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Besonders schön fand der Milan Nemec, ein gemütlicher Gelegenheitsraucher, dass auf den Schachteln der monopolisierten Zündhölzer sein Doppeladler prangte. Wenn du da so ein Zündholz an die Lippen führst, das ist warm und weich, es leuchtet, es ist dein Sinn und dein Stolz. Auch wenn dieses Zündholz später abgebrannt im Müll landet: Immerhin, seinen Dienst hat es treu getan. Wie du. Immer und überall: Der Adler, der doppelte, der den Weg weist. Das Streichholz ist eine kleine Fackel, die du an deinen Mund führst, begleitet von des Kaisers Schwefelgeruch, langsam an den Mund führst, um den kurzen Moment der Ruhe, des Zurücklehnens erleben zu können, den kurzen Moment der einsamen Lust mit deinem rauen Tabak, nie alleingelassen von deinem Kaiser, nicht in hundert Jahren.
Wo war all das hin? Die Kapellen, die Märsche, die Paraden? Die Zündhölzer und der Tabak? Die Feste und die Backhenderln? Warum diese Trübheit, dieser Nebel vor seinem Auge, dem inneren und äußeren, warum das Gefühl, in der eigenen Uniform ersticken zu müssen, warum der ständige Griff an den Hals? Musste das alles denn so flott, wie es sich bei den Paraden und Märschen angehört hatte, wieder vorbeigehen? Hatte das noch Sinn und Ziel?
Obschon jedoch zu Beginn alles so herrlich erschienen war, obwohl die eigene Präsenz in wohlwollend aufgenommenen und wohltuenden Spazierereien und Märschen recht erfreulich gewesen war, obwohl man nach außen hin Zufriedenheit hatte demonstrieren können, wusste der Nemec, wie es im Inneren dieser Verwaltung ausgesehen hatte, wie es um das Drinnen in den Ämtern und Kanzleien bestellt gewesen war. Denn wirklich einig war sich hier niemand, gut geordnet und reibungslos lief es schon am Anfang nicht immer ab: Da schrien die einen, aus Wien, nach Annexion, und die anderen, aus Budapest, meldeten ihr Nein. Und er selbst saß fest, mitten im Schlamassel, nicht an der Front, wo er Schlachten schlagen, auch verlieren konnte, sondern er saß fest in den Kanzleien, zwischen den Verordnungen und Provokationen, den Vorschriften, Unterschriften, Streitgesprächen mit den Ungarn, den Deutschen oder den Bulgaren. Jedes Gespräch, das er führen musste, begann mit einem »Das kommt drauf an« und einem »Aber«. Inwendig ist alles viel maroder, als von außen betrachtet, denn einen Glanz hat man halt außen schneller erzeugt als innen.
Darin meinten die Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums und ihre jüngere Kollegin die Gründe vorzufinden, die den Nemec in eine aus seiner Sicht wohl deprimierende Zwangslage gebracht hatten, die sich auf seine Psyche, so meinten sie, und daher auf seine Handlungen nur negativ hatte auswirken können.
Das große Problem, meinte die Direktorin, sei natürlich gewesen, dass innenpolitisch gesehen zwischen der österreichischen und der ungarischen Führung der Doppelmonarchie kein echtes Einverständnis darüber geherrscht hatte, was mit dem besiegten Land zu geschehen habe. Da dachte Ungarn, dass dieses Land ungarisches Interessengebiet sei und daher ungarisch dominiert zu sein habe. Dies folgte aus dieser ungarischen Sicht einer sehr klaren Logik [aber wir wissen schon, es ist nicht Logik, die die Welt und unser Handeln lenkt], denn keinesfalls sollte durch eine Annexion eine Ausweitung des slawischen Elements in der Donaumonarchie riskiert werden.
Dies stand, logischerweise!, im Widerspruch zu manchen Plänen in Wien, die in der Militärverwaltung für das eroberte Land eine Vorstufe zur Annexion im Sinne einer südslawischen Union unter kroatischer Führung sahen, was ja, wie doch alle wüssten, eine empfindliche Reduktion des ungarischen Teils der Doppelmonarchie bedeutet hätte und daher wiederum klarerweise im Interesse Österreichs gewesen sei.
