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Nur der erste Schritt ist schwierig.
– Marquise du Defand –
Hauptkommissar Schneider hatte gerade zwei Bahnen vom Rasen gemäht, da vibrierte sein Handy in der Gesäßtasche. Er ließ den Sicherheitsgriff des Mähers los. Der Motor verstummte. Umständlich zog er die Gartenhandschuhe aus, ließ sie auf den Boden fallen und griff eilig nach dem Handy.
»Was gibt’s?«
»Kowalski, Gieboldehausen. Hallo Christian. Du, wir brauchen dich hier. Ich bin in Germershausen. Da ist die ...«
»Ein Mord?«
»Nein. Aber, aus der ...«
»Warum rufst du mich dann an? Wende dich an den Kollegen, der jetzt Schicht hat. Ich hab Feierabend«, würgte Schneider das Gespräch ab, steckte das Handy wieder ein und zog an der Schnur vom Mäher. Der Motor heulte auf.
Wegen jeder Lappalie rufen die mich an. Warum stecke ich das Handy überhaupt ein? Bin ja selbst schuld. Ich muss nicht ständig erreichbar sein. Schniefend mähte er weiter. Doch das ›Wir brauchen dich hier‹ hallte in seinem Kopf nach. Ich habe nicht mal gefragt, was passiert ist. Kowalski ruft eigentlich nicht wegen einer Kleinigkeit an. Sollte es doch was Wichtiges sein? Er blieb stehen und rief zurück.
»Ich bin´s nochmal. Hmpf. Sag mal, ist es wirklich wichtig? Kein Kleinkram?«, fragte er, als Kowalski abnahm.
»Denke schon. Sonst hätte ich dich nicht angerufen. Übrigens: Ich hab mit Marie gewettet, dass du gleich zurückrufst. Bingo! Ich habe gewonnen!«, jubelte Kowalski.
Im Geiste sah Schneider den Kollegen vor sich, wie er Marie Steffen angrinste und den Daumen hob.
»So, so. Scheinst mich ja gut zu kennen. Schieß´ los, was ist passiert?«
»Aus der Wallfahrtskirche wurde die Muttergottesstatue geklaut. Der Schrein ist leer, die Küsterin ist total durch den Wind und das halbe Dorf steht kopf.«
»Haben die keine Alarmanlage?«
»Doch, haben sie. Scheinen Profis gewesen zu sein, die sich mit Elektronik auskennen. Alles ist fein säuberlich ausgeschaltet worden. Dass hier Diebe am Werk waren, erkennt man nicht. Ist aber so. Ich hab überall nachgefragt. Niemand hatte einen Auftrag, die Madonna abzuholen. Und heute Morgen, als Frau Hundeshagen die Kirche aufgeschlossen hat, stand sie, nach ihrer Aussage, noch an ihrem Platz. Der Diebstahl muss um die Mittagszeit passiert sein.«
»Hast du schon die Kriminaltechniker angefordert?«
»Klar. Und alles abgesperrt.«
»Gut, ich guck mir das an. Befrage schon mal die Leute. Vielleicht hat einer ein Auto oder Fremde bei der Kirche gesehen. Am besten, Ihr geht in die Gastwirtschaft vorn an der Straße. Die haben dort sicherlich einen Raum für uns. Bin gleich da.«
»Wird gemacht. Bis dann.« Siegessicher schaute Kowalski zu Marie. »Wusste ich´s doch. Der kann´s nicht lassen. Schneider liebt interessante Fälle, nichts Alltägliches. Am liebsten allerdings Mord, so makaber es auch klingt.«
»Okay. Du hast die Wette gewonnen, leider. Wollen wir wetten, bis wann er den Fall aufgeklärt hat?«
»Jau, bis zum nächsten Wochenende, also nicht dieses, sondern das nächste«, gab Kowalski sein Votum ab.
»Na, na. In zehn Tagen? Das kannste knicken. Ich denke, mindestens doppelt so lang, wenn überhaupt. Hier sind null Spuren. Wie soll er das anstellen?«
Sie schlug siegessicher in Kowalskis hingehaltene Hand ein.
»Und um was wetten wir?«
»Um ´ne Pizza«, meinte Marie.
»Gebongt. Die Pizza bezahlst du, wirst sehen,« grinste Kowalski.
