Kommunikations- und Mediengeschichte

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In der Literatur wird meist die von Gutenberg entwickelte Typografie als eine erste (oder nach der Schrift zweite) Medien-Revolution betrachtet (vgl. u. a. WELKE 2008: 9f.). Tatsächlich aber war der Übergang von handgeschriebenen zu gedruckten Medien aktueller gesellschaftlicher Kommunikation fließend (siehe Kap. 3.2). Und auch die Form der frühen Wochenzeitungen änderte sich zunächst durch den Druck kaum (vgl. BÜCHER 1893/2017: 223). Wolfgang Behringer (2003) argumentiert in einer umfassenden Studie zur Geschichte der Post überzeugend, dass die entscheidende Kommunikationsrevolution im Europa der Frühen Neuzeit nicht der Buchdruck war, sondern die Entwicklung der Infrastruktur der Kommunikation, d. h. der Post- bzw. Verkehrsnetze. Wie oben angesprochen, war es letztlich wohl die Kombination mehrerer Innovationen – handgeschriebene periodische Zeitungen, wesentlich basierend auf dem öffentlichen Postwesen, und Typografie – die den in diesem Buch als revolutionär betrachteten Umbruch von der Versammlungs- zur journalistisch vermittelten Kommunikation ermöglicht haben. Dazu kamen soziale und politische Veränderungen, die ihrerseits wiederum durch den Buchdruck gefördert wurden (vgl. WILKE 2008: 37f.) und zu einem gesteigerten Nachrichtenbedürfnis führten. Die starke Verbreitung der Zeitung beförderte wiederum die Veränderungen in der politischen Öffentlichkeit. Solche Wechselwirkungen zwischen technischen Innovationen und gesellschaftlichem Wandel sind typisch für soziale Evolutionsprozesse (siehe weiter unten).
Interessant ist, dass sich Teilschritte der dargelegten Entwicklung auch in der römischen Antike und im ersten nachchristlichen Jahrtausend in China feststellen lassen (vgl. BÜCHER 1893/2017: 203f.; RIEPL 2014: 163; WAGNER 2014b: 214, 226, 237). Zudem sind offenbar im chinesischen Hangzhou im 12. und 13. Jahrhundert alle Entwicklungsschritte zu beobachten, also bis hin zu Wochen- und Tageszeitungen mit autonomer, journalistischer Vermittlung – aber diese blieben dort nur ein illegales Phänomen von begrenzter Dauer (vgl. HE 2015 und Kap. 3.3). Insofern hat sich erstmals im Europa der Frühen Neuzeit die journalistische Kommunikationsvermittlung dauerhaft durchgesetzt und recht schnell auch über zahlreiche weitere Weltgegenden verbreitet. Dies kann damit in Verbindung gebracht werden, dass zwar die materiellen oder technischen Voraussetzungen dieser Entwicklung – wie das Botenwesen, die Schrift und das Papier, die Typografie sowie v. a. die Einrichtung von Verkehrsnetzen und eines (allgemein zugänglichen) Postwesens (siehe Kap. 3.1) – auch andernorts zumindest größtenteils gegeben waren, nicht aber zugleich derselbe spezifische Komplex weltanschaulicher oder ideeller Faktoren wie in Europa (vgl. MITTERAUER 2004: 257ff., 274ff.). Kurt Imhof (2006: 53) spricht von einer spezifischen »Spannung zwischen Kognition und Glauben«, die für die »okzidentale Entwicklung« (anders als etwa die chinesische) prägend war. Auf diesen Faktorenkomplex wird in Kapitel 3.3 zurückzukommen sein. Diese (gut dokumentierte) europäische Entwicklung steht im Fokus des vorliegenden Buches.
Auf den tiefgreifenden Umbruch durch die (gedruckten) Wochenzeitungen und den Journalismus folgten weitere, evolutionäre Entwicklungen, die durch eine Diversifizierung der Massenmedien gekennzeichnet sind. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelten sich nicht nur die Zeitungen weiter, sondern es entstanden mit den Zeitschriften weitere Printmedien mit anderen Funktionen. Mit der Einführung und Nutzung der Elektrizität im 19. Jahrhundert kamen sodann mit Radio, (Kino-)Film und Fernsehen weitere Massenmedien dazu, die im späten 20. Jahrhundert, auf der Basis des Internets sowie des Mobilfunks, durch digitale Medien ergänzt wurden (siehe Kap. 4.3 u. 5).
