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Der Trommler räusperte sich. Noch immer schlug er langsam auf sein Instrument ein, als führten seine Hände ein Eigenleben.
»Das war wohl wieder nichts«, sagte er. Ihre Wangen glühten.
Die Tanzmeisterin warf Kara einen Blick zu, der die Gletscher Inuas zum Frösteln gebracht hätte. Sie spürte die Scham über ihren Sturz schmerzhaft in ihrer Brust. Was hatte sie denn erwartet? Natürlich wollte die Frau sie nicht. Sie hatte sich gerade beim Vortanzen hingelegt. Schlimmer ging es kaum.
Der Trommler öffnete den Mund. Vermutlich, um das nächste Mädchen hereinzurufen. Noch immer hallten die rhythmischen Schläge zwischen den Wänden. Kara hob eine Hand vor ihre Brust. Ihre Fingerspitzen zitterten und der Versuch, das verräterische Zeichen ihrer Nervosität zu unterbinden, verstärkte den Tremor noch. Die Tücher an ihren Handgelenken schienen plötzlich aus Blei gewebt zu sein. Sie schluckte den letzten Tropfen Unsicherheit herunter. Niederlagen der Vergangenheit galt es, zu akzeptieren, und ihre Aufmerksamkeit sollte dem nächsten Schritt gelten. Und sie tat den nächsten Schritt. Wieder begann sie, sich zu drehen und zu springen. Jede Bewegung explodierte aus ihr.
Die Tanzmeisterin bohrte ihren Blick ohne jede Gefühlsregung in die Darbietung. In Kara wuchs Widerstand. Die Inderin hatte sie bereits als unpassend befunden. Eines der perfekten Tanzmädchen würde das neue Mitglied der Tanzgruppe werden.
Karas Tänzerlächeln schmolz von ihren Wangen. Sie lauschte dem monotonen Trommelschlag, schloss die Augen und vergaß die Fremden, die ihr Urteil bereits gefällt hatten.
Ihre Haltung verlor die Perfektion. Ihre Drehungen verloren an Unsicherheit. Ihre Hände die lange antrainierte Steife. Dafür brachte jeder Schlag ihre Mitte zum Vibrieren. Mit jeder Faser verschmolz sie mit dem Tanz und vergaß die Erwartungen der Beobachter. Noch immer folgte ihr Körper den einstudierten Mustern. Aber in ihren Sprüngen steckte eine Leichtigkeit, die ihre Lehrer nicht vorgesehen hatten, und ihre Arme verwandelten sich in Flügel, die sie der Schwerkraft enthoben. Sie fand sich selbst in ihren Bewegungen. In den letzten Jahren war das Tanzen zu einer Pflichtübung geworden, die sie gewissenhaft erledigte. Auf ihrer Suche nach Perfektion war die Leidenschaft verloren gegangen. Und sie hatte die Schönheit, die darin lag, und all die Geschichten, die sich in schiefen Figuren und unsauberen Landungen versteckten, einfach vergessen.
Die Choreografie nahm in ihrem Geist eine eigene Gestalt an. Lichter verwirbelten zu Nebeln, Farben und Schatten. Sie tanzte nicht nach der Führung durch die Trommel, sie tanzte mit ihr. Der nächste Schlag, die nächste Bewegung, sie waren die Folge des Vorhergewesenen. Sollten die sie wegschicken, wie all die anderen. Dieser Moment gehörte ihr. Sie tanzte nicht länger für die Anerkennung durch die anderen oder die Bestätigung durch die Tanzmeister. Nicht einmal für den Beifall eines Publikums. Sie tanzte für sich. Weil es ihr gefiel.
Bumm. Sprung. Bumm. Drehung. Bumm. Nach hinten fallen lassen. Bumm. Aufkommen. Bumm. Nicht verbeugen.
Langsam öffnete sie die Augen. Im ersten Moment blendete die Welt sie. Doch dann nahmen die Beurteiler im Grau des Raums wieder Gestalt an. Der Trommler verzog keine Miene.
Kara begegnete seinem Blick. Was hatte sie sich dabei gedacht? Die beiden würden jedem, den sie kannten, von ihrer seltsamen Vorstellung erzählen. Wieder würden Geschichten über einen Sturz und unmögliches Betragen erzählt werden und Leute würden über sie lachen.
