutige Forderung nach Gewaltlosigkeit zu dieser marxschen These? Welche Lehren aus der Geschichte sind beim weiteren Vorgehen in diesen Prozessen zu berücksichtigen?
Über diese und ähnliche Fragen wurden die nachstehenden Überlegungen angestellt. Sie enthalten nicht die Lösung der Probleme, sondern deren Beschreibung. Vermutlich wird nicht jeder Satz und jede Aussage akzeptiert werden. Es ist sogar zweifelhaft, ob dies für einen Autor wünschenswert sein kann, würde doch dann jede weitere Diskussion überflüssig. Aber dass die Problemstellung und Problembeschreibung als sinnvoll anerkannt werden, ist allerdings zu hoffen. Diese Überlegungen öffentlich zu machen, soll zum Mitdenken und Weiterdenken anregen und damit vielleicht nicht nutzlos sein.
↑1Karl Marx, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, S. 779
1. Das Phänomen GEWALT
In unserer heutigen Gesellschaft entfaltet sich zunehmend eine Gewaltbereitschaft. Das zeigt sich in Computerspielen, in Fernsehfilmen, im Internet usw. Diese Gewaltbereitschaft entwickelt sich zu Gewaltanwendung. Die Hemmschwelle beim Übergang von Gewaltbereitschaft zu Gewaltanwendung wird immer niedriger. Das zeigt sich in Fußballstadien, in S- und U-Bahnhöfen, in Schulen usw. Das beginnt oft mit Mobbing und endet mit Amok-Lauf. Wenn früher solche Gewaltausübung eine Männerdomäne war, so haben sich inzwischen Mädchengangs gebildet, die kaum weniger rabiat operieren. Registriert wird auch eine Zunahme häuslicher Gewalt in Familie und Ehe. Das gilt auch für Vergewaltigungen, von denen erwiesenermaßen nur ca. 5 % zur Anzeige kommen und gerichtlich verfolgt werden. 95 % werden aus den verschiedensten Gründen nicht offenbart.
Diese Arten von Gewalt haben ihre Ursache in einer generellen Verrohung der Gesellschaft, in einer Gewöhnung der Menschen an Brutalität, in einer Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber diesen Erscheinungen. Den sozialen Hintergrund dafür bietet der Charakter der Ellenbogengesellschaft.
Es gibt auch eine vorgeblich politisch motivierte Gewalt. Dies tritt in Erscheinung, wenn Autos der Luxusklasse angezündet werden, wenn Fenster und Glaswände von Bankgebäuden eingeschlagen werden und ähnliches. Das sind Erscheinungsformen von individuellem Terror, die aber letztlich politisch wirkungslos bleiben und als Rowdytum und Vandalismus eingeordnet werden können.
Eine spezielle Form von Gewalt ist die von Akteuren rechter und neofaschistischer Parteien, Organisationen und Gruppierungen gegen Linke und andere progressive Personen, Büros und Veranstaltungen. In diese Kategorie gehört auch die Gewaltanwendung gegen Andersfarbige, anders Aussehende, Andersgläubige und anders sexuell Orientierte. Hierbei stehen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und neofaschistische Gesinnung Pate.
Ein gesondertes Problem ist die durch das Gewaltmonopol des Staates gedeckte Gewalt von Polizei und anderen Staatsorganen gegen antifaschistische Demonstranten, gegen Atomkraftgegner, gegen Friedensdemos und andere von Bürgerinitiativen organisierte antikapitalistische Aktivitäten. Dieses hier nur erwähnte Problem der Staatsgewalt sei zunächst ausgeklammert, weil es später ausführlich erörtert wird.
Im Hinblick auf die oben genannten vielerlei Erscheinungsformen von Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung ist festzuhalten, dass die meisten Repräsentanten der verschiedensten sozialen und gesellschaftlichen Organisationen, sozialer Netzwerke und gesellschaftskritischer Gruppierungen Gewalt in jeder Form kategorisch ablehnen. Zu ihrer Position gehört die Forderung nach gewaltfreier Konfliktlösung und Gewaltprävention in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.