Dass dieser Interessengegensatz im Streit kulminieren musste, war vorbestimmt, und dieser schon vorbestimmte Streit eskalierte rund um einzelne Personen oder um Dinge. Da konnte es schon vorkommen, dass Budapest einem österreichischen Offizier aus den kroatischen Gegenden vorwarf, er bevorzuge als Kroate den Feind. Schließlich traute man in Ungarn den kroatischen Menschen, würde man ihnen das eroberte Land in einer südslawischen Union zuschlagen, nicht genügend Widerstandskraft gegen südslawische Vereinigungsbestrebungen zu. Die würden doch – einmal vereint – noch störrischer eine Unabhängigkeit anstreben, nur wären sie dann mehr als bisher, was ja keinesfalls gut sein konnte und gut ausgehen konnte, in einem ohnehin von solchen Grundsatzproblemen geplagten Großreich. Es wurde daher recht kompliziert, ein gemeinsames Kriegsziel zu formulieren, auf Kongressen und bei Geheimtreffen.
Diese und ähnliche Konflikte sowie weitere Streitereien nahmen Zeit und Kraft in Anspruch. Das wiederum verhinderte zu Beginn der Besatzungszeit den Eintritt der totalen Ordnung, wie sie vorgesehen war, so entschuldigte die Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums die merkwürdigen Kompromisse, die die Militärverwaltung seit ihrer Arbeitsaufnahme oftmals hatte machen müssen, und die sich in einer für die Besetzenden anstrengenden Situation niederschlugen, in einer zu lange andauernden Unordnung, die sich wiederum zwangsläufig auf die Psyche des Milan Nemec, so wiederholten und bestätigten beide, auswirken musste.
Gerade zu Beginn sei die tägliche Umsetzung militärischer Vorgaben für das Personal sehr schwer gewesen, führte die Direktorin aus. So brauche Ihre Kollegin sich beispielsweise doch bloß die Formulierung der Aufgabe anzuschauen, man habe den der Bevölkerung innewohnenden Starrsinn zu brechen, aber auch Vertrauen zu erwecken. Wie sollte da rasch Ordnung gemacht werden, wenn das Verwaltungspersonal laut Geschäftsordnung angehalten blieb, im Verkehr mit den Parteien strengste Objektivität und Unparteilichkeit zu wahren, das Personal jedoch zugleich schon über den Starrsinn dieser Parteien mitinformiert wurde, einen Starrsinn, den es, um hernach Vertrauen erwecken zu können, streng objektiv und unparteilich zu brechen galt.
Die strikt organisierte Militärverwaltung sei aber dennoch von Beginn an bemüht gewesen, es zu keinen eigenmächtig durchgeführten Justifizierungen mehr kommen zu lassen. Aus den Akten gehe doch deutlich hervor, dass die Kreisgerichte zwar des Öfteren Todesstrafen verhängten, viele doch bitte dann gar nicht vollstreckt wurden, da manche standrechtliche Verfahren mit der Niederlegung aufgrund mangelnder Beweise, Freisprüche und Begnadigungen durch den zuständigen Kreiskommandanten endeten. Was im Zuge der Feldzüge erlaubt gewesen war, das wurde, je länger die Besatzung dauerte, zunehmend unmöglich, darunter standrechtliche Erschießungen, Hängungen oder Prügel der Zivilbevölkerung. Dass diese Ordnung ihre Zeit brauchte, sei nicht die Schuld der Besatzungsmacht gewesen, die, wie die Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums wiederholte, eine im Sinne des zivilisatorischen Fortschritts handelnde gewesen sei. Von diesem Standpunkt stelle sie sich nicht mehr weg. Es war ja im Grunde fast eine friedliche Situation gewesen, diese Okkupation.
Na, so was, murmelte die Jüngere, so was.
Es ging noch lange Zeit weiter, das Gespräch, ohne dass die beiden sich in vielen Punkten einigen konnten, außer in den unwesentlichen. Das Gespräch blieb ein wechselseitiges Predigen, Agitieren und Propagieren, für und wider und doch und weil und immer wieder ein »Das kommt darauf an« und ein »Gehn S’ bitte«, »Aber das werden Sie mir wohl nicht« und ein »Weshalb« und »Weshalb nicht«, ein »Zu betrachten wäre auch« und ein »Verdeutliche ich Ihnen gerne des Weiteren«, ein »Bitt’schön«, ein »Natürlich« oder ein »Natürlich nicht«.
