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hinter geschlossener tür
Sie ist abgeschlossen, und der Schlüssel ist nicht mehr in unserem Besitz. Mein Bruder-der-Jüngere blickt durchs Schlüsselloch und kann nichts erkennen. Es ist dunkel, sagt er. Wie im Grab, ergänze ich und denke an meinen Großvater in seinem. An sein hängendes Augenlid auf der linken Seite. An seine verschränkten Hände, die nicht mehr in die Hosentaschen tauchen und Mandeln verteilen. Ein schlichter Tod, ganz anders als bei seinem Cousin Chucre, der bestimmt hatte, bei seiner Totenwache solle Musik gespielt, um den Leichnam getanzt und opulentes Essen für alle aufgefahren werden, die sich von ihm verabschieden wollten. (Ich weiß nicht mehr, ob ich mich daran erinnere oder es mir nur vorstelle, dass seine Kinder geteilter Ansicht waren: Die einen legten die arabische Kassette ein, die anderen schalteten trauernd und vielleicht beschämt das Radio aus und ließen ihn in Grabesstille versinken.) Nach all den Familienbegräbnissen verschwimmt mir im Gedächtnis der Raum dieser Totenwachen. Ich sehe nichts, beharrt die Stimme meines Bruders-des-Jüngeren vor dem Schlüsselloch. Und vielleicht gibt es gar nichts zu sehen, denn zu dem Brand im Familienhaus war später ein Erdbeben gekommen, und man hatte es für unbewohnbar erklärt. Ich habe euch doch gesagt, es hat keinen Sinn, zurückzukehren, murmelt mein Vater. Und mit langen Schritten geht er über die Straße davon und lässt uns schnell hinter sich. Zurück bleibt das Holztor, das am Rand des Gehwegs noch bis zum nächsten Erdstoß aushält, während wir meinem Vater die Straße hinab folgen, die Augen starr auf das Pflaster gerichtet, als sähen wir zwischen den Linien der Pflastersteine die Zimmer mit den hohen Decken, könnten zwischen den Strichen die Küche im hinteren Teil finden, ihre Aluminiumtöpfe, den geblümten Kühlschrank, den meine Mutter mit ins Strandhaus genommen hatte, das uns auch nicht mehr gehört. Was mag wohl aus all dem geworden sein, aus den Laken, die an einer Leine im Garten hingen, aus dem winzigen Elfenbeinelefanten, von dem meine Tanten sagen, ich hätte ihn erfunden, weil sie sich nicht an ihn erinnern. Alles aus Palästina ist auf mysteriöse Weise verschwunden, während ich irgendwie die Zeit totgeschlagen habe, sage ich mir und gehe mit den anderen hinter meinem Vater her, ohne zu wissen, wohin. Er bleibt stehen, ganz plötzlich, und deutet auf seine erste Schule: von Nonnen geführt, sagt er, vielleicht noch heute. Eine Mädchenschule? Ja, und zum ersten Mal scheint er zu lächeln. Sie lag so nah, dass er allein zur Schule gehen konnte, aber er war immer mit einer seiner Schwestern gegangen: der Schwester-der-Dritten, die als Erste gestorben war, oder der Schwester-der-Vierten, die auch nicht mehr lebt. In dieser Stadt voller Palästinenser gab es doch sicher arabische Schulen, bemerke ich, aber er hört nicht oder weiß nicht oder will nicht antworten. Dann, als wachte er plötzlich auf, verneint er. Alle Schulen waren chilenisch, und dort wurde nur in der offiziellen Landessprache unterrichtet. Mein Vater lässt diese Vergangenheit hinter sich und klärt uns über seine nächste Schule auf: Internatsschüler in der Oberschule im Instituto Nacional Barros Arana. Die Wochenenden verbrachte er manchmal bei seinem Onkel Constantino, der in der Calle Juan Sabaj lebte. Überrascht erfahre ich, dass es in Santiago noch eine Straße mit einem Namen aus unserer Familie gibt. Dass diese Straße nach meinem