Ihr Trotz kehrte zurück. Warum störte sie, was Langweiler dachten? Sie hatte getanzt. Wirklich getanzt.
»Finden Sie sich morgen um neun Uhr im Übungsraum ein.« Die Stimme des Trommlers war leise. Bloß ein Flüstern, doch es brachte ihr Innerstes zum Beben.
»Sie nehmen mich?« Ein Schauder durchlief ihren Körper von den Haarwurzeln bis zu den Fußspitzen. Sie stand kurz davor, ein neues Kapitel ihres Lebens zu schreiben. Sie spürte den Sog der Zukunft.
Die Frau antwortete mit frostiger Stimme. »Wir ziehen es in Erwägung. Sie werden sich zu einer Übungsstunde mit unserem Trommler einfinden. Danach sehen wir weiter.«
Vorschuss
Raumhafen der Nomaden im Orbit des Zwergplaneten Amarok
Der Ort, an dem Glenn, laut Dans Aussage, Abhilfe für seine Geldsorgen finden würde, sah seriös aus. Und das beunruhigte ihn. Sehr.
Über der Glastür hing ein Metallschild, das »Raumfahrerausstattung« anpries. Direkt darunter prangte ein Aufkleber: »VdR verbürgte Qualität in Zusammenarbeit mit der QdK und VPH«.
VdR stand für den Verband der nomadischen Raumhäfen. Glenn kratzte sich am Kopf. Sollte diese Bürgschaft Leute etwa davon überzeugen, dieser Laden sei vertrauenswürdig? Bei den Nomaden galt es, Versprechungen mit Vorsicht zu genießen. Die meisten bezeichneten sich als Händler oder Piraten. Beide verkauften ihre eigenen Kinder, wenn sie sich dadurch Gewinn erhofften.
Die QdK und VPH, die Qualitätssicherung der Konglomerate und Vereinigung von Planeten und Habitaten, verdienten noch weniger Vertrauen. Die schnitten ihre Kinder vor dem Verkauf in Scheibchen, wenn das den Gewinn maximierte. Vielleicht stellte das Schild eine Warnung dar. Vor allem für Leute, die vor Kurzem einem der Konglomerate einen Wissenschaftler geklaut hatten. Auf wie viel Vertrautheit mit den Konglos wies so ein Schild hin?
»Hier willst du hin?« Nance musterte das Schild mit großen Augen. Überdimensionierte Goldohrringe schaukelten von ihren Ohrläppchen und verhedderten sich in den grünen Zöpfchen, die ihr bis auf die Schultern fielen.
»Wir müssen neue Mineralkartuschen und Vorräte für den Drucker besorgen. Und du sagtest doch, du bräuchtest einen neuen Nukleuschip.«
Glenn atmete durch den Mund, um dem süßlichen Gestank des Haaröls zu entgehen, das Nomaden so gerne benutzten. Der Geruch hing wie eine schwüle Wolke über den Köpfen der Vorbeiziehenden in der Hauptstraße der Raumstation und schien ihn gemeinsam mit der Stationsschwerkraft zu erdrücken.
»Ich meine: Warum müssen wir das persönlich tun?« Nance rollte mit den Augen. »Wieso hast du das Zeug nicht wie ein normaler Mensch über Hafenfunk bestellt? Du weißt, dass die Drohnen im Hafeneinzugsgebiet ohne Aufpreis liefern?«
»Vielleicht wollte ich mir ein wenig die Füße vertreten und den Duft der Zivilisation schnuppern.«
Glenn bekam einen heftigen Hieb gegen die Schulter, als eine ganze Gruppe Nomaden in abgerissenen Raumanzügen an ihm vorbeirempelte. Nance verkniff sich ein Lachen und grunzte stattdessen.
