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Flexibilität
Dass die menschliche Beziehung in der Psychotherapie eine wichtige Rolle spielt bedeutet nicht, Methoden und Techniken wären nebensächlich. Eine Methode kann, unabhängig von ihrer Qualität, jedoch nur durch diejenigen Türen gelangen, die der Klient öffnet. Ist er emotional erreichbar, wirken emotional fokussierende Methoden vielleicht am ehesten. Ist der Klient rational erreichbar, hilft eventuell analytisches Vorgehen dabei, einen Überblick über die Lage zu erhalten. Ist der Klient auf der Verhaltensebene erreichbar hilft unter Umständen ein Verhaltenstraining. Vielleicht ist er auch auf anderen Wegen, beispielsweise über die Vorstellung oder den Körper besser zu erreichen. Dann können imaginative oder körperbezogene Methoden unter Umständen gute Ergebnisse bringen.
Doch selbst aus einer bewährten und hilfreichen Methode ergibt sich weder eine allgemeine Gebrauchsanweisung für anderen Betroffene noch eine spezielle Gebrauchsanweisung für den betreffenden Klienten. Jeden Augenblick kann sich eine Tür schließen, eine andere Tür öffnen und damit ein unerwarteter Zugang anbieten. Solch einen Zugang bietet der Klient natürlich nur auf der Grundlage einer guten Beziehung an, ansonsten versteckt er ihn. Wenn sich die Tür dann öffnet ist der Psychotherapeut gehalten, seine Methode an den Klienten anzupassen, anstatt vom Klienten zu erwarten, sich auf die von ihm erlernte Methode einzustellen. Begleitung funktioniert dann, wenn sie dem Betroffenen nichts unterschiebt, nichts vorgibt und nichts auferlegt.
Der Psychotherapeut muss letztlich dem Klienten folgen. Dieser gibt den Weg vor, ansonsten wäre der Psychotherapeut kein Begleiter, sondern ein Anführer.
1 Holsboer, F. (2011): "Eine potentiell tödliche Krankheit". Interview in Spiegel-Wissen 1-2011: 19-25, zitiert aus "Miese Stimmung" von Arnold Retzer, Frankfurt 2012, Seite 249
2 Fritz B. Simon in Peter Fuchs, Die Verwaltung der vagen Dinge, 2011 Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg, Seite 10
Vom Sinn psychischer Störungen
- und dem sozialen Bedarf an psychischen Auffälligkeiten
Eine gute Psychotherapie hat zwar den Einzelnen im Blick, aber sie sieht ihn eingebettet in soziale Umstände und weiß, dass psychische Probleme eine Aufforderung zum Identitätswechsel darstellen.
Aus dem geschilderten Zusammenhang von Gesellschaft und Psyche und der Tatsache, dass die Psyche die gesellschaftliche Struktur in sich abbildet ergibt sich aber auch eine umgekehrte Sichtweise: die Psyche kann auch auf die Gesellschaft einwirken.
Individuelle psychische Zustände können Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklung nehmen, wenn sie geballt auftreten.
Die Gesellschaft nimmt vielfältigen Einfluss auf die psychischen Zustände der Individuen, indem sie den Einzelnen beispielsweise mit Vorstellungen versorgt, worum es im Leben geht und wie man sich verhalten soll, um allgemein anerkannte Ziele zu erreichen. In den westlichen Gesellschaften handelt es sich dabei vorwiegend um Erfolgsziele monetärer oder beruflicher Art. Beim Erreichen dieser Ziele ist der Einzelne einem starken Wettbewerb ausgesetzt und steht unter entsprechendem Druck. Dieser Druck beinhaltet sowohl die Erwartungen anderer Menschen als auch an sich selbst gerichtete Erwartungen. Man steht sozusagen von innen und von außen unter dauerndem Stress. Es verwundert nicht, dass im Rahmen solch starker, sozial forcierter Leistungsorientierung irgendwann gehäuft psychische Auffälligkeiten auftreten.