Während er mit Marie in Germershausen die Befragung vorbereitete, schob Hauptkommissar Schneider den Rasenmäher zurück in den Schuppen und ging ins Haus, um sich umzuziehen. Pfeifend lief er die Kellertreppe zur Wohnung hinauf, steckte den Kopf zur Küchentür hinein. Mathilde guckte auf die Uhr und fragte erstaunt: »Bist du im Sturmschritt über den Rasen geprescht?«
»Nein, ich mach morgen weiter. Kowalski hat angerufen. Ich muss noch mal weg. Einsatz!«, jubilierte er und sein Blick fiel auf den Tisch, an dem Elsa saß und malte. In dem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Kirchenraub auch in Duderstadt? Sollte Mathilde recht haben mit ihrer Vermutung? Oh Gott, hoffentlich nicht. Mit ungutem Gefühl öffnete er die Tür ganz und ging zum Tisch. »Na, Elschen, hast du für den Onkel ein schönes Bild gemalt?« Elsa nickte. Schneider betrachtete das Blatt Papier. »Was ist das? Eine böse Sonne?«, fragte er und seine Hoffnung, etwas Brauchbares zu bekommen, schmolz dahin.
»Nein! Das ist das blöde Virus«, erklärte Elsa. »Co-ro-na!« Mit ihrem Malstift versah sie Corona mit noch mehr Haaren. Oder sollten es Tentakeln sein?
»Ah ja. Das blöde Virus. Genau so sieht es aus«, nickte Schneider und warf Mathilde einen enttäuschten Blick zu.
»Elsa ist noch keine vier Jahre alt, Onkel Christian, und kann schon so schön malen. Wie die Großen«, lobte Mathilde augenzwinkernd.
»Hmpf. Ja, ganz toll.« Er strich über den Kopf seiner Nichte. »Ich bin dann mal weg. Kann sein, dass ich dich nachher nochmal befragen muss, Mathilde«, sagte er zu seiner Frau und verschwand aus der Küche.
Er war noch nicht im Schlafzimmer, da kam seine Angetraute hinter ihm her, bombardierte ihn mit Fragen: »Wieso musst du mich nachher befragen? Was willst du denn wissen?«
Schneider gab keine Antwort. Hätte ich nicht sagen sollen, dachte er schnaufend.
»Warum sagst du nichts?« Er reagierte nicht. »Christian! Rede mit mir! Warum bist du so geheimnisvoll? Was ist denn passiert?« Sie hielt inne, überlegte. »Hatte ich etwa recht? Waren das tatsächlich Diebe in der Kirche? Was haben die denn geklaut?«, fragte Mathilde und triumphierte innerlich.
Schneider zog grummelnd einen Schmollmund. Mathilde, du gehst mir auf den Senkel, knirschte er gereizt, ärgerte sich über sich selbst. Da er aber wusste, dass sie keine Ruhe geben würde, wandte er sich ihr zu und seine Stimme klang strenger, als er es beabsichtigte. »Lass gut sein, Mathilde. Ich muss nach Germershausen. Kümmere dich um Elschen. Wenn ich wiederkomme, reden wir. In Ordnung?«
»Aber das kannst du nicht mit mir machen! Sag doch einfach, was los ist«, eiferte sie.
»Später!« Er hatte keine Lust. Zuerst musste er klären, ob etwas dran war an Mathildes Beobachtung. Wenn ja, hatte er einen Fehler gemacht. Einen Riesenfehler. Dann wäre sinnvolle Zeit verstrichen. Die Diebe wären längst über alle Berge. Inständig wünschte er, dass seine Frau sich irrte, obwohl ...
Er lief zu seinem Wagen, stöpselte sein Handy an die Freisprechanlage und fuhr los. Bis Germershausen würde er eine Viertelstunde brauchen. Während der Fahrt rief er auf der Wache an. Oberwachtmeister Carl-Otto Paschke, sein bester Mann, meldete sich.