»Klar, Käpt’n. Gedränge und Trubel ziehen dich magisch an.«
Glenn sehnte sich tatsächlich nach dem Gefühl echter Beschleunigung, das ihn weit von diesem überlaufenen Hafenquartier fortbrachte. Dazu brauchten sie allerdings neue Vorräte und einen neuen Chip. Ein gut trainierter Nukleuschip allein konnte die Heuerkosten für eine ganze Mannschaft übersteigen. Aber ein billiger Chip zweifelhafter Herkunft stellte ein Risiko dar, das kein verantwortungsbewusster Nomade einging. Also brauchte er Geld. Und deshalb musste er den Auftrag abschließen. Wozu er noch mehr Geld brauchte, weil er vorher Kroll auftauen musste. Seine Eingeweide drohten, dem Ruf der Schwerkraft zu folgen und sich in Richtung Füße davonzumachen.
»Dan meinte, er kennt hier jemanden. Mir wurde ein kostengünstiger Kontakt in ein Krankenhaus versprochen, wenn ich hier persönlich aufkreuze. Wir sollten Kroll auftauen, wenn’s geht.«
Nance sah zu dem Schild und schüttelte den Kopf. Ihre Ohrringe schaukelten wild. »Hier drin? Wirklich? Das klingt dubios. Nach Konglo, oder so.«
»Wir werden sehen.« Sein Kopf fühlte sich mehrere Nummern zu groß und zu leicht an. »Außerdem hat Dan die Kommunikationskanäle überprüft. Lehrsinn-Bode hat kein Kopfgeld ausgesetzt. Vermutlich hatten die Angst, dass das Aufmerksamkeit auf ihr Geheimlabor lenkt.«
»Ich weiß echt nicht, was daran beruhigend sein soll, Käpt’n.« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Die haben Spione und Attentäter und so was.«
Glenn stieß die Tür auf und ein angenehm kühler Luftstrom umwehte sein Gesicht. Der Allbedarfsladen bestand aus einem Verkaufsraum, dessen einseitig verspiegelte Fenster vor neugierigen Blicken schützten, jedoch einen Ausblick auf das Treiben in der Gasse boten. Ein paar Birkenfeigen unter künstlichen Sonnen, sowie ein niedriger Tresen stellten die gesamte Einrichtung dar.
Er atmete erleichtert auf. Die frische Luft hier drin beruhigte seine mit der Stationsschwerkraft kämpfende Verdauung auf den ersten Atemzug. Das stete Gefühl zu fallen, während er stand, trieb ihm bittere Galle in den Rachen. Allgang nannten die Nomaden das und hielten es für eine Auszeichnung echter Allbewohner. Er bezeichnete sich ab heute mit Freuden als Felsenkleber, wenn er damit dieser Auszeichnung entginge.
Ein Händler stand hinter dem Tresen und grüßte sie mit einer Hand. Die Bewegung ließ bunte Pailletten an seinen Ärmeln im Licht schillern. In der anderen hielt er einen Becher, aus dem süßlicher Dampf aufstieg.
»Nicht so schüchtern. Kommen Sie nur rein.« Der Mann stellte seinen Becher ab und musterte Glenn fachmännisch. Dann pochte er mit der anderen Hand auf eine der Tafeln. Das Angebot veränderte sich und funkelnde Raumanzüge an unnatürlich gut gelaunten Menschen strahlten von der Wand.
»Interesse am neuesten Modell von Lehrsinn-Bode?«, fragte der Mann. »Ist heute reingekommen. Neueste Thermoregulierung und Liquidaufbereitungsmodule sind bereits eingebaut. Autoreparationsmodus ist aktiv, sobald die Dinger Saft haben. Die Alltauglichkeit ist für zehn Jahre garantiert. Der Helm ist im Preis inbegriffen. Für Felsenhocker und Leute aus dem Inneren kostet das Teil dreizehntausend Kuben. Aber unter uns Nomaden, gebe ich’s für schlappe siebentausend her.«
»Sparen Sie Ihren Atem«, sagte Glenn. Wen wollte der mit dem Versprechen einer Selbstzerstörung in zehn Jahren zum Kauf überreden? »Wir sind wegen der Mineralkartuschen, Kalorieneinheiten, Aromen, des Nukleuschips und Dans Freund im Krankenhaus da.«
Der Händler runzelte die Stirn und warf ihm einen abschätzenden Blick zu. Dann tippte er wieder gegen die Tafel und das Bild verschwand. »Von der Sonnenwind?«
Glenn nickte. Dan hatte ihm andere Zahlungsmodalitäten versprochen und sie schwammig gehalten. Die genauen »Modalitäten« galt es, jetzt zu klären.