Mit dem Einsatz der elektronischen Medien verbindet sich nach Wagner (vgl. 2009: 109) erneut ein tiefgreifender Wandel gesellschaftlicher Kommunikation (dazu auch BÖSCH 2019: 141). Allerdings kam es nicht erneut zu einem vollständigen Umbruch hinsichtlich der zentralen Form gesellschaftlicher Kommunikation: Die journalistisch vermittelte Kommunikation und damit die medialen Öffentlichkeiten blieben weiterhin grundlegend. Insofern werden die mit den elektronischen Medien verbundenen Veränderungen hier eher als evolutionäre Entwicklungen verstanden, auch wenn sie starke Veränderungen mit sich brachten.14 Denn mit den elektronischen Medien wurde grundsätzlich wieder ein gleichzeitiger Austausch möglich, was zuvor, auf der Basis der Printmedien, nicht mehr gegeben war (vgl. WAGNER 2009: 109f.). Dies hat mit der Etablierung spezieller Informations- bzw. Kommunikationsnetze zu tun, die an die Stelle der vorher für die Kommunikationsvermittlung genutzten – langsameren – Verkehrsnetze traten. Internet und Smartphone haben außerdem wieder eine (nahezu) allgemeine Medienverfügbarkeit etabliert,15 ähnlich wie in der Versammlungskommunikation mit den natürlichen Medien. In diesem Kontext wird noch zu diskutieren sein, ob sich damit eine neuerliche Kommunikationsrevolution verbindet oder zumindest ankündigt (siehe Kap. 5).
Der Evolutionsbegriff stammt ursprünglich aus den Naturwissenschaften, ist aber auch »im Zusammenhang der Theorien des sozialen Wandels […] längst unentbehrlich geworden« (LÜBBE 2012: 278), nicht zuletzt in systemtheoretischen (Luhmann) und konstruktivistischen Zusammenhängen (vgl. SCHMIDT 1994: 261).16 Franz Adam Löffler verwendete ihn bereits im 19. Jahrhundert für seine kommunikationsgeschichtliche Darstellung des »Gebärungsprozess[es] der Presse« (WAGNER 2009: 92). Im vorliegenden Buch werden unter sozialer Evolution irreversible Prozesse (langsamer) struktureller Veränderungen verstanden, die gerichtet stattfinden. Ihre Gerichtetheit ergibt sich daraus, dass sich soziale Systeme ständig an Veränderungen ihrer Umwelt anpassen müssen, indem sie ihrerseits mit Änderungen reagieren, die im Prinzip rational, also zielgerichtet erfolgen – unter den veränderten Rahmenbedingungen. Die evolutionären Prozesse selbst sind aber insofern als »ziellos« zu bezeichnen, als eben diese veränderten Bedingungen nicht vom sozialen System selbst intendiert, sondern zufällig sind. Die Folgen und das Ende solcher Prozesse können jeweils nur im Nachhinein erschlossen werden (vgl. LÜBBE 2012: 281; ähnlich auch STUDER 2018: 36). Dabei können evolutionäre Entwicklungen letztlich auch zu einem revolutionären Umbruch führen, wie Terence P. Moran (2010: 9) erläutert: »Revolution is either rapid significant change or the moment when evolutionary change reaches a critical mass that results in significant change in a system«. Dies kann deutlich mit Blick auf den Umbruch von der Versammlungs- zur journalistisch vermittelten Kommunikation beobachtet werden, dem eine Reihe von Entwicklungsschritten vorausging (siehe Kap. 3). Zunächst wird nun aber der Ausgangspunkt aller dieser Entwicklungen näher in den Blick genommen: die Versammlungskommunikation.
6Eine ähnlich technikzentrierte Phaseneinteilung findet sich bei Moran (2010: 8).
7Zu weiteren Vorschlägen solcher Phasen oder »Perioden der Mediengeschichte« vgl. etwa auch Schmolke (2007: 236-238), North (1995: iXf.) und Faulstich (2006: 11-15). Den wohl »frühesten bekannten Periodisierungsversuch des gesellschaftlichen Nachrichtenverkehrs« (WAGNER 2014a: 243) legte Franz Adam Löffler schon 1837 vor.