Es ging hin und her, ohne große Freude an der Sache, jedoch mit umso größerer Freude am Bier, Freude an dem stumm mittrinkenden Dritten, der zwischen ihnen festsaß, hilflos mal an den Ärmel der einen, dann den der anderen stieß, fast als wollte er sich die Nase damit wischen. Die erhitzten Wangen der beiden Frauen blühten in gefährlichem Rot, sie blieben wortgewandt und neben dem jungen Kollegen festgenagelt, bis in alle schreckliche Ewigkeit, so schien es. Das sanfte, junge Gesicht des Kollegen ruhte in ihrer Mitte, blieb fast bewegungslos, auf jeden Fall reaktionslos, auch wenn die beiden Frauen, sobald sie das Wort an die jeweils andere abgaben oder abgeben mussten, sich ihm zuwandten, die Augen auf ihn richteten, sie mal verdrehten, mal zwinkernd zudrückten, um ein Lächeln bei ihm hervorzurufen, oder wenigstens ein Nicken, ein Kopfschütteln, im Wunsch, er möge endlich das von ihnen Gesagte bestätigen, sie selbst bestätigen.
So viel sie aber zwinkerten, Augen verdrehten, den Kopf neigten oder die Augenbrauen hochzogen, der junge Kollege blieb, mit ängstlichem Gesicht, unbewegt und wortlos.
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Bevor er mit Verwaltungsaufgaben betraut worden war, hatte der Milan Nemec an zwei Feldzügen teilgenommen, Aufmarschpläne umgesetzt, Truppen befehligt. Sein Leben erschien ihm in dieser Zeit wie ein andauernder Schockzustand. Das Gesehene, das Gehörte fiel aus dem ordentlichen Goldrahmen, den er sich für seine Tätigkeit zurechtgedacht hatte.
Dass Offiziere mal dem einen oder anderen Soldaten beim Habtachtstehen eine übers Maul hauten, das war in einer Kriegszeit im Grunde keinen Seitenblick wert. Der Nemec, eher Diplomat als Krieger, ließ sich aber manches Mal von solchen Bildern ablenken, wenn er seine Kollegen bei ihrem Armheben und Arm-in-einen-Menschen-Dreschen betrachtete. Da haute einer nicht mehr nur aufs Maul, sondern mit dem Gewehr oder dem Stock in die Rippen und auf den Rücken, auch das gehörte zur Grundausbildung des Studiums der Taktik. Wie viele sinnlose Befehle du gehört hast, aus deinem eigenen Mund, aus den Mündern zu vieler anderer – du weißt schon ziemlich genau, was das ist, so eine Willkür und so ein Privileg eines Offiziers, über die du Soldaten nachts schimpfen hörst.
Sie schreiben, dort zu Hause, dass es kein Einzelschicksal mehr gibt, keine Einzelgefühle, sie schreiben, dass nur noch das österreichische Herz schlägt. So schön beschreiben sie deine Welt, deine Schützengräben, dein Feld und dein Vorfeld, bei dem der Satan selbst mit seinen Heerscharen dagegen anrennen möge. Und doch, du schaust und vermagst nichts davon zu entdecken, von dem, was die in ihren Kämmerchen schreiben, von dem, was in ihren Berichten euch allen vorgeschrieben wird, der Taumel, der allgemeine. Vom Herzschlag für die Nation, dem in runden Sätzen ausgeschriebenen, von dem suchst du die Spur in deiner Mannschaft, die sich irgendwie verloren hat. Nun ja, wenn’s verordnet wird, beim Losmarschieren, da – ja, da wird herzgeschlagen und getaumelt, für den Kaiser, und gesungen, lauthals. Aber wenn’s nicht mehr verordnet werden kann, so in der Schlacht selbst, wo alles fliegt und braust, zischt und kracht, wenn das Große losgeht, das Allergrößte, nun, dann wird zwar ebenfalls getaumelt, und der Herzschlag bleibt genauso wild, nur von Freude gibt es keine Spur mehr. Da endet das Taumeln plötzlich in einem großen, gemeinsamen Fallen, und am Ende ist es mit dem Herzschlag dann auch vorbei.