Wer die sozialen Zusammenhänge ignoriert gewinnt den Eindruck, der Einzelne reagiere aufgrund mangelnder psychischer Fähigkeiten falsch. Doch es steckt mehr hinter solchen psychischen Phänomenen, als Individualdiagnosen erfassen können. Psychische Zustände drücken mehr aus als bloß individuelle Befindlichkeiten; und zwar dann, wenn sie als Massenphänomene auftreten. Dann bekommen sie eine soziale Dimension und Bedeutung.
Greifen wir einige der weit gestreuten psychischen Erscheinungen auf, um nach deren möglicher gesellschaftlicher Bedeutung zu fragen. Dabei wenden wir die aufschlussreiche Frage an, die bereits vorne eine gute Erklärung für das Phänomen der Psychotherapie bot. Diese Frage lautet: „Für welches soziale Problem stellt die Entwicklung, die wir beobachten können, eine Lösung dar?“
Vom sozialen Sinn des Burn-out
Da ist beispielsweise das so genannte Burn-out, ein zunehmend massenhaft auftretendes Symptom, das Betroffene daran hindert, bezüglich ihres ‘Work- and Lifemanagement’ erwartungsgerecht zu funktionieren. Die Medien berichten ausführlich über diese zunehmende psychische Erschöpfungsform, und die staatlich regulierte Psychotherapie beeilt sich, die Betroffenen als ‘depressiv’ zu markieren. Am Symptom und seiner Verbreitung ändert das Etikett aber nichts. Schauen wir uns dieses Phänomen etwas genauer an, einschließlich seiner körperlichen Komponenten.
Vom Burn-out-Syndrom Betroffene stehen ausnahmslos unter starkem innerem und äußerem Druck. Innerer Stress bedeutet, dass der Betreffende sich selbst unter hohe Leistungsanforderungen stellt. Er will unbedingt alles gut machen, er arbeitet viel zu viele Stunden, er will beruflich aufsteigen und viel Geld verdienen oder bekannt werden. Er will sich und anderen beweisen, dass er es unter allen Umständen schaffen kann. Daher sind es oft nicht, wie man glauben sollte, die so genannt psychisch Schwachen, die eines Tages unter Burn-out leiden. Diese scheiden rechtzeitiger aus dem Rennen aus. Es sind die so genannt Starken, die eines Tages zusammen brechen, weil sie alles geben und es doch nie genug ist. Zum inneren kommt äußerer Stress hinzu. Betroffene werden vom Arbeitgeber, den Kollegen, der Arbeitsstruktur, dem Bonussystem etc. unter nicht endende Leistungsanforderungen gesetzt. Es lässt sich noch ein Arbeitsplatz mehr einsparen, ein noch höherer Gewinn anpeilen, es werden ständig mehr Aufgaben zugeteilt und mehr Überstunden verlangt.
Der menschliche Organismus reagiert auf Stresssituationen normalerweise sehr sinnvoll. Er beschleunigt den Herzschlag, die Blutgefäße ziehen sich zusammen, das vegetative Nervensystem spannt sich an, das Stresshormon Cortisol wird ausgeschüttet und das Immunsystem wird in seiner Leistung heruntergefahren. Der Organismus bereitet sich optimal auf einen Notfall vor. Leider gibt es beim Burn-out keinen echten, kurfristigen Notfall, sondern eine permanente Ausnahmesituation. Der Organismus steht unter Dauerstress. Dieser Dauerstress führt nach einigen Jahren sogar zu neuroplastischen Veränderungen im Gehirn. Dort nimmt die Leitfähigkeit neuronaler Netzwerke ab, Synapsen bilden sich zurück, das Gehirn arbeitet schlechter. Ab da fällt es schwer, sich zu entspannen und Erholung im Schlaf zu finden, weil der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung immer schlechter funktioniert. Der Organismus gerät an seine Grenzen, nach einigen oder mehreren Jahren folgt der Zusammenbruch. Der Betroffene begibt sich in Behandlung.