Urgroßvater benannt wurde. Von den Onkeln meines Vaters angelegt, nachdem sie beschlossen hatten, das Grundstück in Ñuñoa zu teilen, dort Häuser zu bauen und von den Mieteinnahmen zu leben. Das Geschäft hat sich nicht gerechnet, sagt mein Vater, der später in einem dieser Häuser wohnen sollte, umgeben von Verwandten. Ich wundere mich, warum mein Vater und seine Schwestern, unter Palästinensern aufgewachsen, sich niemals in der Kolonie engagiert hatten. Warum sie nie Mitglieder im Estadio Palestino gewesen waren, gleich um die Ecke. Da musste man einen großen Schein hinblättern, den ich nicht hatte, entgegnet mein Vater, als ich ihn danach frage. Dort haben sich die wohlhabendsten Landsleute getroffen, und wir hatten nie eine besonders enge Beziehung zur Kolonie, über die Familie hinaus. Das erklärt einiges. Den Spardruck. Die Abneigung gegen Verschwendung. Einen gewissen Hang zur Enthaltsamkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber Besitz. Diesen feinen Unterschied, von dem nie die Rede gewesen war und der doch unter uns lebte wie ein Vogel, sage ich mir, obwohl mir dieses durch den Kopf flatternde Bild seltsam vorkommt. Warum ausgerechnet ein Vogel? Weil alles so flüchtig war? Ich bin mir nicht sicher und beschließe, die Idee schweben zu lassen, während ich mich hinsetze, die Speisekarte lese und dann auf einem recht fade gefüllten Weinblatt herumkaue, dort, in einem arabischen Restaurant in der chilenischen Provinz, wo wir zu Mittag essen.
ein verwittertes schild
Mein Vater fährt durch unbekannte Straßen, und mein Bruder-der-Jüngere spielt den Schlauen, zieht sein Handy hervor, schaltet das GPS ein und gibt Anweisungen. Anweisungen, die mein Vater nicht befolgt oder nicht beachtet, überzeugt, dass wir ans Ziel gelangen, wenn wir da vorne abbiegen. Wir biegen noch öfter ab. Es ist ein heruntergekommenes Viertel am Rand der kleinen Provinzstadt, in der mein Vater seit sechzig Jahren nicht mehr lebt. Immer weiter durch Straßen, von Wurzeln unterwandert, umkurven wir den heißen Schatten fast kahler Bäume. Mein Bruder gibt noch immer Anweisungen, das GPS spielt verrückt und führt uns in die Irre, bis mein Vater auf einmal den Wagen anhält. Nur die Klimaanlage läuft noch. Draußen bringt die Sonne das Pflaster zum Glühen. Steigt aus, befiehlt mein Vater, aber wir öffnen die Türen nicht, beugen uns aus dem Fenster, bevor wir den Fuß auf unbekanntes Terrain setzen. Ist das immer noch die Provinzstadt? Ist das die Straße, die unseren Namen trägt? Im Rückspiegel sehen wir die dunklen Augen meines Vaters und hören, wie er den Befehl wiederholt. Worauf wartet ihr? Denn da ist das schwarze, weiß umrandete Schild. Die Buchstaben, ebenfalls weiß, doch verwaschen, benennen keine Straße, höchstens eine Durchfahrt. Beim Anblick dieser Großbuchstaben auf dem windigen Metallschild, SALVADOR MERUANE, so blass, als hätte der Maler vergessen, sie nachzuziehen und mit schützendem Lack zu bestreichen, ärmlich wie die Zäune und die Häuser ringsum, kommt mir der Gedanke, dass SALVADOR den Isa verdeckt und dieser verwitterte MERUANE weniger Glück gehabt hat als der SABAJ auf dem Schild in Santiago. Wir blicken zwei Minuten auf den rostigen Namen, bis uns das Lächeln vor der Kamera gefriert. Mein Großvater, seine Vornamen oder sein Nachname, stehen da dürftig an der Grenze von etwas, was uns wie eine verlassene Siedlung vorkommt. Wir nehmen die Fotos in der Kamera mit, während das Auto wieder startet und das Schildchen im Staub zurücklässt.