Die Lässigkeit fiel augenblicklich von dem Mann ab und in seinem Blick glitzerte ein Funkeln, das Glenn nicht gefiel. Nance schien davon nichts mitzubekommen.
»Fünfte Generation für den Chip reicht vollkommen. Aber nichts unter Dritter«, erklärte sie geschäftsmäßig. Dann hob sie die Hand. »Oh und kein Vanillezeug in den Kartuschen, wenn’s geht. Das ganze Schiff stinkt davon. Und ich brauche Ergänzungsmittel.«
»Ergänzungsmittel?« Glenn blinzelte sie verwirrt an. »Wozu? Bist du krank?«
»Herzlichen Glückwunsch!«, rief der Händler scheinbar zutiefst erfreut und schlüpfte wieder in seine Händlerpersönlichkeit. Auf eine beiläufige Geste von ihm öffnete sich in der Wand hinter ihm eine Klappe. Darin blitzten Dutzende Chips in ihren Schutzhüllen. Der Mann legte sie auf den Tresen und wandte sich an Nance. »Haben Sie schon eine Erstausstattung für das Kleine?«
»Wie bitte?« Glenn starrte Nance mit offenem Mund an.
Der Händler schnippte und auf einer der Wandtafeln grinsten Kinder wie blöde, weil eine dunkelhaarige Frau sie in einen Medisarg steckte. Die Werbetreibenden hatten offensichtlich noch nie versucht, Kinder einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Selbst Glenn wusste, dass das nicht ohne Gebrüll ablief.
»Wie Sie wissen, arbeiten wir mit einer wunderbaren Klinik zusammen. Die Preise sind niedrig und die Dienstleistung erstklassig. Eine bessere Versorgung gibt’s selbst im Kernsektor des Planeten nicht. Komplette Diagnose und Verbesserung des Erbguts, Alltauglichkeit vom ersten Trimester an …«
»Ein Baby an Bord?«, unterbrach Glenn den überglücklichen Händler und starrte Nance mit offenem Mund an. »Und wann wolltest du mir das sagen?«
»Das Wunder des Lebens«, rief der Händler, als hätte er noch nie etwas Ergreifenderes gehört. »Ein stolzer Nomade von morgen, der …«
»Wie hast du überhaupt?«, Glenn stöhnte auf. »Wann?«
»Heute Morgen nach dem Einlaufen. Die haben in jedem Dock ‘ne Samenbank. Das ist keine große Sache«, erklärte sie. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Seine Reaktion traf sie sichtlich unvorbereitet. Was hatte sie erwartet? Dass er in Begeisterung ausbrechen würde, weil sie ihm ein Balg aufs Schiff setzte?
»Keine große Sache? Du bist erst zwanzig!«, rief er. »Was hast du dir dabei gedacht?«
»Dreiundzwanzig«, korrigierte sie ihn. »Ich brauche nur ‘ne Behandlung, um reisefähig zu sein.«
Ihre Stimme klang plötzlich dünn. Offensichtlich hatte sie sich nichts dabei gedacht. »Wir wollten doch sowieso nach Akna weiterfliegen. Ich geh da von Bord, wenn du willst. In der Zwischenzeit kannst du jemand Neues finden.«
»Das hast du schon alles durchdacht, was?«, fragte er ruhiger. Er hätte nicht so aufbrausen sollen. Andererseits hätte sie ihn vorwarnen können. Wer schwängerte sich denn bitte aus einer Laune heraus? Die Menschheit hatte den Verstand verloren. »Wegen der Behandlung …«
»Wie gesagt die Klinik ist gleich da vorne«, fiel der Händler ihm ins Wort. »Kann ich wärmstens empfehlen. Die gehören zu den lizenzierten Partnern der QdK. Und das können wir auf die gleiche Liste schreiben, wie den Chip, den Auftaudienst und die Vorräte.«
Es bedeutete nichts Gutes, wenn dieser Typ völlig sicher war, das Darlehen von ihm zurückzukriegen. Egal, welche Höhe es erreichte.
»Rücken die auch die Rohdaten, für die Weiterverwendung im Medisarg an Bord raus, oder nur die Analysen?«, fragte Nance und vermied es, Glenn anzusehen.