Auch die Partei DIE LINKE präsentiert sich als Partei, die laut Programm »… für Gewaltfreiheit eintritt, ob im Innern von Gesellschaften oder zwischen Staaten«.[➚2] Dazu gehört die These: »Neben der Kritik an Gewaltakteuren und an gewaltfördernden Machtstrukturen geht es uns um die Aufklärung über tiefere Zusammenhänge von Konfliktursachen.« Und auch wenn im Parteiprogramm nachfolgend das Gewaltproblem stark auf internationale und große politische Konflikte orientiert ist, wird auch die Suche nach »Wegen zu struktureller Gewaltprävention und für einen zivilen Konfliktaustrag« formuliert.[➚3]
Das bedeutet, dass die meisten verantwortungsbewussten politischen Kräfte jede Art von ziviler Gewalt sowie individuellem Terror kategorisch ablehnen.
Man muss auch registrieren, dass die politischen Parteien der herrschenden Klasse – ob schwarz, gelb, grün oder rosa – ebenfalls gegen Rowdytum, Vandalismus und individuellen Terror auftreten. Dazu aber zwei Anmerkungen: Erstens tun sie sich in der politischen Praxis infolge vielerlei verwaltungsmäßigen Wirrwarrs sehr schwer dabei, und zweitens ist diese Haltung nicht einer prinzipiellen Position für Gewaltfreiheit geschuldet, sondern dem Bemühen um störungsfreies Funktionieren ihres Systems. Das ist ein beträchtlicher Unterschied.
Diese Betrachtungen zum allgemeinen Phänomen GEWALT betreffen generelle menschliche Verhaltensweisen, denen die verschiedensten Ursachen zugrunde liegen. Diese können z.B. sein persönliche Eigenschaften wie überzogenes Temperament und Unbeherrschtheit, familiäre Situationen, fehlorientierte Gruppenbildungen, soziale Ausgrenzung, Existenzbedrohung, gesellschaftliche Perspektivlosigkeit u.a m. In den Medien und seitens humanistischer Organisationen wird viel getan, um diese Gewaltausbreitung einzuschränken und zurückzudrehen. Ein ernstzunehmender Erfolg ist diesen Bemühungen bisher nicht beschieden.
Diese Arten von Gewalt haben zwar zum Teil auch ihre Wurzeln in den gesellschaftlichen Verhältnissen, sind aber nicht zielgerichtet auf eine Beeinflussung oder Veränderung der gesellschaftlichen Entwicklung orientiert. Daher können sie bei der nun folgenden Behandlung der Beziehung von Gewaltlosigkeit und Klassenkampf beiseite gelassen werden. Ihre kurze Darstellung ist nur der Vollständigkeit des Themas GEWALT geschuldet.
Diese notwendige Vollständigkeit erfordert noch eine weitere Überlegung. Das Phänomen GEWALT wurde nur unter dem Aspekt physischer Gewalt betrachtet. Aber es gibt auch psychische Gewalt. Eine der Formen dessen ist das, was der Volksmund unter »Gehirnwäsche« versteht. Dies ist in der Regel auf Einzelpersonen bezogen.
Die ständige, systematisch und abgestimmt von vielen Medien vollzogene geistige Manipulation des Denkens ganzer Bevölkerungen kann ebenfalls als Erscheinungsform psychischer Gewalt interpretiert werden.
Vor einiger Zeit war der Begriff der psychologischen Kriegsführung verbreitet. Auch wenn dieser Begriff inzwischen aus den Medien fast wieder verschwunden ist – das damit bezeichnete Vorgehen findet nach wie vor statt und kann ebenfalls als eine Form psychischer Gewalt bezeichnet werden.
Schaut man in das Wirtschaftsleben, so zeigt sich, dass auch hier Beschäftigte sowie Nichtbeschäftigte, Angestellte wie Selbstständige ökonomischem Zwang in den verschiedensten Formen unterliegen. Auch in der Ökonomie herrscht ökonomische Gewalt.