Während in den Zeitungen zu Hause steht, wie froh die Soldaten alle und feierlich und begeistert in den Krieg ziehen, freiwillig freilich, da fragst du dich doch, woher bloß deine Truppe gekommen ist, die so gar nicht dazupassen möchte, zu diesen Freiwilligen, Fröhlichen, Feierlichen. Du denkst dir plötzlich, wenn die nicht freiwillig wollen würden, in den Krieg, könnten sie dann daheimbleiben? Wären sie nicht doch dazu gezwungen oder als Deserteure erschossen worden? Ob die Freiwilligkeit, die in der Presse gefeierte, wirklich immer eine echte oder doch eine eher notwendige war, so eine aus einem Sachzwang heraus? Hätte die kriegerische Strategie eines Conrad von Hötzendorf erlaubt, dass ein junger Soldat, der grad’ entdeckt hat, was sich alles machen lässt mit dem Leben, dass so einer einfach daheimbleibt und sagt: Bitte lieber später eine Verteidigung, wenn die angreifen, aber einen Angriff, nein danke, das möchte ich erst mal lieber nicht.
Der Milan Nemec – innerlich manchmal doch immer schon ein bisschen ein Skeptiker gewesen – war als diplomatisch bekannt, als schweigsam, besonnen. Die Galgen und die Rauchschwaden, die seine Truppen bei dem ersten Feldzug hinterlassen hatten, die hatten ihn nachdenklich machen können. Besonders beim hopp, hopp, Rückzug, der auf diesen ersten Feldzug gar nicht hätte folgen sollen, da eine Niederlage nicht Teil des Plans gewesen war.
Weil wenn du dich zurückziehen musst, dahin, wo du hergekommen bist, wenn du wieder auf dem Weg bist, den du eigentlich schon einmal gemacht hast, nur in die umgekehrte Richtung, da siehst du, ob du willst oder nicht, alles, was du hinter dir gelassen hat. Du siehst zum Beispiel die Notfriedhöfe, die ihr angelegt habt, um die Gefallenen zu verscharren. Einscharren, richtig tief und fest und dunkel eingraben, eins, zwei, drei, zu- und vergraben, das ist es, was wir tun sollten, tun müssten. Wir wollen die Leiche versenken, fest zubuddeln, ein Kreuz drauf stellen, eine echte Bestattung, eine feine Beisetzung, um unsre Ruh’ mit dem Toten zu haben. Aber ein Notfriedhof, das ist kein echter Friedhof, und das Verscharren der Leichen, das passiert da bloß notdürftig. Dieses Begraben bleibt eine ziemlich unwürdige Sache, recht hässlich, und beim Rückzug gehst du dann, erschöpft, besiegt, an all dem vorbei, siehst die Kadaver, halb unter und halb über der Erde oder schon gar nicht mehr begraben, nur übereinandergeworfen, und du siehst unsre und ihre, und du weißt: Unter den ihrigen, neben den Resten ihrer Truppenteile, liegen Zivilpersonen, und darunter Frauen und Kinder.
Die Echos, die auf solchen Friedhöfen eingesperrt bleiben, die kommen da nicht wieder weg, sie werden in den Morgenstunden besonders laut, bevor der Wind sie übertönt, sie pfeifen dir um die Ohren, wenn du vorbeiziehst. Manches Mal schaut dich ein totes Gesicht an, beim Vorbeiziehen, du weißt nicht wohin mit dir, wohin mit all dem, wozu eigentlich und ziehst weiter. Da bist du froh, wenn dich am nächsten Tag nur noch Stiefel und Beine aus dem Schlamm heraus anschauen, und der Rest liegt unter der Erde, wie es sein soll. Das Gehen, vorbei an dem, was du zurückgelassen hast, das ist keine Parade mehr, kein stolzer Marsch, es geht nicht vorüber und nicht vorbei, nie, es wird dir nur eine ewige Durchreise daraus, die nicht enden will, aber das kommt eben davon, denkst du manchmal.