»Hör mal Cop, check bitte, ob heute Nachmittag in der Basilika was gestohlen wurde. Mathilde hat Männer beobachtet, die ihr verdächtig vorkamen. Ich hoffe, da ist nichts dran. Bin selbst auf dem Weg nach Germershausen. Da wurde die Muttergottesstatue aus der Wallfahrtskirche geklaut. Kowalski ist vor Ort.«
»Ja, ich weiß. Er hat hier angerufen. Wollte aber unbedingt dich haben. Und du meinst, bei uns in der Kirche fehlt auch was? Ich ruf gleich den Hausmeister an und verabrede mich mit ihm in der Kirche. Melde mich, wenn ich was weiß.«
»In Ordnung. Das ist aber kein Hausmeister. In der Kirche heißt der Küster. Solltest du eigentlich noch wissen. Bis dann«, beendete Schneider das Gespräch und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Kirchendiebe. Hier im verschlafenen Eichsfeld? Unglaublich. Haben die jetzt unsere Gegend entdeckt? Mal was Neues. Kirchenschätze gibt´s hier ja genug. Ihm fielen gleich mehrere Dinge ein, die es sich lohnen würde, aus den Kirchen in seinem Revier zu stehlen. Aber woher kommen die? Aus dem Göttinger Raum? Weiter weg? – Von hier sicher nicht. Bei uns gibt es doch eher Kleinkriminelle. Wer kann Kirchenkunst in klimpernde Münzen umsetzen? – Könnten Clans aus dem Ostblock dahinterstecken? Oder Fanatiker, Sammler, Marienverehrer? Irritiert rieb er sein Kinn. »Heiliger Antonius!, würde Tante Hilde jetzt sagen. Hmpf.«
In Mingerode bog Schneider links ab und fuhr die Abkürzung durch die Feldflur nach Germershausen. Diese schmale Straße war während der Sommermonate sonntags für Autos gesperrt. Inlineskater, Radler und Wanderer nutzen dann die Strecke für eine Tour durchs Untereichsfeld. Zur großen Wallfahrt im Juli war Schneider oftmals hier mit Freunden und der Familie entlanggeradelt. Lange her. Aber er erkannte die Stellen noch wieder, an denen sie damals Pausen eingelegt hatten. Vor sich hinschmunzelnd schwelgte er in Erinnerungen. An der Abzweigung nach Esplingerode fuhr er in eine Staubwolke, verursacht durch einen Mähdrescher, der auf dem großen Acker neben der Straße das Korn mähte. Der Weizen war in diesem Jahr früher gereift durch die Trockenheit.
Es müsste unbedingt regnen. Mal sehen, wie viel Staub ich aufwirbeln muss und wie tief ich graben muss, um meine Ernte einzufahren, wenn ich den Fall löse. Vielleicht ist es ja auch gar kein Diebstahl gewesen und ich freue mich zu früh.
Er stellte die Klimaanlage aus, fuhr achtsam durch den braunen Dunst. In Germershausen hielt er vor der Gaststätte ›Stadt Hannover‹ und schaute überwältigt über die Wiese vor der Wallfahrtskirche.
Donnerwetter. Was ist denn hier los? Menschen sind schon eigenartig. Nimmt man ihnen was weg, was ihnen bis dahin gar nicht mehr so wichtig war, sind sie plötzlich aufgebracht wie aufgescheuchte Hühner! Spüren sie jetzt, dass ihnen die Traditionen und der Glaube doch wichtig sind? Wahrscheinlich sind sie nur sensationshungrig, überlegte er, als er die vielen Menschen sah, die, verstreut über die Wiese in kleinen Gruppen herumstanden und heftig diskutierten. Ihm kam ein Gedanke, der ihn schmunzeln ließ: Wenn ich ihnen die Statue zurückbringe, wird die nächste Wallfahrt der Renner. »Also Christian, ran an die Arbeit! Hmpf«, forderte er sich selbst auf und stieg aus. Im nächsten Moment kam ein Krankenwagen mit Blaulicht vorgefahren. Sanitäter sprangen heraus und eilten zur Kirche. »Ist noch was passiert?«, fragte er irritiert den Wachtmeister, der auf ihn zukam.