8Es sei angemerkt, dass diese Ausführungen Luhmanns zu gesellschaftlichen Entwicklungen und ihrem engen Zusammenhang mit Veränderungen in der Kommunikation einige erstaunliche Ähnlichkeiten mit Überlegungen zweier Autoren des 19. Jahrhunderts (Albert Eberhard Friedrich Schäffle und Franz Adam Löffler) aufweisen (vgl. BAUER 2016: 74ff.; WAGNER 2009: 92ff.).
9Vgl. dazu auch Schönhagen (2008a), wo diese Überlegungen – damals in Teilen einem unveröffentlichten Manuskript Wagners (2005) folgend – bereits aufgegriffen wurden.
10Es handelt sich hierbei um einen theoretischen Ansatz zur gesellschaftlichen Kommunikation und Massenkommunikation, der seit den späten 1920er-Jahren von Wissenschaftlern am Münchner Institut für Kommunikationswissenschaft entwickelt wurde.
11Die Begriffe ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹ werden in der Literatur häufig, basierend auf einer Unterscheidung von Tönnies (1979 [1887]), voneinander abgegrenzt. Nach Tönnies ist Gemeinschaft u. a. gekennzeichnet durch interpersonale Bezugsgruppen sowie ›direkte Kommunikation‹ und wurde, historisch betrachtet, v. a. durch Religion bzw. Glaubensinhalte zusammengehalten. Gesellschaft dagegen ist geprägt durch partikulare Interessen, funktionale Differenzierung und (medien-)vermittelte Kommunikation (vgl. AVERBECK-LIETZ 2015: 64f.). Teilweise wird stattdessen das Begriffspaar ›Vergemeinschaftung‹ und ›Vergesellschaftung‹ verwendet, um unterschiedliche Phänomene sozialer Beziehungen (in heutigen, modernen Gesellschaften) zu charakterisieren (vgl. SCHWIETRING 2011: 24-28; SCHERR 2006: 56-61).
12Zu einer sehr ähnlichen wie der hier dargelegten Sichtweise auf die Entwicklung von der Versammlungs- zur Massenkommunikation und zum Journalismus, wenn auch nur sehr knapp dargelegt, vgl. Domingo et al. (2008: 327-329) sowie Beierwaltes (1999: 28-32).
13Auch daran wird der grundlegende Umbruch deutlich: Lange Zeit ergänzten einfache Formen der Kommunikation über Distanz die zentrale Versammlungskommunikation, während seit der Frühen Neuzeit die Versammlungskommunikation nur noch eine ergänzende Rolle spielt und die journalistisch vermittelte Kommunikation die gesellschaftsweite Öffentlichkeit herstellt.
14Im Kontext der Kommunikations- und Mediengeschichte ist auf recht unterschiedliche Weise von Revolutionen und Evolution(en) die Rede. In der Regel werden mit dem Revolutionsbegriff »tiefgreifende [strukturelle] Veränderungen« (BEHRINGER 2003: 9f.; vgl. auch WAGNER 2009: 107) verbunden. Behringer (2003: 9ff.) unterscheidet dabei nochmals zwischen Medien- und Kommunikationsrevolutionen. Für Wagner (2009: 106) ist die »Umstellung von der Versammlungskommunikation zu einer wirklich effektiven Kommunikation über Distanz« aufgrund des »Wechsel[s] der Prinzipien der Nachrichtenverbreitung« klar »eine Kommunikationsrevolution«. Dem folgen auch die Autor*innen des vorliegenden Buchs. Bisweilen wird jedoch schon die Einführung neuer Techniken oder gar einzelner Geräte oder Angebote als revolutionär bezeichnet. So wird z. B. die Erfindung von beweglichen Lettern durch Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, in Mainz als Revolution bezeichnet (vgl. u. a. WELKE 2008: 9f.; EISENSTEIN 1979; kritisch dazu BEHRINGER 2003: isff.; BRIGGS/BURKE 2009: 19; WÜRGLER 2013: 81-83). Tatsächlich wurde das Prinzip jedoch schon früher in Asien entwickelt, wenn auch nicht mit dem Gutenberg’schen Bleiguss-Verfahren (vgl. SCHÖNHAGEN 2008a: 54). Zudem veränderte diese Erfindung nicht sofort grundlegend die soziale Kommunikation, weil weitere wichtige Voraussetzungen fehlten. Insofern stellte die Versammlungskommunikation zunächst weiter die dominierende Form gesellschaftlicher Kommunikation dar. Mosco (2005) zeigt am Beispiel mehrerer Medien(technologien) im Detail, dass deren Einführung jeweils, im wissenschaftlichen wie populären Diskurs, sehr ähnliche Erwartungen radikaler Umbrüche (vgl. u. a. ebd.: 115) hervorgerufen hat – im Sinne von »enthusiasm and awe« (ebd.: 121). Typischerweise ist es dann jedoch zu derartigen Umbrüchen nicht gekommen (vgl. u. a. ebd.: 8, 118f.).