Wenn die Leichen notdürftig verscharrt sind, ist die Gefahr des Wiederauferstehens gegeben, verbrennen wäre besser, doch dazu bleibt nicht immer Zeit. Einmal siehst du zwei kroatische Soldaten aus deiner Mannschaft, die um ein paar Gefallene herumlaufen, sie stopfen ihnen Lehm und Erde in die offenen Münder, werden barsch angebrüllt von einem Major: Wozu dieses Affentheater? Sie erklären ihm, dieses Land, Sie haben ja keine Ahnung, in diesem Land wandern ganz andere Wesen über die Felder und stehen aus den Gräbern auf. Ich hab es genau gesehen, seine beiden Augen sind so und so hervorgequollen, dem ist der Übergang missglückt, weint einer der beiden. Wir wollen doch nicht, dass das unseren Kameraden passiert, dass sich einer, der wiederaufgestanden ist, zu ihnen legt, in den Schlamm, und sie aufbläst, sie ganz aufgeblasen macht, bevor man noch mit einem Messer hineinstechen kann, damit sie zusammenfallen. Wo es doch keinen Knoblauch gibt, da muss eben Erde oder Lehm in den Mund, na, vielleicht könnte man einen Nagel in den Nabel, das soll auch helfen. Weil Bibeln und Kruzifixe haben wir ja keine hier, nicht mehr.
Da hat er gebrüllt, der Major, und geprügelt. Geekelt hat er sich vor dieser gesichtslosen, dummen Ausgeburt einer kranken oder korrupten Imagination, vor den Hirngespinsten der gemeinen slawischen Trotteln, der armen und ungebildeten Bauern von der Südostgrenze unsrer westlichen Zivilisation. Ausgetrieben hat er den Soldaten, zwei grobschlächtigen, nicht mehr ganz jungen Kerlen, den dummen Aberglauben, den fremdländischen, dieses so unerklärliche von Menschen selbstgesponnene Bedeutungsgewebe, das sich in ein Nichts auflöst, sobald die Vernunft ihm beizukommen versucht, in das der Mensch aber dennoch verstrickt bleibt. Aber nach der gut gedroschenen Aberglaubensaustreibung, da überantwortete der Major, nur zur Sicherheit, doch noch die Leichen dem Feuer, man weiß ja nie. Unerklärliche Epidemien hatten schon des Öfteren ganze Mannschaften ergriffen, während Ärzte danebengestanden waren, auch ließ sich in den Habsburger Militärberichten der letzten Jahrhunderte allerlei nachlesen, das halb suspekt oder gar ganz suspekt blieb. Und wilde Zeichen für das eine oder das andere, die sind an jedem Ort zu finden, an dem sich Menschen gegenseitig vernichtet haben.
Zum Glück stürzen viele der Gefallenen ohnehin in Erde und Schlamm, sie stürzen mit offenem Mund, die meisten, ihr letzter Schrei fällt in den Lehm, die Zunge erspürt noch die Erde, sodass meist keine Gefahr besteht, dass da ein Wiederkehrer kommen könnte und sie aufbläst für seine Zwecke. Die Stelle erkennst du ganz genau wieder, an der die gefallenen fünf Männer mit der Erde im Mund von ihren geprügelten Kameraden hingelegt, dann angezündet worden waren. Ein Feuer musst du anmachen und schüren, zünden muss das, richtig, rasch, rasch, du musst es an-, musst dich selbst mitentzünden, musst daran reiben, es legen, immer wieder zulegen, im Schwefelgeruch. Die Hölzer zischen, es breitet sich der Geruch des Kaisers aus, der Doppeladler auf den Zündholzschachteln brennt, du ziehst wieder weiter, aber den Geruch kriegst du nicht aus der Nase, die Stimmen nicht aus dem Hirn, das nur ein Gewächs ist und wuchert, manchmal aus einem Kopf herauswuchert, ganz unkontrolliert.