»Schön, dich zu sehen«, sagte Kowalski und begrüßte Schneider mit einem Ellenbogenknuff, dem neuen Corona-Begrüßungs-Knigge. »Da saß noch eine alte Frau in der Kirche, ganz versteckt in einer Bank. Wir haben sie erst nicht gesehen. Wachtmeisterin Steffen hat die Leute aus der Kirche ins Gasthaus gebracht, und ich war dabei, alles abzusperren. Plötzlich hat es laut gerummst. Ich hab mich richtig erschrocken. Dann habe ich sie gefunden, mit dem Rosenkranz in der Hand. Kann sein, dass sie beim Beten eingeschlafen ist. Sie ist vorn über auf den Boden gefallen, einfach so. Ich habe versucht, sie zu wecken. Nichts. Puls war da. Hab den Krankenwagen gerufen. Die ist immer noch nicht ansprechbar. Vielleicht hat sie einen Schlaganfall oder Herzinfarkt gekriegt«, mutmaßte Kowalski und verzog das Gesicht.
Schneider wurde hellhörig. »Komm! Ich muss zu der Frau! Wenn sie eingeschlafen war, könnte es sein, dass sie schon in der Kirche saß, als die Mutter Gottes geklaut wurde! Hoffen wir, dass sie bald zu sich kommt.«
Er eilte zur Kirche. Die Sanitäter waren gerade dabei, die alte Frau auf die Trage zu heben. Neben der Bank stand ein Rollator. Wahrscheinlich gehörte er der Frau. Die Helfer hatten ihr Gebetbuch und den Rosenkranz auf den Sitz gelegt. Der Korb des Rollators war leer, aber Schneider entdeckte einen Zettel, der an der Stange festgebunden war.
»Magda Burchardt, Germershäuser Straße«, las er laut.
Der Notarzt, der gerade den Puls der Frau messen wollte, drehte sich zu ihm um, nickte ihm freundlich zu.
»Hallo, Herr Kommissar. Danke für den Namen. Immer erfolgreich im Einsatz! Jetzt kann ich die Frau wenigstens ansprechen.« Er wandte sich der Alten zu: »Frau Burchardt? Hören Sie mich?«
Auf eine Regung wartend, beobachtete Schneider das faltige Gesicht. Sie mag an die neunzig Jahre alt sein, riecht ungepflegt. Gekrauster, eingefallener Mund. Ihr Gebiss liegt sicher zu Hause im Becher. Ob sie allein lebt?
»Hallo, Frau Burchardt!« Der Arzt tätschelte ihre Wangen. Die zu einem Bubikopf kurz geschnittenen, graumelierten Haare klebten ungekämmt am Kopf.
Vielleicht kümmert sich ein Pflegedienst um die Frau. Hoffentlich bleibt mir so ein Zustand mal erspart, dachte Schneider.
Ein leises Stöhnen riss Arzt und Kommissar aus ihren Gedanken. »Oooochhh.« Die Frau schlug die Augen auf, schaute sich um. »Alfred? Alfred! Wo bist du?«, flüsterte sie kaum hörbar. Sogleich fielen die Augen wieder zu.
Der Arzt hob die Augenbrauen, blickte den Kommissar an. »Sie muss sofort ins Krankenhaus.«
Schneider nickte. »Wird sie durchkommen?«
»Schwer zu sagen. Ich kenne sie nicht. Sie ist alt, scheint ein schwaches Herz zu haben und wahrscheinlich hat sie zu wenig getrunken. Man muss schauen, wie ihr sonstiger Zustand ist. Sie kümmern sich um die Angehörigen und so weiter?«, fragte der Doktor, stand auf und ging neben den Sanitätern her, die Frau Burchardt zum Rettungswagen und danach ins Duderstädter Krankenhaus bringen würden.
Schneider zog den kleinen Block mit dem Bleistiftstummel aus der Hemdtasche. Magda Burchardt: Alfred, Alfred, wo bist du?, notierte er sich. Jedes Detail konnte wichtig sein. Das war das Erste, was er nach der Befragung in seinem Büro an die Wand pinnen würde. Ab jetzt würde er jede Kleinigkeit wahrnehmen und vermerken. Ist es ein brauchbarer Hinweis? Mal sehen. Bis jetzt ist alles offen. Jedenfalls werde ich nicht mehr so oberflächlich wie heute Nachmittag bei Mathilde sein, schwor er sich.
Kapitel 5

Die schmerzhaftesten Wunden sind die Gewissensbisse.