»Ein Baby«, stammelte er. In seinem Bauch schien es vor lebendigen Mehlwürmern zu wimmeln. Vermutlich leuchtete sein Gesicht mittlerweile grün. »Unser Medisarg bräuchte dann auch ein Update. Schwangerschaften sind definitiv nicht im Basispaket drin …«
»Wie gesagt, ich geh von Bord. Wenn du willst.« Nance hob die Schultern.
Sie war so jung. Wie kam sie dazu, sich zu schwängern? Ob Lena, Dan oder Tian schon Bescheid wussten? Zumindest würde das erklären, warum alle so unheimlich beschäftigt gewesen waren, als er aufbrechen wollte.
»Ich bin der Letzte, der das erfährt, oder?«, fragte er und seufzte. »Was sagen die anderen denn?«
»Lena sagt, es sei deine Entscheidung, ob du Kinder an Bord willst. Dan denkt, wir könnten einen der Gemeinschaftsräume zum Spielraum umgestalten. Er hat irgendwas von Hologrammbildern erzählt«, sagte sie und grinste plötzlich verschmitzt. »Und Tian meinte, er hoffe auf Drillinge.«
»Drillinge?« Der Allgang drohte mittlerweile, ihn von den Füßen zu werfen.
»Ich hab drei befruchten lassen. Die schlagen ja nicht immer alle an.«
Zum Allwal mit ihr. Seine Beinmuskulatur fühlte sich an, als bestünde sie aus Algenpaste. Wieso hatte sie sich in den Kopf gesetzt, jetzt Kinder zu kriegen? Musste irgendein Hormondings sein. Vermutlich hätte er bei der Anschaffung des Medisargs nicht so knauserig sein sollen. Das rächte sich jetzt.
»Also wegen der Behandlung …«, stammelte er. Verdammt. Schwanger werden sollte schwieriger sein. »Das wird teuer.«
Nance lächelte. »Na, das ist ja wohl Kleinvieh. Dank des Finderlohns für den Wissensch…« Sie sah zu dem Händler und räusperte sich. »Also mein Anteil am letzten Lohn für unsere … ähm … überaus ehrliche Arbeit. Der reicht, um nicht nur Kinder zu kriegen, sondern auch, sie alltauglich zu machen. Und ich habe ja noch ein paar Jahre Zeit, bevor sie in die Ausbildung müssen.«
»Ich nehme auch personenbezogene Kontodaten auf Kredit«, erklärte der Händler. »Außerdem nehme ich Schiffsausrüstung als Pfand. Bis sie das mit Raka geklärt ha…«
Glenn fuhr zu dem Händler herum. Dans Kontakt hieß Raka? Etwa die berüchtigte Androidin? Das fehlte ihm gerade noch. Von so einer hielten sich anständige Nomaden fern.
»Raka?«, fragte Nance. »Wissen Lena und Dan das? Und Tian erst … Der wird dich umbringen, wenn er hört, dass er seine Kohle erst kriegt, wenn eine Blechbüchse ihm hilft. Du weißt, wie seine Leute über die Dinger denken.«
Der Händler drehte sich um und begann geschäftig, die Chips in der Schublade umzusortieren.
»Von mir aus kann er zu seinen Träumern gehen«, erklärte Glenn. »Ist nicht meine Schuld, wenn die Clans sich aufs Kaffeesatzlesen in Trümmerfeldern versteigen.«
»Lass das lieber keinen von denen hören. Die Nomadenflotten betreiben ernsthafte Archäologie da drin«, warf Nance ein. »Ich hab da mal einen Vortrag zu gehört, der die Verwicklungen einer KI in Vertuschungsprogramme von Konglomeraten und Regierungen aufgedeckt hat.«
»Deren alternative Geschichtsschreibung ist reine Verschwörungstheorie«, erklärte Glenn. »Wir haben gerade echte Probleme zu klären.«
Der Händler zog ein Tuch aus der Hosentasche und wischte damit die Schublade ab. Die Chips lagen genauso, wie vor seiner Sortieraktion. Er sah für Glenns Geschmack allzu zufrieden aus. Kaufleute und Politiker. Es gab keine hinterlistigeren Schauspieler und Lügner im Sonnenlicht.