Du erkennst vielleicht einen Baum wieder, an den ein Offizier ein paar seiner Soldaten stellte und brüllte: Wenn du nicht dies und das, mich, am Arsch. Die Pistole an ihre Stirn, dann mit der Pistole zuschlagend, auf den Kopf, in den Magen. Sie hatten einem Höherstehenden gemeldet, die jungen Soldaten, gerade volljährig geworden, dass ihr Major einen verwundeten Gefangenen und einen weiteren und noch einen einfach herausgeholt hatte und mit der Pistole zuerst auf sie eingeschlagen und dann … obwohl sie ihm zuvor schon gemeldet hatten, dass diese Gefangenen nicht einmal einen Arzt … wenn schon, dann nur einen Priester. Diese Meldung kam nicht gut an. An diesen Baum hängten die zwei Soldaten mit ihren blau geschlagenen Augen später widerspruchslos jemanden, den sie nicht kannten, von dem sie wussten: Der hat nichts und niemandem etwas getan, aber, der kommt uns nicht davon, das kommt manchmal davon.
Von dem am Baum Hängenden bleibt kein Echo, weil der Baum später gefällt wird und sich alles, was von dem Echo übrig bleibt, in den Erdboden zurückziehen möchte. Daneben die Scheune, in die sie eingesperrt werden, ein paar Junge, ein paar Alte, und als die Scheune dann mit ihnen drin abbrennt – du weißt schon, was ein Feuer ist und wie es entzündet werden kann –, da werden am Ende alle Echos frei und verstecken sich wer weiß wo, in einer Donauseerose, einem Sonnenblumenkern, zwischen zwei weißen Steinen, um irgendwann viel später wieder, wenn überhaupt, hervorzukriechen, flüsternd.
Müde war der Milan Nemec, müde vom Feldzug, vom Rückzug, vom Augen-offen-halten-Müssen, jeden Tag, jede Nacht. Er war durchgezogen durch diese sumpfige, traurige Gegend, hatte in jedem Dorf, durch das sie kamen, zu seiner Truppe gesagt: Nichts anrühren!, und gewusst, es wird immer etwas angerührt, wenn nicht bei uns, von uns, dann von der nächsten Kompanie, die diesen Führer mit dem böse gezwirbelten Schnurrbart hat, der Schnurrbart, der immer so zittert, knirschend zittert, wenn er sagt: Der Befehl, das bin ich!, wenn er sagt: Ich und mein Befehl, daneben hat euch nichts zu gelten!, wenn er sagt: Hinknien! Das ist dann ein Grauen, das den Nemec nachts verfolgt, dieser zittrige, knirschende Schnurrbart.
Beim Zurückziehen, beim Zurückgejagt-Werden, das magst du leicht erraten, was da zu sehen blieb – genau. Die Spur, die du gezogen hast, die ihr alle gezogen habt, sie klafft wie eine schwarz-gelbe Wunde zwischen den Hügeln, Feldern, den Schatten der Bäume und Dörfer. Eingestürzte Häuser, Lehm, das Dach am Boden, wie du. Diese Echos – woher? Es liegt doch jetzt alles hinter dir, oder nicht?, wieso liegt es jetzt wieder vor dir?