– Joachim Ringelnatz –
Mittwochabend
Auf dem Rückweg von Germershausen meldete sich Oberwachtmeister Paschke. »Hallo Christian, ich bin jetzt mit dem Küster in St. Cyriakus. Du hattest mal wieder die richtige Schnüffelnase. Es fehlt tatsächlich ein altes Relief aus der Spätgotik. Der Dechant von Göttingen ist schon informiert. Er ist momentan auch für Duderstadt zuständig. «
»Mist! Leider war das diesmal nicht meine, sondern Mathildes Schnüffelnase, hmpf.« Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Schneiders Magengegend aus. Das wird sie mir jetzt jeden Tag aufs Butterbrot schmieren. Er schob den Gedanken schnell beiseite, fragte: »Was für ein Bild war das denn? Kann man das so einfach abhängen und mitnehmen?«
»Ja, anscheinend. Ein geschnitztes Holzrelief mit der hl. Sippe. Ich schätze von der Größe her so auf einen Meter breit und achtzig Zentimeter hoch«, erklärte ihm Cop. »Der Küster hat mir ein Foto aus dem Kirchenführer gezeigt. Die Großfamilie von Jesus ist dargestellt, mit der Gottesmutter Maria, deren Mutter Anna und der ganzen Verwandtschaft. Nach der Beschreibung ist es ein Teil aus einem ehemaligen Annenaltar und hing bis heute Mittag im Johanneschor an der Wand. Der Küster kennt sich übrigens sehr gut aus mit den Schätzen, ist natürlich jetzt fix und fertig. Der scheint sich mit seinem Job total zu identifizieren. – Ach ja, die haben übrigens in der Kirche eine Kamera installiert. Bin gespannt, ob man auf dem Film jemanden sehen kann. Wenn´s klappt, zieh ich das Filmchen auf einen Stick. Der Küster meint, das geht. Obwohl hier alles alt ist, sind sie technisch super ausgerüstet.«
»Ein Film vom Diebstahl. Hmpf. Hört sich gut an. Bring ihn mit aufs Revier, wenn das Überspielen klappt. Sonst muss ich rüber kommen. Der Küster soll unbedingt die Kirche abschließen. Und ruf die Techniker aus Göttingen an! Die werden sich wundern, dass sie gleich zwei Mal hintereinander in ein Gotteshaus müssen. So kann man sich auch Leute in die Kirche holen. Bis gleich!«, beendete Schneider das Gespräch.
Der letzte Satz, den er eigentlich ganz unüberlegt gesagt hatte, beschäftigte ihn.
Könnten extrem Konservative auf die Idee gekommen sein, durch Diebstahl mehr Aufmerksamkeit auf Kirche und Glauben lenken zu wollen? – Oder wollen sie die lauen Katholiken bestrafen, nach dem Motto: Wir nehmen uns, was euch eh nicht mehr wichtig ist? – Das Bild der Großfamilie, der sorgenden Mutter? – Gibt es unter den AnhängerInnen von ›Maria 2.0‹ AktivistInnen? Wenn diese Leute Aufmerksamkeit haben wollen, werden sie sich irgendwann outen. Vielleicht gehen sie über die Medien oder schicken ein Bekennerschreiben an den Bischof. Das wär´s. So was hatte ich noch nie. Er dachte weiter: Viele sind aber auch entrüstet, wie die Obrigkeit in der Coronakrise die Menschen allein lässt. Aber das erklärt nichts, verwarf er den Gedanken. Auch ohne Mord und Totschlag scheint der Fall knifflig zu werden.
Auf dem Duderstädter Revier hatten die meisten Beamten schon Feierabend. Schneider grüßte den Polizisten unten an der Pforte und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf in sein Büro in der ersten Etage. Er war gerade dabei die leere Stellwand mit den Worten von der alten Frau Burchardt aus Germershausen zu bestücken, als Wachtmeister Carl-Otto Paschke, mit einem Stick in der Hand wedelnd, hereinkam. Erwartungsvoll fragte Schneider: »n´Abend, Cop. Ist was drauf?«
»Schauen wir mal.« Der Wachtmeister setzte sich an den Schreibtisch, fuhr den PC hoch, steckte den Stick ein und trommelte mit den Fingern nervös auf der Tastatur herum. »Na, komm schon. Wie lange brauchst du noch?«, stöhnte er ungeduldig. »Wann kriegen wir hier endlich schnellere und bessere Computer? Wir sollen mit mittelalterlichen Geräten alles aus dem Dreck ziehen«, wandte er sich an seinen Chef.