Psychiatrie und staatlich regulierte Psychotherapie suchen nun nach den ‘Ursachen’ des Burn-out. Die Psychiatrie spricht von ‘neurobiologischen’ Ursachen, ganz so, als wären Drüsen außer Kontrolle geraten und würden grundlos zuviel Cortisol produzieren. Die Psychotherapie wiederum sucht nach ‘persönlichkeitsbedingten’ Ursachen, ganz so, als hätten die Betroffenen nicht gelernt, richtig mit Stress umzugehen. Beide Ansätze verorten Ursachen beim Einzelnen, und dort setzen auch die Behandlungsstrategien an. Allerdings zeigt schon die Entstehung des Burn-out, dass der Einzelne keineswegs falsch reagiert. Es wird ja niemand annehmen, dass Menschen plötzlich verlernt haben, mit Stress richtig umzugehen oder dass ihre Hormondrüsen plötzlich massenhaft aus dem Ruder laufen.
Ein Vergleich mit der Medizin zeigt das Absurde der psychologischen Ursachenzuweisung. Wenn von 100 Arbeitern in einer Asbestfabrik 30 Lungenkrebs bekommen, wird kein vernünftiger Arzt die Ursache dafür beim Individuum verorten. Es werden auch keine ‘Resilienzforschungen’ betrieben um herauszufinden, warum 70 Arbeiter nicht krank wurden und was die kranken 30 von ihnen lernen könnten. Wenn aber von 100 Angestellten 30 an Burn-out erkranken, dann wird unterstellt, ihre individuelle psychische Verfassung stelle die Ursache dar und daher müsse an ihrer Stressfestigkeit gearbeitet werden.
Die Angestellte einer Krankenkasse berichtet.
“Wir haben da eine Abteilung, die wird im ganzen Haus gefürchtet. Niemand will da arbeiten, weil der Arbeitsanfall riesig ist und die Gruppe völlig unterbesetzt. Man schiebt dorthin Leute ab, die man loswerden will. Von den 30 Leuten, die dort arbeiten, kommt nur einer damit klar, der ist unkaputtbar. Die anderen geben innerhalb von Monaten auf und suchen sich eine andere Arbeitsstelle.”
Wenn man schon nach einer Ursache für weltweit grassierenden Burn-out sucht, dann ist diese am ehesten in der Gesellschaft zu finden und nicht in den Hirnen oder Psychen der Einzelnen. Arbeit ohne spürbaren Sinn, Stress ohne Ende, Ziele anstreben ohne jemals dort ankommen und für eine Weile ausruhen zu können - die heutige Lebensweise macht die Menschen krank. Nach Aussagen der WHO werden stressbedingte Erkrankungen in 10 Jahren weltweit die am meisten verbreiteten Krankheiten sein, schon jetzt wird der volkswirtschaftliche Schaden in Europa auf 100 Milliarden Euro jährlich geschätzt.
Nun zurück zur eingangs angekündigten Frage. Welches soziale Problem könnte auf diese Weise gelöst werden? Das Problem zunehmender Überforderung durch steigende Arbeitsbelastung und wachsende Flexibilitätsansprüche!
So gesehen sind so genannt Burn-out-Kranke die eigentlich Gesunden. Sie verteidigen den Wert von Entspanntheit, von Gelassenheit und von menschlichen Beziehungen gegen das Diktat der Ökonomie. Sie lehnen sich gegen eine kapitalistische Wirtschaftsweise auf, in der Menschen zu Humankapital werden. Ausgebrannte trotzen der gesellschaftlich propagierten, erzwungenen und sinnentleerten Hetze nach mehr - mehr Geld, mehr Macht, mehr Status. Einer Hetze von der keiner weiß, zu welchem Ziel sie eigentlich führen soll. Zu mehr Glück und Zufriedenheit führt sie jedenfalls nicht, das hat sich längst gezeigt.