»Wie sehen die alternativen Zahlungsmodalitäten aus, von denen Dan gesprochen hatte?«, fragte Glenn.
»Ich habe bereits ein Treffen mit Raka für euch ausgemacht.« Der Mann wandte sich ihnen wieder zu und zeigte aus dem Fenster. »Einfach durch den Torbogen auf der anderen Straßenseite. Ist nicht zu verfehlen. Grüßt sie von mir. Eure Einkäufe lass ich euch liefern, sobald sie für eure Finanzen bürgt.«
Anscheinend gab es da, zumindest dem Händler nach, nicht mehr viel zu klären. Glenn stopfte seine Hände in die Hosentaschen. Er hätte definitiv mit dem Schlimmsten rechnen sollen, als Dan von anderen Zahlungsmodalitäten zu faseln begonnen hatte. Und Tian würde definitiv ausflippen, wenn er erfuhr, dass sie vielleicht mit einer Blechbüchse zusammenarbeiteten.
Übungsstunde
»Gibt es so etwas, wie eine intrinsische Motivation? Oder entstammt alle Motivation der Umwelt?«
Aus dem Ordner: Erkenntnisse über das Selbst; Erinnerungen des Kollektivs
Der Trommler wartete bereits im Übungsraum auf Kara. Die Trommel mit dem Fellbezug stand zu seinen Füßen, wie ein vergessenes Gepäckstück. Sie kam pünktlich. Wieso sah er aus, als warte er schon seit Ewigkeiten auf sie?
»Bin ich zu spät?«, fragte sie zögerlich und kam sich in dem ansonsten leeren Raum verloren vor. Alles hier drin war grau. Der Boden, die Wände, sogar der Anzug des Trommlers. Seine dunklen Augen fixierten sie, doch sein blasses Gesicht blieb reglos.
»Ich muss mich noch aufwärmen«, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Eine leichte Vibration verriet die Nähe zu einem der Maschinenräume, die das Habitat am Leben hielten. Sie zog ihre Laufschuhe aus, schlüpfte in die biegsamen Schläppchen und versuchte, den Mann, der sie wortlos beobachtete, zu ignorieren. Kam der sich nicht seltsam vor, so zu starren?
»Also«, begann sie, nur um die Stille zu brechen. »Ich kann die Choreografie noch einmal durchtanzen.«
»Die, bei der du gestürzt bist?«, fragte er weich.
Kara versteifte ein wenig. »Ja. Genau die. Soll ich den Sturz mit einbauen?«
Sie grinste über ihren eigenen Witz. Aber das Grinsen fiel ihr aus dem Gesicht, als er sie ohne Reaktion anstarrte. Keine blöden Witze mehr. Der Typ besaß nicht ein Quäntchen Humor.
»Tu, was du für richtig hältst«, sagte er und sie warf ihm einen überraschten Blick zu.
»Das war nicht ernst gemeint«, sagte sie. »Also das mit dem Sturz einbauen.«
»Ich weiß.« Er zeigte zum ersten Mal ein unterkühltes Lächeln. »In deinem Profil steht, du hast noch nie eine Anstellung als Tänzerin bekommen? Wie oft hast du schon irgendwo vorgetanzt?«
Kara wich seinem Blick aus. Solche Fragen gehörten in einem Vorstellungsgespräch dazu. Auch, wenn sie es nicht mochte, über ihre Unzulänglichkeit als Tänzerin zu sprechen. Und sie mochte es auch nicht, zuzugeben, dass sie genau wusste, wie oft sie bereits eine Ablehnung kassiert hatte.
»Schon einige Male.«
»Du weißt die Anzahl nicht?« Er sah überrascht aus. Als stelle ihn die Verarbeitung ihrer Worte vor Schwierigkeiten.
Warum hatte sie gelogen? Die Zahl stand mit Sicherheit im Profil.
»Achtundvierzig«, sagte sie und erntete einen abschätzenden Blick.
»Du bist keine besonders gute Tänzerin.«
Es schien eine Feststellung zu sein. Warum war sie hier? Damit er sich über sie lustig machen konnte? Heißes Blut stieg in ihren Wangen auf.
»Warum tust du nicht etwas anderes?«, fragte er.