»Nun lass mal gut sein. Wir leben hier auf dem Lande und machen das in Ruhe, dann geht es im Endeffekt schneller als mit deiner Hektik. Glaub mir«, versuchte Schneider den Hitzkopf zu beruhigen. »Die paar Sekunden wirst du wohl aushalten. Unser Denken und Kombinieren geht ja auch nicht immer blitzartig. Alles braucht eben seine Zeit.«
Auf dem Bildschirm erschien der Innenraum der Basilika in Schwarz-Weiß. Der Kommissar zog sich den Besucherstuhl ran, setzte sich neben den Wachtmeister.
»Schaltet sich das nur bei Bewegung ein oder müssen wir jetzt stundenlang die Leere der Kirche betrachten?«, fragte er und schaute auf seine Uhr.
»Alles in Ruhe, nach der Uhrzeit. So wolltest du es doch«, grinste Cop. Schneider knuffte ihn.
»Na ja, wenn es sein muss, kann ich vorspulen. Wann schätzt du, dass die Diebe da waren?«
Schneider zog die Augenbrauen hoch und sog Luft ein. »Hmpf. Ich frag Mathilde, wann sie mit unserer Nichte an der Kirche war.« Er atmete laut aus. Mist, aber nicht zu ändern. Mathilde ist eine Zeugin. Widerwillig nahm er sein Handy, stand auf, drückte die Nummer von zu Hause und ging wartend im Zimmer umher. Als sich Mathilde meldete, blieb er stehen. Ehe sie ihn mit Fragen bombardieren konnte, stoppte er sie mit fester Chefstimme, die keinen Widerspruch duldete: »Mathilde! Sag nichts, sondern hör mir jetzt gut zu.«
»Aber, was ...«
»Rede bitte nicht dazwischen! Du hattest recht. In der Basilika ist heute wirklich ein Bild gestohlen worden. Kannst du mir genau die Uhrzeit sagen, wann du mit Elschen bei der Kirche warst?« Er lauschte. »Mathilde? Bist du noch dran?«
»Darf ich jetzt reden?«, fragte seine Frau schnippisch.
»Nur die Uhrzeit bitte. Das andere kannst du mir erzählen, wenn ich nach Hause komme. So in einer Stunde. In Ordnung?«
Schneider spürte, wie seine Hände feucht wurden und zitterten. Warum passierte ihm das immer, wenn seine Frau anfing, ihn mit ihrem Gekeife mundtot machen zu wollen? Sah er in Mathilde dann seine dominante Mutter, die ihn stets wie ein dummen Jungen behandelt hatte? Er musste sich doch dagegen wehren, oder?
»Es war um halb vier«, sagte Mathilde, mehr nicht.
Aber wie sie es sagte. Schneider fühlte es. Sie war zutiefst beleidigt. Er zog die Augenbrauen hoch, presste die Lippen fest aufeinander. Das schlechte Gewissen meldete sich, nagte. So redet man nicht mit seiner Frau. Es tat ihm leid. Eigentlich war Mathilde doch seine Beste, trotz allem. Darum versuchte er nett zu klingen. »Aah, um halb vier! Danke, mein Schatz. Du bist ein Engel!« Er legte auf. Auf dem Nachhauseweg fahre ich bei Edeka vor und nehme ihr einen Strauß Blumen mit, beschloss er und wischte sich die feuchten Hände am Hosenbein ab.
Cop riss ihn aus seinen Gedanken. »Halb vier, sagtest du? Komm mal her. Ich bin gerade bei 15.15 Uhr. Da marschieren zwei Männer im Mittelgang hoch.« Cop drehte den Bildschirm ein wenig in Schneiders Richtung. »Tatsächlich! Die biegen nach links ab, ins Johanneschor! Im Seitenschiff ist dummerweise keine Kamera.«
Sie starrten auf den Film, der ruckartig über den Bildschirm lief.