Das Burn-out-Problem ist nicht allein ein individuell-psychisches, sondern vor allem ein gesellschaftlich-existentielles. Wer nach Jahren therapeutischer Begleitung wieder im Normalzustand landet drückt genau dies aus. Vom Burn-out geheilt sagen, sie hätten den Sinn im Leben verloren, wären im Hamsterrad gelaufen und erst der Zusammenbruch habe sie zur Besinnung gebracht. Massenhafte Erschöpfung stellen gesunde Reaktionen des körperlich/psychischen Systems und keinesfalls Krankheiten dar, für die eine ICD-10 Ziffer zu vergeben ist.
Die systemische Frage „Welches soziale Problem kann man erkennen, das durch die Entwicklung gelöst wird?“ ist insofern aufschlussreich, weil es der Soziologie bei auffälligen Phänomenen nicht um individuelle Problematiken geht, sondern um die Folgen gesellschaftlicher Zusammenhänge, also um die Reaktionen vieler Menschen auf konkrete soziale Umstände. Die Entwicklung massenhafter psychischer Symptome bekommt so einen Sinn und eine positive Wertung.
Wendet man die systemische Frage beispielsweise auf revolutionäre Entwicklungen an, dann stellt sich die Sache recht einfach dar. Revolten und Aufstände wollen das Problem der Unterdrückung lösen. Streiks wollen das Problem zu geringer Bezahlung oder schlechter Arbeitsbedingungen lösen. Wie aber lösen Individuen ihre Lebensprobleme in einer Welt, in der es keine Arbeiterklasse und kaum noch Gewerkschaften gibt, einer Zeit, in der Arbeitsverhältnisse auf Zeit geschlossen werden, in der Verantwortung weder Königen noch Diktatoren noch Banken noch sonst wem angelastet werden kann, in der man letzten Endes selbst schuld ist, weil man ja gewählt hat?
In der individualisierten Welt können massiv auftretende psychische Symptome die Funktion sozialer Auflehnung übernehmen.
Dem Vereinzelten, der niemanden in der äußeren Welt findet, gegen den er sich auflehnen kann, auch weil er die Anforderungen dieser Welt zu seinen eigenen gemacht hat, bleibt nur die psychische Auflehnung, die Auflehnung gegen sich selbst. Wenn dies massenhaft geschieht, wird die psychische Revolte zu einer sozialen Revolte.
Auf den sozialen Sinn psychischer Probleme kann die staatlich regulierte Psychotherapie mit ihren Ziffern und Diagnosen nicht eingehen, sie muss ihn im Grunde leugnen, weil sie sonst Probleme mit der Klassifizierung bekäme. Wer ist 'gerechtfertigt' depressiv und wer 'ungerechtfertigt'?
Die staatlich regulierte Psychotherapie nimmt daher den scheinbar unvollkommenen Einzelnen im therapeutisch verkürzten Blick, sie hat ihn gewissermaßen aus gesellschaftlichen Bezügen enthoben. Selbst so uralte und in jeder Gesellschaft zu beobachtende Erscheinungen wie der Drang nach außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, sei es durch Süchte oder Komasaufen oder erotische Exzesse oder anderes außergewöhnliches Verhalten, erscheint aus psychotherapeutischer Sicht problematisch und erhält Krankheitswert.
Würde man Revolutionäre (beispielsweise des arabischen Frühlings oder der friedlichen Revolution der DDR) einer psychotherapeutischen Untersuchung zuführen, würden übereinstimmende psychische Auffälligkeiten festgestellt. Etwa, dass es bei den Revolutionären der ersten Reihe besondere familiäre Konstellationen gibt, einen Vater, der sich autoritär aufführte oder eine hilflose Mutter, ein Kind, das schon damals von Macht und Umsturz träumte. Das Bedürfnis nach Auflehnung würde als seelische Rebellion gegen Autoritäten oder Eltern diagnostiziert, verursacht durch frühkindliche Umstände. Die Revolutionäre würden mit einer Ziffer versehen und therapeutisch behandelt.