II. Ruf nach Palästina
richtung: palästina
Es ist keine Rückkehr, aber die Idee zu der Reise trägt dieses Wort im Gepäck. Mitsamt seinen Synonymen und einer Reihe von zufälligen Ereignissen stößt es mich in Richtung Palästina. Ihr erster Sendbote tritt wie folgt in Erscheinung: Ich steige in meinem New Yorker Viertel in eines der aberhundert Taxis, Gypsy genannt. Der Fahrer ist, wie mir scheint, ein Dominikaner oder Ecuadorianer, vielleicht auch ein Mexikaner aus Puebla, und ich bitte ihn auf Spanisch, mich zum Flughafen zu bringen. Aber in seiner Sprachmelodie schwingt ein anderer Akzent mit, der auch nicht nordamerikanisch ist. Ich spitze mein Ohr, mache zwischen den Silben eine arabische Modulation aus. Bevor ich frage und womöglich einen Fehler begehe, blicke ich auf das Namensschild an der Rückseite des Fahrersitzes: Der Name ist eindeutig, ein Name, der wie kein anderer mit dem palästinensischen Widerstand verbunden ist: Jaser. Araber woher, frage ich und erkenne im Rückspiegel die Augen meines Großvaters wieder. Er ist Palästinenser, aus einem Dorf nördlich von Jerusalem, das ich nicht kenne. In der Nähe von Ramallah, erklärt er. Ein Dorf der West Bank, sagt er auf Englisch, falls dieser Name mir geläufiger ist als Westjordanland. Das ist wohl nicht weit von Beit Jala, sage ich, und er entgegnet, von der Entfernung her gewiss nicht, aber von der Zeit, je nachdem, und er lässt den Satz in der Schwebe. Da erzähle ich ihm, dass ein Teil von mir von dort kommt. Ich frage, ob ihm mein Nachname etwas sagt, aber er hat ihn noch nie gehört. Ich nenne ihm weitere Namen aus der Kolonie und erkläre, in Chile lebe die größte palästinensische Gemeinde außerhalb der arabischen Welt. Die ersten Palästinenser seien aus vier christlichen Städten im Westjordanland ausgewandert. Ihre Angehörigen kämen immer noch nach Chile. Die letzten seien aus dem Irak geflohen. Jetzt sind es Muslime, wie Sie. Geflüchtete, die mein Land aufnimmt und die mit der Zeit womöglich einfach zu Chilenen werden. Wie ich. Von hinten sehe ich seinen Kopf nicken, aber bei meinem letzten Satz dreht Jaser sich um und verbessert mich. Sie sind eine Palästinenserin, Sie sind eine Exilierte. Sie kennen Ihr Land nicht?, fragt er, überrascht, aber nicht vorwurfsvoll. Sie sollten hinfahren, sagt er und animiert die Palästinenserin in mir mit seiner Sprachmelodie. Wohin reisen Sie jetzt?, und übergangslos wird er vertraulich und wirft mir ein dominikanisches oye! zu, hör mal, Spanien?, von Madrid aus ist es nicht weit zu uns. Circa fünf Flugstunden. Sie sollten hinfahren, beharrt er und wird rasch wieder formell, Sie werden Ihr Land lieben, und er wirbt für die Gründe einer Rückkehr. Nach Palästina zurückkehren, sage ich mir, während er spricht, und mich überfällt die Erkenntnis, dass mir dieses Ziel noch nie in den Sinn gekommen ist. Ich denke einen Moment darüber nach, während ich Jasers Visitenkarte einstecke. Aber als ich am Flughafen bin, verwerfe ich die Idee und die Karte. Hefte beides als seltsamen Zufall ab.