15Nach Schätzungen der International Telecommunication Union (ITU) der Vereinten Nationen ist jedoch zu beachten, dass zwar mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung technisch die Möglichkeit haben, das Internet zu nutzen, aber nur etwas mehr als die Hälfte der Menschen dies auch tatsächlich tut (vgl. INTERNATIONAL TELECOMMUNICATION UNION (ITU) (2019): Measuring digital development. Facts and figures 2019. Genf: ITU Publications, S. 8. Online unter: https://www.itu.int/en/ITU-D/Statistics/Documents/facts/FactsFigures2019.pdf [13.10.2020]).
16Vgl. dazu auch den von Kinnebrock, Schwarzenegger und Birkner (2015) herausgegebenen Tagungsband mit diversen Beiträgen von Wilke, Stöber, Ziemann und Latzer. Dennoch wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sich evolutionstheoretische Ansätze nicht breit durchgesetzt hätten (vgl. STUDER 2018: 41). Grundsätzlich kritisch zur Verwendung des Evolutionsbegriffs in Verbindung mit Kommunikations- und Mediengeschichte äußert sich Prokop (2001: 8).
2.VERSAMMLUNGSKOMMUNIKATION
Wie eingangs erwähnt, erfordert jedes menschliche Zusammenleben kommunikativen Austausch über »das, was alle angeht«, wie es Peter Schneider in seinem Rechtsgutachten im Rahmen der Spiegel-Affäre formulierte (zit. nach MARCIC 1965: 165). So müssen Probleme diskutiert und Lösungen gefunden, Aufgaben auf die Mitglieder einer Gemeinschaft aufgeteilt sowie Entscheidungen getroffen werden. Auch werden die für alle gültigen Regeln und Normen kommunikativ etabliert und durchgesetzt. Ohne umfassende Kommunikation kann keine Gemeinschaft oder Gesellschaft entstehen und (fort)bestehen – die Mitglieder konstruieren mithilfe von Kommunikation ihre gemeinsame Wirklichkeit (siehe Kap. 1). Frühe Gesellschaften basierten weitgehend auf mündlicher Kommunikation (sog. orale Gesellschaften) (vgl. WILKE 2008: 4f.). Der Staatsphilosoph René Marcic (1965: 64; Hervorh. d. Verf.) spricht daher auch von der »Redegesellschaft« als dem »Urschema der Gesellschaft«. Mündliche Kommunikation vollzog sich im alltäglichen Austausch zwischen einzelnen Mitgliedern oder kleineren Gruppen, etwa bei den Mahlzeiten oder der Jagd, sowie mittels eher zufällig oder nebenbei stattfindender Kommunikation wie etwa bei Festen und Märkten, sog. »okkasionellen« Öffentlichkeiten (THUM 1990: 47; BELLINGRADT 2011: 22). Daneben findet man schon früh auch formalisierte Kommunikation im Rahmen von speziellen Versammlungen. Meist wurden dafür besondere Orte genutzt, wie z. B. Versammlungshäuser oder der Fest- bzw. Marktplatz, im antiken Athen die Agora bzw. das Forum (vgl. MARCIC 1965: 166; WELWEI 1996: 25).