ADHS
Vergleichbares geschieht. Die psychotherapeutische Diagnose bezüglich hyperaktiver Symptomatik lautet keinesfalls: „Es handelt sich um Kinder, die keine angemessene Möglichkeit haben, emotionale Spannungen und Aufregungen in körperliche Bewegung umzusetzen"; und der Behandlungsvorschlag lautet nicht: „Schafft großflächig gefahrenfreie Bewegungsmöglichkeiten und seelische Freiräume für Kinder“. Nein, die Diagnosen lautet ‘Hyperaktivität’ und die Behandlung geschieht vorwiegend durch das Medikament Retalin.
Aus soziologischer Sicht kann man das Phänomen ADHS anders beschreiben. Dann werden Kinder massenhaft auffällig um der Gesellschaft zu zeigen, dass ihnen nicht nur der körperliche Bewegungsspielraum, sondern auch wichtige Elemente der Kindheit genommen werden. Dass sie teils schon im Vorschulalter mit Terminkalender leben, dass sie körperlich eingeschränkt, psychisch überfordert und seelisch vereinsamt werden. Dass sie durch den Zerfall der Familien meist ihren gestressten Eltern ausgesetzt sind und keinen Kontakt zu entspannten Großeltern haben. Etc.
Hat die staatlich regulierte Psychotherapie auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen hingewiesen und es abgelehnt, diese Kinder zu pathologisieren? Nein, sie hat sich beflissen am Versuch der Wegbehandlung des Phänomens beteiligt. So gesehen besteht geradezu ein gesellschaftlicher Bedarf an dem Phänomen Hyperaktivität. Wenn erst einmal 50% aller Kinder solche Symptome zeigen, wenn sie nicht mehr still dasitzen und sich den Kopf mit teils sinnlosem Wissen vollstopfen, dann wird das Phänomen genügend stören, um andere und bessere Lösungen dafür zu finden. Psychotherapeutische werden es nicht sein und pharmakologische auf Dauer auch nicht.
Depressionen
Welches soziale Problem wird durch die stark zunehmenden Depressionen gelöst? Wenn man sich in depressive, niedergeschlagene Menschen hineinversetzt, ahnt man es. Sie setzen sich einfach (innerlich) hin, legen sich hin, lassen sich hängen. Sie treten aus der fordernden Hülle ihres Ich heraus, sie lassen ihre ‘Persönlichkeit’ los, an der sie den Halt verlieren. Sie spielen nicht mehr mit, weil sie kaum Sinn in dem finden, was sie tagein tagaus tun. Sie lassen sich in das berühmte schwarze Loch fallen, auf das Künstler dringend angewiesen sind, wenn sie neue Einfälle brauchen. Im diesem Nichts und dem damit verbundenen Abstand zum bisherigen Alltag ruhen sie in scheinbarer Lähmung und anfangs unbemerkt sammeln sich neue Kräfte. Plötzlich erscheinen die bisher kleinen und unbedeutenden Dinge wichtig und seelisch nährend. Sinnliche Dinge, Dinge, die man nicht haben, nicht horten, nicht kaufen und nicht tauschen kann. Menschliche Nähe beispielsweise oder sinnliche Erlebnisse wie ein Kuss, der Wind auf der Haut, das unmittelbar spürbare Leben, das vorher im Urlaub und dann bitte schnell und effektiv zu geschehen hatte.
Vom Sinn einer Sackgasse. Eine Frau berichtet.