post aus jaffa
Und trotzdem geht mir Palästina nicht aus dem Kopf. Auch wenn ich in Madrid viel zu tun habe, drängen sich Jasers Worte beharrlich in meine Projekte: Palästina in eine Reihe über Orte aufzunehmen, die ich in einem kleinen unabhängigen Verlag herausgebe. Bei einem Schriftsteller, der dort lebt, einen Text in Auftrag geben – ein Abwälzen der Schuld, die plötzlich auf mir lastet. Der Name eines Bekannten-in-Jaffa fällt mir ein, ich fische nach seiner Mailadresse und unterbreite ihm den Vorschlag. Postwendend bekomme ich die Antwort. Der Schriftsteller nimmt das Angebot an, er habe die Gebiete für einige Zeit auf Eis gelegt, und seitdem er nicht mehr über die Region schreibe, lese ich auf dem Bildschirm, habe sich sein Blick auf den Konflikt verändert. »Und auch meine Art, zu erzählen.« Er sei sich »der Feinheiten bewusster geworden, und diese Feinheiten halte ich heute für wesentlich.« Vielleicht ein Tagebuch über sein Leben in Jaffa, schlägt er vor, und ich male mir aus, wie er mit sich selbst Form und Ton aushandelt, die dieser neue Text bekommen soll, male mir aus, wie er sich in die Aufgabe stürzt, das lange Schweigen aufzugeben. Dann spricht er ein Problem an, zu dem ich noch gar nicht gelangt war: die Notwendigkeit, schnell ein Gegenüber für diese Buchreihe zu finden, deren Titel immer vierhändig geschrieben werden, zwei Teile von einem Erzähler, zwei von einer Erzählerin. »Ich kenne keine Frau, die auf Spanisch über diese Region schreibt«, heißt es am Ende seiner Mail. Als ich die Nachricht gelesen habe, sehe ich, dass eine weitere von ihm wartet. »Kennst Du das Land Deiner Vorfahren?«, fragt er, und Jasers Satz kommt mir in den Sinn. »Willst Du nicht die palästinensische Partnerin für das Buch sein?« Gleich darauf kommt eine dritte Nachricht, in der er mir hastig erklärt, im Glauben, ich wäre noch bei seiner vorigen Mail, es sei eine teure Reise, das wisse er, aber er könne mir Unterkunft anbieten: »Auf Dich warten ein Sofa und zwei bezaubernde kleine Wesen, die Dich garantiert um sechs Uhr morgens wecken werden. Wenn Du wirklich kommst, erfinden wir uns ein ganz außergewöhnliches Konzept für das Buch. Sag einfach, wann es Dir passt.« Fahren oder nicht fahren, so wird meine Frage lauten. Fahren und schreiben oder nicht fahren und niemals mein Palästina Schrift werden lassen.
wieder ramallah
Ich kehre von der kurzen Europareise nach New York zurück und packe die Koffer für Chile. Wieder bestelle ich ein Taxi, und beim Einsteigen sieht mich derselbe Lampengeist vom letzten Mal an. Der Geist meines schlechten Gewissens oder meiner Wünsche, sage ich mir, auf einmal von abgedroschenen orientalischen Bildern befallen. Aberhundert Latino-Taxifahrer zirkulieren im Norden Manhattans, und ausgerechnet Jaser ist im Augenblick meines Anrufs am nächsten und holt mich ab. Und wohin geht es jetzt?, fragt er, als er den Koffer hebt und lächelt. Jetzt wirklich nach Palästina? So ähnlich, antworte ich und denke, dass Chile meine einzige Levante ist. Von meiner Familie aus Beit Jala sind nur noch ein, zwei Frauen übrig, die irgendwo drüben den Namen Meruane führen. Die übrigen Namensträger leben bei uns, über diese verrückte Geographie verteilt. Vielleicht haben auch Sie jemanden in Chile, sage ich und kurbele das Fenster herunter, aber Jaser hat niemanden dort. Seine Familie klammert sich an das Wenige, was sie noch hat, denn darum geht es heute, sagt er. Sich an das klammern, was von Palästina bleibt, damit es nicht verschwindet. Damit man es nicht verschwinden lässt, weil wir die Türen offen gelassen haben. Das ist der Moment des Bleibens, der Moment der Rückkehr. Aber Sie sind hier, wie ich, werfe ich ein. Jemand muss ihnen Geld schicken!, entgegnet er in seinem dominikanischen Spanisch voller Arabesken. Ich sehe die großen Augen im Rückspiegel, den Kopf, der sich umwendet, als das Auto vor der roten Ampel hält, die Hand, die mir Mandelkekse reicht, die ihm seine Frau für den langen Tag auf der Straße backt. Also, fragt er und schluckt mühsam den süßen Brei herunter, wann fahren Sie in unser Land? Im März, sage ich, um irgendetwas zu sagen, und obwohl ich kein Geld für diese Reise habe, male ich mir langsam aus, dass es die Wahrheit ist.