»Was soll ich schon tun?« Sie schluckte. Wollte er ihr sagen, dass sie das Tanzen an den Nagel hängen und eine andere Beschäftigung suchen sollte? »Es ist das Einzige, was ich kann.«
»Ich denke, du kannst tun, was du willst. Du könntest sogar eine gute Tänzerin sein. Aber aus irgendeinem Grund hast du dich dagegen entschieden.« Er runzelte die Stirn. »Warum?«
»Warum ich mich dagegen entschieden habe, eine bessere Tänzerin zu sein?«, wiederholte sie. Der wollte sie veräppeln. Vermutlich hatte er sie nicht zum Tanzen, sondern zu seiner persönlichen Belustigung hierher bestellt. »Offensichtlich, weil ich es nicht besser kann. Ich übe jeden Tag. Ich strenge mich an. Ich versuche es. Mehr kann ich nicht tun.«
»Wieso? Was treibt dich dazu, es zu versuchen? Warum willst du Vortänzerin werden?«
»Ich möchte andere Leute mit meinem Tanz glücklich machen«, sagte sie und verschränkte die Hände vor ihrem Bauch. »Ich möchte sie zum Lächeln bringen und ihren Beifall hören.«
Der Trommler hob eine Augenbraue und schürzte die Lippen. Kara presste die Handflächen aufeinander. Hatte er eine andere Antwort erwartet? Die Erinnerung an den Sturz beim Vortanzen drängte sich ihr auf und trieb Hitze in ihre Wangen. Warum hatte er sie trotzdem ein zweites Mal sehen wollen? Weil sie getanzt hatte. Wirklich getanzt. Sie erinnerte sich an den Moment, in dem sie im Tanz aufgegangen war. In dem sie vergessen hatte, dass sie beobachtet wurde und nur für sich selbst getanzt hatte.
»Ich möchte tanzen«, sagte sie. »Weil es mich glücklich macht. Weil ich dabei nicht über die Zukunft oder die Vergangenheit nachdenke, sondern nur den Augenblick genieße. Ich möchte den perfekten Moment erleben, nicht den Moment der Perfektion.«
»Dann lass uns anfangen«, sagte er und nahm seine Trommel vom Boden. Mit keiner Regung ließ er durchblicken, was er von ihrer Antwort hielt. Kara zog mit beiden Händen ihren Pferdeschwanz fest, bis es ziepte.
Was sollte das? Zuerst machte er sich über sie lustig, weil sie nicht besser tanzte, und jetzt wollte er anfangen zu trommeln?
Aber sie fragte nicht. Irgendetwas sagte ihr, dass sie keine bessere Antwort bekommen würde. Fragen hörten die Tanzgruppen nicht gerne von Angestellten. Und erst recht nicht von Anwärtern. Ihre Aufgabe bestand darin, zu tun, was man ihr sagte und dabei ihr Bestes zu geben. Und vielleicht würde sie so endlich einen Stammplatz in einer Tanzgruppe finden.
Also stellte sie sich in Position. Und sobald er mit dem Trommeln begann, tanzte sie. Sie sprang so hoch, wie es ihre Muskeln hergaben. Sie streckte den Fuß durch, bis sie die Spannung in den Zehenspitzen als ziehenden Schmerz spürte. Mitten im Sprung verkrampfte ihre Wade. Sie kam aus dem Gleichgewicht und knallte wieder mit der Schulter voran auf den Boden. Heißer Schmerz durchfuhr sie und trieb ihr brennende Tränen in die Augen. Sie biss in ihre Unterlippe, um sie vom verräterischen Zittern abzuhalten.
Typisch. Absolut typisch. Das war’s. Diese Blamage gesellte sich zu anderen, in ihren Unterlagen. Ein weiterer Fehlschlag.
»Warum bist du gestürzt?«, fragte der Trommler.
Mit Mühe schluckte sie die Tränen runter, die ihre Worte verhinderten. »Wadenkrampf.«
Sie hasste die Schwäche ihres Körpers, der sich jetzt, da sie so nah dran war, ihr Ziel zu erreichen ihrem Willen verweigerte. Langsam raffte sie sich vom kalten Boden auf. Ihre Schulter fühlte sich seltsam taub an.
»Ich will es noch einmal versuchen.«