Du erkennst die Gräben nicht mehr wieder, keine Stelle; diese hier … vielleicht nicht … dort, wo ihr zunächst nur kleinere Schützenlöcher gegraben habt – du weißt schon, was das Graben, das Buddeln ist, wozu es taugt und wie es aussieht; aus einem gegrabenen Loch wird später eine komplette Grabenanlage, denn ihr habt eine – nämlich unsere! – Linie zu halten. Doch es liegt alles so anders vor dir da, beim Rückzug, wie willst du da noch einen Graben wiedererkennen, in dem du gestanden oder gelegen, in dem du vielleicht anfangs ein fröhliches Liedchen gepfiffen hast. Später nicht mehr, da hast du nur noch auf den Soldaten vor dir geblickt, der die Munition, die nicht in seinen Patronentaschen lag, sondern in den Hosentaschen, mit seinen zwei Händen umklammert, eine Art Trost, während du ihm immer wieder befahlst zu schießen und er vor lauter Zittern und Klammern die Hände nicht aus den Hosentaschen ziehen konnte. Was ein Zittern und Klammern ist, weißt du auch schon. Es ist ein Bibbern und Klappern, ein großer Schauder, wie geschüttelt, ein reines Nerven- und Muskelproblem, das einen zappelig und wackelig macht, zum Umfallen bereit macht, sich rhythmisch wiederholend, zyklisch wiederkehrend, der treue Tremor, ein Wegbegleiter im Felde, dein Freund, manchmal als feines Zittern auftauchend, manchmal schon als grobes Ausschlagen deines Körpers, das deine Hände und Füße zu einem Glockenläuten macht, hoch ausschlagend, nach oben und unten und links und rechts, da hilft nichts, da hilft nur das Festklammern an der Munition in den Hosentaschen und das Schauen, ob das vorbeizieht und vorübergeht. Aber es zieht ja nicht vorüber, es zieht nur immer etwas Neues in dich ein, eine neue Fieberschwester mit einem neuen Namen. Die eine macht dich gelb, die andre taub, die dritte macht dir die Knochen glühend, die nächste wiederum die Glieder kalt, eine der ganz bösen, die nimmt dir den Atem, wieder eine andre zieht dir die Arm- und Beinadern zusammen oder verschließt sie dir, eine andere bricht dir die Knochen, ganz anders als die, die dich anschwellen lässt. Oder die schlimmste, die allerschlimmste, die lässt dich einfach nicht schlafen, nie wieder, und bringt dich so um den Verstand, schön langsam und quälend.
Du, Milan, den metallenen Blutgeschmack im Mund, die schwere Zunge, die diesen Geschmack auskostet in deiner Angst, in deiner Wut, manchmal, leise und ganz heimlich, hattest du den Traum, nachts, oder auch tagsüber im Graben, gegen deinen Willen nahezu, tief im Hirn verborgen, vom Frieden der Völker und einer großen Aussöhnung, aber geahnt hast du: Vergiss es … nicht in hundert Jahren, so eine Aussöhnung. Da fragst du dich plötzlich, ob du wirklich dermaßen schwarz-gelb bis in die Knochen bist. Es entwickelt sich in dir ein völlig neues Kreaturgefühl, du verstehst deine Abhängigkeit, die dir immer eine bewusst angenommene war, auf einmal völlig anders. Es scheint dir nämlich, dass du plötzlich in Abhängigkeit von vollkommen unbegreiflichen Übermächten stehst. Nicht mehr in Abhängigkeit von jener verstehbaren Macht deines Reiches, des Kaisers oder der ordnenden Struktur deiner Gesellschaft. Sondern, ganz und gar hilflos, hier, im Freien, neben den zehntausend anderen, bist du nur noch ein dem Zufall, dem Chaos und der völlig unlenkbaren Welt, die sie Krieg nennen, ausgesetztes Wesen. Hier und heute, wo in unhörbar lautem Lärm alles in Licht und Schatten verschwimmt, da lässt sich, was du als nicht infrage gestellte Macht über dir kanntest, die dich schützen sollte und die du schützen solltest, diese Macht lässt sich plötzlich mit anderen Augen, nämlich weit aufgerissenen, ansehen, und so wirkt diese alte Macht, die dir nun gar nicht mehr als beruhigende Gewohnheit vertraut ist, plötzlich unglaublich fremd auf dich. Das Licht, diese grelle Sonne über dem weiten Feld, auf dem du stehst, wo dich die halb eingegrabenen Beine und Arme anderer Kreaturen anstarren, in diesem unglaublichen Licht bist du ganz fremd geworden. Es zerbricht alles um dich herum in unzählige kleine Farbflecke, die du nicht mehr fassen kannst, die Welt zersplittert dir in tausend blendende Lichtstückchen. Du siehst alles und begreifst es nicht. Und weißt doch nur eines: In diese dem Zufall und dem täglichen Tod ausgesetzte Welt, die sie Krieg nennen, hat dich gerade dein Reich, das dich zu schützen versprochen hatte, entlassen. Ist es eine Erkenntnis, das, was du da hast? Wenn es eine ist, dann muss sie ganz rasch wieder in die Dunkelheit zurück, aus der sie ausgebrochen ist, weg mit dir, weg mit dir, das darf doch alles nicht wahr sein!