Der Ethnologe Nigel Barley (2013: 191) beobachtete solche »Palaver« z. B. in den 1980er-Jahren beim Volk der Dowayo in Kamerun, wo man sich »unter einem Baum auf dem öffentlichen Rund vor dem Dorf« versammelte. Detailliertere Beispiele finden sich in Franz-Josef Eilers’ publizistikwissenschaftlicher Studie über die schriftlosen Kulturen Nordost-Neuguineas. Derartige ›Redeveranstaltungen‹ oder ›Dispute‹ wurden zu den unterschiedlichsten Themen abgehalten und konnten stundenlang dauern. Die Verhandlung von sechs Stämmen über ein gemeinsames Fest lief z. B. wie folgt ab:
»In einem Rechteck angeordnet lagerten sich die Männer der verschiedenen Stämme, insgesamt wenigstens 180 männliche Personen, auf einer Wiese neben der Straße. Immer wieder standen die Redner der einzelnen Gruppen auf, beredeten oder bedrohten sich gegenseitig oder versuchten, den Vorredner zum Schweigen zu bringen. Jede Rede wurde vom Kommentar der zugehörigen bzw. auch angesprochenen Männer begleitet. […] Die räumliche Anordnung der einzelnen Clans auf dem Versammlungsplatz […] entsprach in etwa der Himmelsrichtung, in der ihre Wohngebiete lagen« (EILERS 1967: 69).
Hier ist, bei einer schon relativ großen Gruppe von Beteiligten, sehr deutlich zu beobachten, dass nicht jeder Einzelne während dieses Disputs selbst das Wort ergriff, sondern dass bestimmte Redner für größere Gruppen sprachen. Zudem verdeutlichte ihre räumliche Ausrichtung für die Zuhörer, für wen sie sprachen. Bei Eilers finden sich eine Reihe weiterer deutlicher Hinweise auf dieses Phänomen der Kommunikationsrepräsentanz, das weiter unten noch näher erläutert wird.
Während langer Zeiträume der Menschheitsgeschichte – in Europa bis weit ins Mittelalter, in Stammesgesellschaften noch bis ins 20. Jahrhundert hinein – erfolgte umfassender öffentlicher Austausch in ähnlicher Art und Weise. Meist waren an dieser Form der Kommunikation allerdings nicht sämtliche Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft beteiligt. Im antiken Athen z. B. verfügten nur die freien, männlichen Bürger über ein Rederecht bei der Volksversammlung, der sog. Ekklesia. Um 322 v. Chr. waren dies etwa 30.000 Männer, wobei durchschnittlich nur 5.000 bis 6.000 an den Versammlungen teilnahmen (vgl. WELWEI 1996: 31, 37). Ein solcher Austausch nahm erhebliche Zeit in Anspruch, sodass andere Teile der Gesellschaft gleichzeitig für den Erhalt der Lebensgrundlagen sorgen mussten – meist waren dies v. a. Frauen und Sklaven (vgl. SCHÖNHAGEN 2004: 137). Dies gilt auch für das antike Athen. Aber nicht nur in der Frühzeit der Menschheit und der Antike, sondern auch noch im Mittelalter wurde ein großer Teil des kommunikativen Austauschs mündlich abgewickelt, z. B. bei Dorf- oder Volks- und Gerichtsversammlungen, den sog. Ding- oder Thing-Versammlungen (vgl. RÖSENER 2000: 47). Hintergrund ist dabei auch die im mittelalterlichen Sozialleben »elementare dominante Erwartung […]: daß die betroffene Gemeinschaft an der Herstellung und Beurteilung dieser [politischen und rechtlichen; die Verf.] Ordnungen teilhaben konnte« (THUM 1980: 18). Somit besaß die »Dingversammlung […] eine starke Integrationskraft« (RÖSENER 2000: 51).