Das alles resultiert daraus, dass die Herrschaft in jeder Klassengesellschaft letztlich auf Gewalt beruht. Wenn man aber dies alles unter den generellen Begriff der Gewalt subsumiert, löst sich der Gewaltbegriff gewissermaßen auf, zerfließt und wird für die hier behandelte Problematik von Gewalt und Gewaltlosigkeit im Klassenkampf, für diese spezifische Dialektik, nicht mehr fassbar. Daher werden diese Aspekte zwar hier genannt, im Weiteren aber nicht detailliert behandelt.
↑2Programm der Partei DIE LINKE, Beschluss des Parteitages der Partei DIE LINKE vom 21. bis 23. Oktober 2011 in Erfurt, bestätigt durch einen Mitgliederentscheid im Dezember 2011. Kapitel 4 Abs. 6
↑3a.a.O., Kapitel 4, Abs. 2
2. Gewaltlosigkeit – wann?
Alle kapitalismuskritischen und antikapitalistischen Kräfte streben einen grundsätzlichen Politikwechsel und eine Veränderung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse an. Dazu gehören neben politischen Parteien auch soziale Netzwerke, Occupy, Verbände für Bürgerrechte und Menschenwürde, Friedensbewegung u.a.m. Die obige Unterscheidung von kapitalismuskritischen und antikapitalistischen Kräften ergibt sich daraus, dass die Kapitalismuskritik die Mängel, Fehlkonstruktionen, finanzpolitischen Auswüchse und sozialpolitischen Zerrüttungen der bestehenden Ordnung scharfer und qualifizierter Kritik unterwirft, aber »nur« für eine Beseitigung dieser Mängel und für eine Verbesserung des Charakters dieser Ordnung eintritt. Die Anführungszeichen bei »nur« sollen aussagen, dass dies natürlich von enormer politischer Bedeutung ist und dass in der gegenwärtigen Periode – und sicher noch für längere Zeit – dies eine Hauptstoßrichtung im politischen Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft ist.
Die antikapitalistischen Kräfte sind in der gleichen Weise tätig, gehen aber in ihrer Zielstellung über die Forderung nach Verbesserung der Gesellschaft hinaus und streben die generelle Überwindung der bestehenden Ordnung an. Das beruht darauf, dass die entsprechenden Autoren die gegenwärtigen Übel stärker an den Wurzeln packen und daher nicht nur die Auswüchse beschneiden, sondern die Wurzeln ausreißen wollen.
Solange es »nur« darum geht, dem Herrschaftssystem möglichst viel Zugeständnisse abzutrotzen und seine Bewegungsmöglichkeiten einzuschränken, stehen alle als gemeinsame Verbündete in diesem Kampf und sollten sich auch so zueinander verhalten. Insofern ist die genannte Unterscheidung zunächst vorrangig theoretischen Charakters. Sie wird aber im Hinblick auf künftige Strategien durchaus praktische Bedeutung erhalten.
Dieser von allen fortschrittlichen Kräften geführte Kampf steht unter der von allen gemeinsam vertretenen Losung von Gewaltlosigkeit. Als Kampfmethoden werden die Erweiterung der parlamentarischen Demokratie durch direkte Demokratie gefordert, Volksentscheide angemahnt, politische Streiks organisiert, es wird auf Generalstreik orientiert und zu zivilem Ungehorsam aufgerufen. In den letzten Jahren haben diese Bewegungen viele neue Formen des Widerstands gegen die herrschende Ordnung entwickelt.
Dem steht jedoch entgegen, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten ihre Positionen zu erhalten und weiter zu festigen bemüht sind. Ihr Widerstand gegen demokratische und soziale Forderungen nimmt immer brutalere Züge an.
Unter allen linken Kräften, Sozialforen, Netzwerken, Gewerkschaften usw. gibt es keinerlei Zweifel darüber, dass der Kapitalismus eine Klassengesellschaft ist. Mit welch unterschiedlichen Schattierungen oder zusätzlichen Beinamen er von den verschiedenen antikapitalistischen oder kapitalismuskritischen Gruppierungen auch ausgestattet wird – für alle handelt es sich um eine Gesellschaft mit Klassencharakter, um eine Klassengesellschaft, um Klassenherrschaft!