"Ich war eine sehr erfolgreiche Kunstmanagerin, arbeite Tag und Nacht, jahrelang wie verbissen auf ein Ziel hin. Aber ich war nicht glücklich. Freundschaften, Familie, Reisen, Hobbys, Erholung habe ich in meinem Job komplett vernachlässigt. Mir ist in den letzten Jahren die Begeisterung für alles verloren gegangen und ich bin sehr müde an allem geworden. Burn-out, Erschöpfungsdepression hieß die Diagnose. Dann habe ich alles hingeschmissen. Ein Jahr lang habe ich nichts getan, nichts Berufliches, nichts Vernünftiges. War wandern. Komme inzwischen auf der Yogamtte vom Hund in die Kobra. Spiele ab und zu Fußball. Gehe schwimmen. Lerne Schlagzeug. Lerne ab und zu Männer kennen. Ich hab mich inzwischen erholt. Nun, mit 42, bin ich dabei, mein Leben, die Dinge und mich neu zu sortieren."
Auflehnungen der Psychen
Depression als massenhafte Kundgebung zunehmender Lustlosigkeit am materiellen Leben, als Suche nach einem anderen Sinn? Zunehmende Erschöpfung als Auflehnung gegen ständig wachsende Leistungsanforderungen? Grassierende Ängste als Weigerung, sein Leben zunehmend frei von sozialen Kontakten führen zu müssen? Erleben wir eine neue Form des Aufstandes, einen Aufstand der Psychen?
Nach Angaben des wissenschaftlichen Institutes der AOK aus dem Jahr 2013 haben Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seit 1994 um 80% zugenommen, wobei ein Krankheitstag die Unternehmen im Schnitt 400 Euro kostet. Die psychische Verweigerung kostet bereits viele Milliarden. Erste Firmen legen Gesundheitsprogramme auf, um Überstunden einzuschränken oder verbieten sie gleich ganz. Nicht die Gewerkschaft, nicht die Politik, die geschundene Psyche sorgt in individualisierten Zeiten für das Korrektiv durch eine Art massenhafter psychischer Rebellion der Vereinzelten.
Aus systemischer Sicht sind Massenphänomene wie Hyperaktivität, Burn-out, Depression, Ängste und andere Entwicklungen deshalb keine Krankheiten, sondern Erscheinungen des Selbstregulierungsprozesses einer sich überfordernden Gesellschaft. Man kann sie als notwendige Störungen ansehen, die vor allem auf eine soziale und nicht auf eine therapeutische Bewältigung drängen.
Zweierlei Sinn
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass psychische Störungen einen doppelten Sinn haben.
Zum einen stellen sie Aufforderungen zum Identitätswechsel dar,
zum anderen sind sie - sobald sie massenhaft auftreten - psychische Revolten gegen soziale Verhältnisse.
Daher handelt es sich bei psychischen Störungen in den meisten Fällen nicht um krankheitswerte Zustände, sondern um ganz normale Erscheinungen aus dem Graubereich psychischer Verfassungen.
Eine Psychotherapie des Graubereiches
Der Graubereich psychischer Störungen - das ist der Bereich, der einer Psychotherapie vorbehalten sein sollte, die sich den vagen Dingen zuwendet, die Offenheit, Bezogenheit und Flexibilität ins Zentrum ihrer Vorgehensweise setzt - muss dringen erhalten bleiben.1
Wenn es zutrifft, dass man sich über die Dimensionen der Psyche keinen Überblick verschaffen kann und wenn die Psyche dazu gezwungen und in der Lage ist, sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zurecht zu finden, wenn es keine einheitliche Persönlichkeit gibt, die es zu verwirklichen gilt, dann stellt sich die Frage, wie eine Psychotherapie aussehen kann, die den fragmentierten Psychen der Individuen Rechnung trägt? Nach allem was bisher gesagt wurde müsste dies eine Psychotherapie sein:
die darauf verzichtet, die Psyche als Ganzes überblicken zu wollen,
die weder mit Persönlichkeits- noch mit Charaktermodellen arbeitet,
die sich weder auf Klassifizierungen noch auf Diagnosen stützt,
die keine Behandlungsschemata anwendet,
die sich keinen festen Begriff von Normalität oder psychischer Gesundheit macht,
die darauf verzichtet, psychische Reifungsschritte, so genannt normale Entwicklungsphasen oder vorbildhafte Beziehungsformen zu definieren,
und die traditionelle psychotherapeutische Begriffe wie Spaltung, Verdrängung und Behandlung, zumindest in ihrer bisherigen Bedeutung, beiseite legt oder neu definiert.