ABBILDUNG 1
Landsgemeinde in Glarus (2014)

In der Schweiz waren solche öffentlichen Versammlungen, die »Landsgemeinden« (siehe Abb. 1) oder auch Zendenversammlungen (Bezirksversammlungen im Wallis), noch im 17. und 18. Jahrhundert eine »funktionsfähige Form der Öffentlichkeit des Politischen« (WÜRGLER 1996: 33, Hervorh. d. Verf.; vgl. auch CARLEN 1973: 24; MÖCKLI 1987: 26-30).17 In einem Kanton, Glarus, sowie einem Halbkanton, Appenzell Innerrhoden, hat sich diese Tradition – selbstverständlich mit starken Veränderungen – bis heute erhalten: Einmal im Jahr18 versammeln sich alle Stimmfähigen, um »unter freiem Himmel über alle wichtigen politischen Geschäfte« zu beraten und zu entscheiden (BLUM/KÖHLER 2006: 285).19 Entschieden wird dabei etwa über Verfassungsänderungen, Gesetze, Kreditbeschlüsse sowie Verträge, in Glarus auch über den Steuersatz, wobei auch Vorlagen abgeändert werden können. »Die Versammlung als höchstes Organ existiert überdies in einigen schwyzerischen Bezirken, in der Mehrzahl der bündnerischen Kreise und in rund 2000 Gemeinden« der Schweiz (ebd.). Insbesondere in kleineren Gemeinden stellt die Gemeindeversammlung, bestehend aus allen stimmberechtigten Einwohner*innen, noch recht häufig das Legislativorgan dar, größere haben heute meist ein Gemeindeparlament (vgl. ebd.). Bei den beiden noch bestehenden Landsgemeinden finden allerdings »lebhafte verbale Kontroversen« zwischen den Bürger*innen, wie sie früher häufig der Fall waren (WÜRGLER 1996: 34), nur noch selten statt, werden doch die anstehenden Fragen vorher bereits ausführlich in den Massenmedien diskutiert (vgl. BLUM/KÖHLER 2006: 296f., 302). Dagegen enthielten die frühen Zeitungen, im 17. und auch noch 18. Jahrhundert, meist keine oder kaum lokale Berichte, sodass für die anstehenden Entscheidungen bei den Landsgemeinden noch großer Diskussionsbedarf bestand, »ja etliche strittige Probleme sind überhaupt erst durch Anträge aus dem Kreis der gemeinen Landleute thematisiert worden« (WÜRGLER 1996: 34). Außer in den erwähnten Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen findet Versammlungskommunikation selbstverständlich, nicht nur in der Schweiz, auch heutzutage immer noch vielerorts statt, insbesondere im Rahmen kleinerer Teilöffentlichkeiten, so etwa in Parlamenten, Vereinsversammlungen etc. Sie dient aber meist nicht mehr dem gesamtgesellschaftlichen Austausch, der heute vorwiegend über die Massenmedien zustande kommt.
EXKURS I
Historischer Hintergrund I: Die Alte Eidgenossenschaft bis 1798
Der ›erste‹ Bund, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis heute offiziell als Gründungsakt der Schweiz mit dem Nationalfeiertag am 1. August begangen wird, wurde 1291 zwischen Uri, Schwyz und Nidwalden geschlossen (vgl. REINHARDT 2010: 13-18),20 nach der Schlacht am Morgarten 1315 erneuert und um weitere Orte ergänzt.21 So kamen per Vertrag Obwalden (1315), Luzern (1332), Zürich (1351), Glarus (1352) und Bern (1353) hinzu, Zug wurde 1352 erobert. Diese Verträge bildeten zu Beginn, insbesondere für Zürich und Bern, nur »eine Option« bzw. »eine Vernetzung unter anderen«, denn sog. »Landfriedensbündnisse […] [waren] zeittypisch« (ebd.: 24-26). Dass der neue Bund von Dauerhaftigkeit geprägt war, hatte nach dem Freiburger Historiker Volker Reinhardt (ebd.: 28) mehrere Gründe: die stetige »Verdichtung der Bünde […] mit gemeinsamen innenpolitischen Zielrichtungen und […] Einrichtungen«; die »Eroberung abhängiger Gebiete, die […] gemeinsam zu verwalten« waren (sog. Gemeine Herrschaften); »eine Abstoßungsreaktion« gegen »neue zentrale Institutionen« innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation am Ende des 15. Jahrhunderts (vgl. Historischer Hintergrund II);22 sowie die »Idee der Nation«, die durch die »Wortkriege […] der Humanisten […] in den Köpfen der Eliten« verankert wurde. Gelegentlich musste das Primat der »eidgenössischen Ausrichtung« (ebd.: 41) auch militärisch durchgesetzt werden, z. B. 1450 gegen Zürich (vgl. ebd.: 19-41).