Damit ist aber auch klar, dass die von den Lohnabhängigen und anderen sozial benachteiligten Schichten geführten Kämpfe gegen Sozialabbau, gegen Leiharbeit und Lohndumping, gegen Hartz IV und Rente mit 67, gegen Kinder- und Altersarmut, für flächendeckenden Mindestlohn u.a.m. eindeutig Klassenkämpfe sind – auch wenn dieser Begriff nicht ständig lautstark benutzt wird. Ob nun der Begriff »Klassenkampf« in den verschiedenen Dokumenten, Programmen, Verlautbarungen und Aufrufen verwendet wird oder nicht – er findet statt. Da bei alledem aber der Standpunkt aufrecht erhalten wird, dass Gewaltfreiheit beizubehalten ist, entsteht für alle die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Gewaltfreiheit und Klassenkampf oder nach der Führung des Klassenkampfes bei absoluter und konsequenter Gewaltlosigkeit. Ist das realistisch? Kann das funktionieren? Wenn ja – wie? Wenn nein – weshalb nicht und was dann?
3. Klassenkampf und Gewaltlosigkeit?
Zur Beantwortung dieser Fragen finden wir Hilfe in der Geschichte – bei aller Spezifik unserer Gegenwart. Als allgemeingültig hat sich in der seriösen Geschichtswissenschaft die Erkenntnis von Marx und Engels durchgesetzt: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«.[➚4] Und weiter wird im Kommunistischen Manifest konkretisiert: »Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete …« [➚5] Innerhalb der jeweiligen Gesellschaftsordnung finden in verschiedenen Perioden stärkere oder schwächere Klassenauseinandersetzungen statt. In Zeiten zugespitzter Konflikte zwischen oben und unten kommt es dann zu jenen stürmischen Kämpfen, die auf eine »revolutionäre Umgestaltung der ganzen Gesellschaft« abzielten. Davon zeugen die Aufstände von Spartacus gegen die Sklaverei wie die Bauernkriege gegen die Feudalherrschaft in Deutschland. Auch die Unabhängigkeitskriege in Amerika und die Überwindung der Sklaverei in den dortigen Südstaaten, was alles zur Entstehung der Vereinigten Staaten führte, vollzogen sich in revolutionären Kämpfen. In Europa wurde die Überwindung des Feudalismus und die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft von der Französischen Revolution erfolgreich eingeleitet. Auch wenn nachfolgende revolutionäre Kämpfe ohne den jeweils angestrebten Erfolg blieben – sie alle belegen, dass die durch Klassenkämpfe vorangetriebene Entwicklung der Gesellschaft bis hin zu grundsätzlich neuer Gesellschaftsformation nicht ohne Kampf, nicht ohne Opfer, also nicht gewaltlos vor sich gegangen ist. Das gilt für 1848 und 1918 in Deutschland genauso wie für die Pariser Kommune und 1905 in Russland. Erst der russischen Oktoberrevolution gelang es wieder, eine alte Gesellschaftsordnung zu stürzen und den Aufbau einer qualitativ neuen Gesellschaftsformation zu beginnen. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Rote Oktober etwa im Vergleich zur Französischen Revolution oder zu anderen revolutionären Vorgängen die geringste Zahl an menschlichen Opfern mit sich brachte. Erst der nach der Machtergreifung der Sowjets von den Weißgardisten initiierte Bürgerkrieg und die ausländischen Interventionen führten zu größeren Verlusten. Dennoch vollzog sich auch die sozialistische Oktoberrevolution nicht gewaltfrei.