»Mathilde faselte heute Mittag was von Zwillingen. Jetzt versteh ich sie. Die sind gleich angezogen. Ob sie gleich aussehen, kann man allerdings nicht erkennen.«
»Ja, hinter dem Maulkorb können sich Diebe gut verstecken, ohne dass es auffällt. Scheiß Corona!«, fluchte Cop.
Sie ließen den Film weiterlaufen. Es dauerte eine Weile, da erschienen die Männer wieder. Sie trugen ein scheinbar schweres Teil, das in eine Decke gewickelt war, gingen damit zum Behinderteneingang der Kirche hinaus.
»Das war´s. Nicht sehr aufschlussreich. Wir wissen nicht mal, welche Farbe deren Klamotten hatten«, sagte Cop enttäuscht.
Schneider wog den Kopf hin und her. »Das wird mir Mathilde erzählen. Die hat sie ja gesehen, und einen Blick für Kleinigkeiten hat meine Frau. Was glaubst du? Waren das dieselben wie in Germershausen oder gibt es da eine Bande, die unsere Kirchen ausräumt?«
Cop zuckte die Achseln. »Maybe. Ehrlich. Ich hab keine Ahnung.«
»Vielleicht kann uns die Frau aus Germershausen weiterhelfen. Drück die Daumen, dass sie wieder auf die Beine kommt. Zumindest hat sie was von einem ›Alfred‹ gefaselt. So könnte einer der Diebe heißen. Morgen früh machst du dich gleich ans Recherchieren. Ich will wissen, wer die Frau ist, wie viel Kinder sie hat, wer ..., wo ..., was …. Alles, einfach alles.«
Cop stand auf, salutierte und sagte mit militärischem Gehabe: »Aye, aye Käpt’n!«
»Verrückter Hund! Du bist nicht mehr bei der Marine, mein Lieber«, kommentierte Schneider und knuffte den Kollegen kopfschüttelnd grinsend an die Schulter. »Machen wir Schluss. Ich hab zu Hause noch einiges zu klären.«
Kapitel 6

Unsere Gegenwart und unsere Vergangenheit sind die Steine,
aus denen wir unser Leben bauen.
– Henry Wadsworth Longfellow –
Gegen zwanzig Uhr bogen Jan und Fredde hinter Nesselröden rechts in den Betonweg, der hoch zum Campingplatz am Waldrand führt. Auf der Ladefläche des Pick-ups rutschte die Kiste Bier, die sie noch schnell in Duderstadt gekauft hatten, von einer Seite zur anderen.
»Wenn du so weiterfährst, haben wir nur noch Schaum statt Bier in den Flaschen. Wir hätten die Kiste festbinden sollen«, bemerkte Fredde.
»Ja, ja, ich weiß. Hätte – müssen. Aber ich bin durch für heute, total fertig. Du etwa nicht?« Jan zog eine Grimasse. »Dass wir die geklauten Sachen auch noch in diese Karsthöhle bringen mussten, war ja wohl der Hammer und nicht vereinbart. Es war abgemacht, dass wir sie nur in die Scheune legen. Immer gibt es einen Haken und wir müssen mehr fürs Geld tun. Ein Arschloch ist das, wenn du mich fragst.«
Fredde nickte: »Du hast recht. Ich hätte nicht gedacht, dass wir sie durch den Höhleneingang kriegen. Was will der mit den Sachen da unten? Woher kennt der Chef die überhaupt, und wie kann er sicher sein, dass da keiner rein geht und alles klaut?«
»Hast du das Schild nicht gelesen? Da stand doch drauf, dass die Untersuchungen zu den Höhlen 2011 abgeschlossen wurden. Seitdem ist der Zutritt wegen Steinschlag streng verboten. Da darf niemand mehr rein«, erklärte Jan.
»Hab ich nicht gelesen. Dann ist es ein gutes Versteck. Darauf kommt nie einer. Aber die Höhle war echt toll, gar nicht so duster, wie ich mir das vorgestellt habe. Hoffentlich müssen wir die Sachen nicht wieder rausholen, wenn er einen Käufer hat. Zumindest haben wir das Geld gekriegt. Soll ich mal nachgucken, ob er uns nicht doch übers Ohr gehauen hat?« Fredde klopfte auf den gepolsterten, großen Briefumschlag, der mit Folie rundum verklebt war. »Fühlt sich gut an.«