Radikal am Problem orientiert
Woran kann sich eine solche Psychotherapie orientieren, wenn sie bedeutende Teile des bisherigen strukturgebenden theoretischen Rüstzeugs beiseite legt? Was bleibt ihr, wenn sie auf die Pathologisierung des Graubereiches verzichtet und sich dort auf vage Weise den vagen Problemen zuwendet?
Was der Psychotherapie zur Handhabung des Graubereichs dann bleibt, ist einzig und allein das Problem, das einen Klienten in die Praxis führt; und nur mit diesem Problem und dessen konkreter Bewältigung kann sie sich befassen.
Das ist mehr als genug, wie ich im Folgenden darlegen möchte. Eine am Problem orientierte Psychotherapie würde – übertragen gesprochen - nicht fragen, wo jemand herkommt und sich nicht sonderlich dafür interessieren, wo jemand zukünftig ankommt. Sie würde sich statt dessen der Frage zuwenden, wo und wie jemand gegenwärtig festhängt und wie und womit ihm beim Weiterkommen geholfen ist. Ein Psychotherapeut wäre dann kein Führer, kein Wegweiser, kein Wissender – sondern jemand der hilft, den Karren aus dem Graben zu ziehen und wieder auf die Straße zu bringen, ohne wissen zu müssen und wissen zu wollen, wohin die Reise den Klienten schließlich führt.
Ein solcher Psychotherapeut würde sozusagen als Pannenhelfer und nicht als Persönlichkeitsgestalter oder Lebenslehrer auftreten.
Die Formulierung einer 'radikal am Problem orientierten Psychotherapie' ist mit ziemlicher Sicherheit missverständlich. Schon der Begriff 'Problem' erfreut sich in Zeiten grassierenden Machbarkeitglaubens keiner besonderen Wertschätzung. Statt von Problemen spricht man heute beschönigend von Lösungen und Herausforderungen oder versucht, Niederlagen in Erfolge zu verwandeln. Derartige Verdrehungen ändern natürlich nichts daran, dass nur dann nach einer Lösung gesucht wird, wenn ein Problem vorliegt und ebenso gilt, dass es für ein Individuum nur dann weitergeht, wenn es sein Problem bewältigt. Bewältigung bedeutet auch, das Problem zu verstehen.
“Die Aufgabe professioneller Helfer muss also sein, Klienten darauf aufmerksam zu machen, wie ihr Problem funktioniert ... Ein Problem, das man nicht versteht, kann man nicht lösen; und ein Problem, das man falsch versteht, kann man nicht effektiv lösen!”2
Das obige Zitat stammt von Prof. Rainer Sachse. Es weist auf die grundlegende Aufgabe eines Therapeuten hin, die darin besteht, etwas zu beobachten, das der Klient nicht beobachtet, nämlich wie sein Problem beschaffen ist. In die gleiche Richtung weist die folgende Bemerkung von Prof. Peter Fuchs.
“Der Umgang mit vagen bzw. uncodierten Problemen zwingt ja, wenn man so will, dazu, zu beobachten, mit welchen Unterscheidungen sich die Klienten ihre Welt so erzeugen, dass ein bestimmtes Problem für sie nicht lösbar ist.”3
Entgegen landläufiger Ansicht und trotz oberflächlicher Ablehnung sind Probleme keine lästigen Nebenprodukte eines falsch gelebten Lebens, die man schnellstmöglich los werden sollte. In Problemen steckt vielmehr der Schlüssel zum Weiterkommen. Sie stellen oft existentiell schwierige Situationen her, durch deren Bewältigung das individuelle und auch das gesellschaftliche Leben erst seine passende Fortführung findet. Probleme sind geradezu Voraussetzung für das Überleben.