Hier soll natürlich nicht eine Revolutionsgeschichte nachgezeichnet werden. Es geht lediglich darum, sich in Erinnerung zu rufen und ganz konkret vor Augen zu halten, wie historisch gerechtfertigt die marxsche Erkenntnis von der Gewalt als Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht, ist.[➚6]
Diese marxsche Verallgemeinerung wurde auch von Friedrich Engels auf die vergleichsweise liberale französische Republik bezogen, als er schrieb: »Die französische Bourgeoisie … kann keinem Streik anders begegnen als mit Infanteriesalven und bringt es damit fertig, dass in einer Republik mit allgemeinem Stimmrecht den Arbeitern kaum ein anderes Siegesmittel bleibt als die gewaltsame Revolution«.[➚7]
Von Lenin wurde dies weiter aufgeschlüsselt, als er im März 1919 auf dem I. Kongress der Kommunistischen Internationale erklärte: »Die Geschichte lehrt, dass noch nie eine unterdrücke Klasse zur Herrschaft gelangt ist und auch nicht gelangen konnte, ohne eine Periode der Diktatur durchzumachen, d.h. der Eroberung der politischen Macht und der gewaltsamen Unterdrückung des verzweifeltsten, wildesten, vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Widerstands, der immer von den Ausbeutern geleistet wurde.«
Man könnte noch viele Formulierungen von Marx, Engels und Lenin anführen, die diese Grundgedanken auf verschiedene Weise ausbauen, vertiefen und an bestimmten historischen Vorgängen verifizieren. Aber es geht hier nicht um eine Zitatensammlung, sondern um die beweiskräftige Vorstellung der Tatsache, dass in der Vergangenheit bis heute alle Klassenkämpfe mit der Anwendung von Gewalt verbunden waren. Dabei gab es revolutionäre Gewalt seitens der Unterdrückten im Kampf um ihre Befreiung sowie Herrschaftsgewalt seitens der unterdrückenden Klassen zur Sicherung und Aufrechterhaltung ihres Herrschaftssystems.
Da diese verschiedenen Arten von Gewaltanwendung gegensätzlichen Zielen dienen, sind sie auch nicht als gleichwertig einzuschätzen: Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Der Unterschied besteht einmal in der historisch-politischen Einordnung unter dem Aspekt, ob dem gesellschaftlichen Fortschritt dienend oder ihn verhindernd, ob erreichten gesellschaftlichen Fortschritt sichernd oder das Rad der Geschichte zurückdrehend. Und ein zweiter Unterschied besteht in Art und Umfang der Gewaltausübung. Es ist nicht das Gleiche, wenn leibeigene Bauern mit dörflicher und städtischer Armut im Bunde die Herrensitze der Großgrundbesitzer und Feudalherren niederbrennen, sich den von ihnen bearbeiteten Boden aneignen und verteilen und die Abschaffung der Leibeigenschaft fordern, wobei auch Gutsherren und Adlige zu Tode kamen – oder ob die gut ausgerüsteten und ausgebildeten Heere des Schwäbischen Bundes die nur mit Sensen und Heugabeln bewaffneten Bauernhaufen Thomas Müntzers zu Tausenden buchstäblich abschlachteten.
Aber ungeachtet aller wichtigen Unterschiede bei Zielstellung, Ausmaß und Art von Gewaltanwendung bleibt unbestreitbar, dass in allen bisherigen Klassenkämpfen Gewaltlosigkeit keinen Platz hatte. Deshalb hat Marx auf dem Amsterdamer Kongress der Internationale betont: »Wir wissen, dass man die Institutionen, die Sitten und die Traditionen der verschiedenen Länder berücksichtigen muss, und wir leugnen nicht, dass es Länder gibt, wie Amerika, England, und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können. Wenn das wahr ist, müssen wir auch anerkennen, dass in den meisten Ländern des Kontinents der Hebel unserer Revolutionen die Gewalt sein muss; die Gewalt ist es, an die man eines Tages appellieren muss, um die Herrschaft der Arbeit zu errichten.« [➚8]
Wenn all das für die Vergangenheit gilt, entsteht die Frage, wie es in Gegenwart und Zukunft um die Möglichkeiten gewaltlosen, gewaltfreien gesellschaftlichen Fortschritts bestellt ist.
↑4MEW, Bd. 4, S. 462 – später ergänzt durch »aller bisherigen geschriebenen Geschichte«
↑5Ebenda
↑6MEW Bd. 23, S. 779
↑7MEW Bd. 21, S. 383
↑8MEW, Bd. 21, S. 168
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