santiago–jaffa: 23. januar
Ich bin in Chile, schlage meinem Vater vor, vielleicht zum letzten Mal seine Heimatstadt in der Provinz zu besuchen, stelle ihm Fragen, mache Notizen, recherchiere im Internet, lese über die Geschichte der Einwanderung, strenge mein Gedächtnis an, verbinde Anekdoten. Ich bin in Chile, überschlage die Kosten der Palästinareise, die Rechnung geht nicht auf. Bei dieser Arithmetik bin ich gerade, als eine Mail des Romanciers-in-Jaffa ankommt, der mir mitteilt, er habe seine Meinung geändert. »Es tut mir so leid, dass ich Dir diese Nachricht schicken muss. Aber ich kann den Text nicht schreiben. In den letzten Monaten hat man hier zwei israelischen Staatsbürgern die Einreise verwehrt, als sie aus dem Ausland zurückkamen (ein Euphemismus, der besagt, dass sie abgeschoben worden sind). Beide waren Juden mütterlicherseits, rein jüdisch also, und beide hatten die Alija beantragt, das heißt, Mitglied des Staates Israel zu werden. Beiden wurden ›staatsfeindliche Aktivitäten‹ vorgeworfen, einem von ihnen ›Hochverrat‹. Sie hatten aber nur an linken Demonstrationen teilgenommen und mit NGOs zusammengearbeitet, die der palästinensischen Bevölkerung helfen. Einen von ihnen kenne ich. Meine Situation in Israel ist noch viel prekärer. Ich habe an vielen Demonstrationen gegen die Kriege der letzten Jahre teilgenommen (es gibt Fotos von mir, auf denen ich mit dem Finger Polizeikameras abschieße), außerdem hatte ich jahrelang schriftlich angeprangert, was mir an der israelischen Politik und der palästinensischen Innenpolitik fatal vorkam (die Seite wurde gesperrt, auf Druck der Presseabteilung der israelischen Botschaft). Meine Lage wird vollends prekär, weil ich hier zwar wegen der jüdischen Vorfahren meines Vaters leben darf und eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen habe, aber in Wirklichkeit hier lebe, weil ich mit einer muslimischen Palästinenserin verheiratet bin, was bedeutet, dass mich die Nachrichtendienste auf ihrem Radarschirm haben (das klingt nach Spionageroman, ist aber traurige Wirklichkeit in dieser Region, in der die Telefone der ›arabisch-israelischen‹ Bürger fast allesamt abgehört werden). Ein Text über Palästina berührt unweigerlich umstrittene Themen. Schon die Definition des Gebiets – wir haben darüber in einer Mail gesprochen – ist problematisch. Allein eine Stadt bei dem einen Namen zu nennen und nicht bei dem anderen, kommt in dieser Region einer Kriegserklärung gleich, und selbst wenn ich sie im Text nicht erwähnen würde, sondern nur das Westjordanland und Gaza, müsste ich dennoch von Sperranlagen, Siedlern und der Macht der israelischen Armee sprechen. Trotzdem hatte ich mir vorgenommen, das Risiko einzugehen und den Text zu schreiben; ich hatte schon ein Gerüst und ein paar Probeseiten und habe das Projekt einer Zeitschrift vorgeschlagen, mit der ich zusammenarbeite, aber es wäre vielleicht unverantwortlich. Das Risiko, von meiner Familie getrennt zu werden, ist zu groß, und ich bin dazu nicht bereit. Gestern Abend waren zwei israelische Freunde bei uns zum Essen, die sich für die Menschenrechte engagieren, und beide haben mir davon abgeraten. Niemals habe ich aus Gründen der Zensur schweigen müssen, aber ich glaube, ich habe keine Wahl. Ich umarme Dich und bitte um Entschuldigung für die vergeudete Zeit. Und natürlich bist Du immer willkommen. Hoffentlich kommst Du und lernst das Land Deiner Vorfahren kennen, es lohnt sich sehr, trotz allem.«
jaffa–santiago: 24. januar