Mit der Erweiterung der Eidgenossenschaft war ein kontinuierlicher Austausch und »ein Minimum gemeinsamer Beschlussfassung« (REINHARDT 2010: 42) notwendig geworden. Zu diesem Zweck kam seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zuerst einmal jährlich die sog. Tagsatzung (französisch: diète; italienisch: dieta) zusammen, die Versammlung der Abgesandten der Orte bzw. später Kantone. Diese wurde von zwei Vertretern je Ort besucht, die ein sog. ›imperatives Mandat‹ hatten, d. h., sie waren an vorher gefasste Beschlüsse zu den einzelnen Tagesordnungspunkten gebunden. Gleichzeitig setzte sich eine Mischform aus Einstimmigkeit, z. B. für eine Bundesrevision, und Majoritätsprinzip, etwa für Angelegenheiten, welche die gemeinsam verwalteten Gebiete und Schiedsgerichte betrafen, durch. Neben den Mitgliedern der Eidgenossenschaft konnten aber auch die zugewandten Orte teilnehmen, die formal keine Mitglieder, aber eng assoziiert waren, z. B. das Wallis oder die ›Drei Bünde‹ (das spätere Graubünden). Als ›Vorort‹ agierte zunächst Luzern, welches sich diese Rolle nach der Reformation mit Zürich teilte (vgl. ebd.: 42-45; WÜRGLER 2014: o. S.).
Ab den 1520er-Jahren erschütterte die Reformation die Eidgenossenschaft. Die von dem Zürcher Prediger Huldrych Zwingli angeführte Glaubenserneuerung wurde von den innerschweizerischen Orten (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug) bekämpft, von Bern, Basel und Schaffhausen aber befürwortet. Dies führte 1529 zu einem Bündnis der katholischen Orte mit Österreich und kriegerischen Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Ausgängen. Als eines der langfristigen Ergebnisse kann wohl die Landteilung von Appenzell Innerrhoden (katholisch) und Außerrhoden (reformiert) gelten, die sich bis heute in den beiden Halbkantonen manifestiert. Wie breit die Gräben waren, zeigt sich etwa an der Tagsatzung, die »seit zweihundert Jahren das Forum des eidgenössischen Gedankenaustauschs schlechthin« (REINHARDT 2010: 82) gewesen war und »in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Symptome der Entfremdung« zeigte (ebd.: 82).
Für die sog. »Spätzeit der Alten Eidgenossenschaft« (1713-1797) spricht Reinhardt (ebd.: 98) von einem »Spannungsverhältnis von Stabilität im Großen und vielfältigen Konflikten im Kleinen«. Stabilisierend wirkten insbesondere die Erhaltung der traditionell sehr kleinräumigen Selbstverwaltung sowie die enge Verflechtung der »Interessen der städtischen Eliten mit denen der dörflichen Oberschichten« (ebd.: 99). Neben Konflikten über die Frage der Vorherrschaft geistlicher oder weltlicher Gerichtsbarkeit gelangten zudem die neuen Ideen der Aufklärung in die Köpfe der führenden Politiker – nicht zuletzt in Form der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 (vgl. ebd.: 98-109).

Wie weiter oben bereits angespochen, lässt sich in allen Varianten der Versammlungskommunikation typischerweise beobachten, dass nur bestimmte Personen als Redner*innen aktiv sind, die jedoch ihnen zugehörige Gruppen repräsentieren. Solche Repräsentant*innen sind ein typisches Phänomen jeder Kommunikation größerer Gruppen und sie prägen auch die massenmedial vermittelte Kommunikation (vgl. FÜRST/SCHÖNHAGEN 2020:117-119; WAGNER 1995: 32-36, 235-262). Das Prinzip der Repräsentanz sorgt für eine Konzentration der Sprecher*innen, d. h., es muss nicht jede*r einzelne Teilnehmende sprechen bzw. vermittelt werden.23 Letzteres würde einerseits Zeitprobleme, andererseits unnötige Wiederholungen der gleichen Standpunkte mit sich bringen. »Kommunikationsrepräsentanz bedeutet somit eine außerordentliche Vereinfachung und Abkürzung des Kommunikationsverlaufs« (WAGNER 1995: 34) und sorgt für Überschaubarkeit des kommunikativen Geschehens. Hier zeigt sich eine erste Rationalisierungstendenz, die auch für die weitere Entwicklung (und speziell für die Kommunikationsvermittlung durch Massenmedien) bedeutsam ist.