Der Schriftsteller-in-Jaffa hält die Idee ganz und gar nicht für abwegig, durchzustreichen und mit schwarzen Balken zu arbeiten, anonym, ohne Unterschrift, aber er glaubt, »die geschwärzten Wörter unterstreichen die Unmöglichkeit, frei über Israel zu schreiben, und das erhöht wiederum die Möglichkeit, dass die Ultrazionisten den Autor unter ihre Kontrolle bringen und für eine Bestrafung sorgen wollen, sobald er entdeckt wird.« Dann hält er meinem Vorschlag ein weiteres Aber entgegen, und kein geringes: »Mich hatte vor allem interessiert, eine Bestandsaufnahme von meinem Leben hier zu machen. Über meine Herkunft zu reden und über meine Adoptivfamilie, die ich von Herzen liebe. Dort beginnen, bei meinem wirklichen Leben, meiner Identität in diesem Land. Wie schade, dass es nicht geht, aber es hilft nichts.« Das schreibt er, und mir ist, als hörte ich ihm dabei zu, wie er sich selbst von seiner Entscheidung überzeugen will, denn »für einen Lateinamerikaner, der in seinem Land in einer Zeit der Gewalt aufgewachsen ist und in einer Familie wie der meinen, ist das Risiko etwas Schreckliches, aber auch Anziehendes. Im Grunde ist ein Leben ohne Risiko kein Leben. Ich selbst habe darauf bestanden, den Text zu schreiben, und will es immer noch (ich hoffe, das werde ich in ein paar Jahren, wenn das Risiko nicht mehr existiert oder es mir egal ist). Ich weiß, früher oder später werde ich ihn schreiben, und die Zeit wird diesen Worten mehr Kraft verleihen.«
jaffa–new york: 29. januar
Nach Chile und einer weiteren Nachricht meinerseits, von unschlüssiger Hand geschrieben, erhalte ich wieder Post vom Schriftsteller-in-Jaffa, der mir einflüstern will, ich dürfe mir nichts von der komplexen Wirklichkeit entgehen lassen, in der die Palästinenser leben. »Du wirst sehen«, schreibt er und fügt hinzu: »Keine Armee, kein Überwachungsapparat kann die zahllosen menschlichen Regungen kontrollieren, und mögen auch viele leiden, dann leben sie wie alle hier so intensiv, wie sie nur können (und es gibt Musik, Essen, Sex, es gibt Ehen, Kinder, Scheidungen und alles Übrige auch). Das heißt, wir leben sehr gut. Nicht in diesem Rausch wie in meinem Land, wo das Leben manchmal zu sehr überschäumt (und auch der Tod), aber hier versteht man es ebenfalls – vor allem die Palästinenser –, zu leben und glücklich zu sein. Am Schreiben hindert mich, dass es in den letzten Jahren immer weniger Platz gibt für eine Meinung zwischen dem Wahnsinn der Hamas und dem Wahnsinn der israelischen Ultrarechten (wer sich vermittelnd äußert, wird unweigerlich in die eine extreme Ecke geschoben und aus der anderen angegriffen). Zum Glück ist die Wirklichkeit weitaus reicher und komplexer als diese Meinungen, und die Leute bleiben lebendig, unvorhersehbar, unkontrollierbar. Jetzt habe ich pathetisch herumdoziert, so ein Mist. Am besten, Du siehst es Dir selbst an. Wir erwarten Dich, wenn Du Dich zur Reise entschließt.«
zehn jahre früher aufwachen
Allmählich holen mich alte palästinensische Lockrufe ein. Das Telefonklingeln erwischte mich an der Wohnungstür, nicht meine Wohnung, sondern gemietet und nicht mal ganz. Damals hatte es gerade mal für ein Zimmer in einem irisch-russisch-libanesischen Viertel im Süden Brooklyns gereicht. Es war neun vorbei, wie ich an der Wanduhr sah, als ich zurück in die Küche ging und den Hörer abnahm. Der afroamerikanische Freund meiner Mitbewohnerin war dran. Bleib zu Hause, sagte er voller Sorge. Und bombardierte mich mit Nachrichten von einem Anschlag. Zwei Flugzeuge. Zwei enthauptete Türme. Ich war schon spät dran für meinen ersten Unterricht. Vielleicht war es auch sein Akzent oder meine Probleme mit dem Englischen, damals. Er musste es mir wiederholen. Der U-Bahn-Verkehr ist eingestellt, Bahnhöfe und Flughäfen sind gesperrt. Schalte den Fernseher an, wenn du mir nicht glaubst, und weck Niki, hol sie ans Telefon. Please. Auf dem Bildschirm wurde geschrien. Die Fernsehmoderatorinnen rangen um Fassung und riefen Gott an, als würden sie ihn verfluchen. Oh my God, riefen sie, während sie zusahen, wie sich Menschen ins Leere stürzten. Hand in Hand die einen, andere in einsamem Flug. Diese Bilder verschwanden bald, und der Bildschirm füllte sich mit anderen Nachrichten: offizielle Erklärungen, Videos, Schuhe zwischen Trümmern, während ich in einem kalten Kaffee rührte, den Niki auf dem Tisch hatte stehen lassen. Gemeinsam sahen wir, wie der erste Turm zu Staub wurde. Die Sicherheit brach in sich zusammen, und aus der dunklen Wolke erhob sich grenzenlose Paranoia. Zu dem Zeitpunkt gab es noch kein Bekennerschreiben, aber man mutmaßte bereits, »eine arabische Terroristengruppe« räche sich an einem Land, das stets die Sache Israels unterstützt hatte. Bilder von palästinensischen Kindern kamen herein, die auf der Straße den Anschlag feierten. Das Bild zeigte nur einen Ausschnitt. Man wusste nicht, was sie da betrachteten oder vor wem sie die Fäuste hoben. Es war eine kurze Sequenz, doch sie kam immer wieder, im Wechsel mit Einsturz und nochmaligem Einsturz der Türme. Die Kinder. Die Türme. Immer dieselben Kinder mit denselben erhobenen Händen, die Gesichter leuchtend, dazu eine Stimme im Off, die sie als Komplizen der ewigen Intifada bezeichnete. Die Kinder und der Einsturz, danach ein Jassir Arafat, dem damals noch drei Jahre zu leben blieben und der die Tragödie bedauerte. »I am shocked«, sagte er in bestürztem Englisch, aber sofort kamen wieder die Türme und die arabischen Kinder, um ihn Lügen zu strafen. Diese Kinder, verwandelt in frühreife Terroristen, waren die Sendboten von damals. Ich schrieb an dem Abend über sie, für eine chilenische Tageszeitung, von dem Bedürfnis getrieben, das alles schriftlich zu bezeugen. Jetzt blättere ich durch die Zeitungsausschnitte jener Jahre und lese, was ich über die Fernsehszene geschrieben, was ich im Laufe des Tages empfunden hatte. »Ich dachte an meine palästinensische Herkunft, inmitten dieser Schlacht, an meinen Nachnamen, an die Möglichkeit, verdächtig zu werden für eine Gemeinschaft von Individuen, die sich im Augenblick des Unheils zusammenschließen, ihr Recht einfordern und Sicherheit gegenüber diesem vermeintlichen Gegner verlangen. Denn man wird die suchen müssen, die für das Attentat verantwortlich sind, für das Flugzeug, muss die abertausend Zerstückelten und Verbrannten unter den Trümmern des Imperiums rächen.« Ich traue meinen Augen nicht. Ich bin dreißig, als ich das unterschreibe und mir als verschlüsselte Botschaft in die Zukunft schicke. Meine eigene Sendbotin.
münze in der luft
Im Geist werfe ich eine Münze: Wenn mich eine Einladung nach Europa führt, reise ich mit eigenen Mitteln weiter Richtung Osten. Die Münze dreht sich um sich selbst, während ich an all das denke, was ich subtrahieren muss: Die gescheiterte Rückkehr meiner Großeltern. Die Weigerung meines Vaters. Meine Unschlüssigkeit. Das Schweigen der Welt, während man den Palästinensern immer mehr Gebiete subtrahiert. All die Urteilssprüche, bei denen ihnen eine Stimme verwehrt wurde. Eine Geschichte voller Löcher, durch die Rückkehrer sickern und in der Bande und Leben gekappt werden. Zu dieser Subtraktion etwas summieren, sage ich mir. Nach Palästina zurückkehren. Zu mir zurückkehren. Ich werfe noch eine Münze in die Luft, und jetzt klingt sie nach Metall: In meinem Briefschlitz steckt eine Einladung, die mich nach London bringen wird.




